
Seit sechs Jahren verbringt Cornelia ihren Urlaub mit stundenlanger Meditation, Yoga oder in totaler Stille auf einem Hof an der Mecklenburgischen Seenplatte. Die 55jährige Berlinerin hat ihre eigenen Grenzen beim Lauf über glühende Kohlen durchbrochen. "Ich hätte davor nie gedacht, dass ich das schaffe. Aber der Feuerlauf war eine überragende Erfahrung." Diese Erfahrung war Teil eines Seminars beim Institut für Lebenskunst im Seminarzentrum Maulbronn. Die Teilnehmer bereiten sich gemeinsam vor und richten ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Furcht vor dem Feuer, sondern auf ihre inneren Ängste. "Ich habe keinen Schmerz gespürt. Danach war ich unheimlich stolz, meine eigenen Grenzen überwunden zu haben. Der Feuerlauf ist eine sehr symbolische Erfahrung: Jeder muss sich klar werden, wofür er übers Feuer geht, um es unbeschadet zu überstehen."
Die Nachfrage nach alternativen Urlaubskonzepten steigt, es wird meditiert oder gefastet. Viele Klöster öffnen ihre Tore für Besucher, die dort ihre Zeit schweigend verbringen dürfen. Menschen aller Altersgruppen entscheiden sich dazu, ihren Urlaub in Abgeschiedenheit ohne Handy und Internet zu verbringen.
Tee statt Cocktails
Vor zwei Jahren benötigte Nina aus Köln einfach eine Auszeit. "Damals hat sich mein Freund von mir getrennt, und auch sonst lief es nicht wirklich rund. Da musste ich einfach mal in Ruhe nachdenken", sagt sie. Deshalb ist die Personalberaterin in eine kirchliche Einrichtung gefahren, um eine Woche lang zu schweigen. "Sonst fahre ich gern ans Meer und mache Partyurlaub", so die 30-Jährige, "aber das hätte mich diesmal zu sehr von meinen Problemen abgelenkt". So tauschte sie Cocktails gegen Tee und Faulenzen gegen Hausarbeit: "Wir mussten ein bisschen mithelfen, zum Beispiel beim Bügeln oder Unkrautjäten. Es war wichtig und schön, ein paar Stunden am Tag etwas zu tun zu haben."
Verzicht als Urlaub – das widerspricht dem Prinzip von Cluburlaub, All-inclusive und Pauschalreise. Doch der Verzicht wird zur Massenware. Mit Hape Kerkelings Reiseerfahrung "Ich bin dann mal weg" hat das Pilgern in Deutschland ein breites Publikum erreicht. Das Pilgervolumen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela hat sich laut dem Erzbistum Santiago de Compostela seit 1989 vervielfacht – von 10 000 auf 270 000 Pilger jährlich. Im Jahr 2010 war die Gruppe der deutschen Pilger mit 14 000 Registrierungen nach den Spaniern die größte.
Die Menschen sind seit jeher zu heiligen Stätten gepilgert, an denen sie glaubten, dem Göttlichen näher zu sein. Pilgerreisen wurden jedoch oft mit weiteren Vorhaben verknüpft, beispielsweise mit dem Besuch eines Handelspartners. Später wurden Pilgerreisen auch aus reinen Glaubensgrundsätzen heraus angetreten und hatten mit Urlaub nichts zu tun. Die Erholungsreise kam in Europa erst im 19. Jahrhundert auf. Ein entscheidender Wendepunkt kennzeichnet die industrielle Revolution. Das Reisen musste keinen Zweck mehr erfüllen, sondern wurde der Zweck selbst. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlangte der Bäder- und Gesundheitstourismus an Bedeutung. Der Kurbäderbetrieb ist nach wie vor ein starkes Standbein für den Tourismus. Hinzugekommen ist jedoch der Umstand, dass ein Urlaub heute oft mehr leisten soll: Nicht nur der Körper soll sich erholen, sondern auch die Seele.
Die Flucht vor der Reizüberflutung
Der postmoderne spirituelle Tourismus ist jedoch keine Renaissance der mittelalterlichen Pilgerfahrt oder des Gesundheitstourismus des 19. Jahrhunderts. Heutige Motive, den Urlaub im Kloster oder fastend an der Ostsee zu verbringen, sind andere. Im Gegensatz zum traditionellen Pilgern, steht nicht die religiöse Motivation an erster Stelle. Doch weiterhin ist die spirituelle Erfahrung der Reise wichtig.
Ute Linsbauer vom Verband für nachhaltigen Tourismus (forum anders reisen e.V.) erklärt, warum eine Urlaubsreise mehr Dinge kompensieren und ermöglichen muss als noch vor einigen Jahren. "Viele Menschen empfinden große Defizite aufgrund gestiegener Anforderungen im Alltag. So muss eine Reise oftmals gleichzeitig Erholung und neue Erkenntnisse bringen." Außerdem ist ein wichtiger Aspekt bei spirituellen Reisen die Flucht vor alltäglicher Reizüberflutung. "Viele Urlauber sehnen sich danach, für die Urlaubswochen im wahrsten Sinne des Wortes abzuschalten: das Handy, das Internet, den Fernseher, den Stress für einige Tage wegzusperren und dafür ’zu sich’ und Sinn zu finden."

In der Gruppe auf der Suche nach dem Ich
Martin Rubeau, Diplom-Psychologe und Leiter des Seminarhauses Finkenwerder, nennt die Hauptgründe für den aktuellen Boom des kontemplativen Reisens: "Viele suchen im Urlaub nach Wegen aktiver Entspannung. Psychische Unterstützung, ein schönes Ambiente und Naturkontakt zählen häufig mehr als ein einfacher Strandurlaub." Sinnsuchende schwören auf die Unterstützung von Seminarleitern und den Austausch mit Gleichgesinnten. Die Suche nach sich selbst wird zum Gruppenevent.
Rubeau betont, dass wir in einer Single-Gesellschaft leben, Einsamkeit ist weit verbreitet. Viele Alleinstehende möchten ihren Urlaub mit anderen Menschen verbringen. Sie wählen eine Art Gruppenevent oder Seminarreise. "Die Nachfrage nach psychischer Arbeit hat mit dem Wandel der Gesellschaft in den letzten 20 Jahren zugenommen."
Mit der großen Nachfrage nach spirituellen Reiseangeboten schießen auch die Angebote aus dem Boden. Bernd Balaschus, der selbst Reiseanbieter ist, kann eine starke Zunahme beobachten. "Reisen mit spirituellen Inhalten haben extrem zugenommen, auch ‚klassische Veranstalter’ reagieren auf das riesige Marktpotential." Abzuschätzen, was für einen das richtige ist, fällt oft nicht leicht. Auf der Suche nach dem richtigen Angebot sollten Reiselustige deshalb prüfen, ob es sich um ein seriöses Angebot handelt – und ob eine Woche Fasten wirklich 1000 Euro kosten muss. Laut Martin Rubeau, der seit zwei Jahrzehnten Seminare anbietet, ist ein Tagessatz von 40 Euro pro Tag, natürlich abhängig von der Intensität der Betreuung, gerechtfertigt.
Die Ansprüche an den Urlaub haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert.
Die körperliche Erholung allein reicht nicht aus. Die Ferien werden zur Therapie: Entschleunigung, Selbstfindung, Erleuchtung all-inclusive.