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Noch gestaltet sich mein Ausflug in die Stille ganz schön laut. Statt sanftem Meeressäuseln höre ich nur das stumpfe Rattern der Lore auf dem schmalen Bahndamm. Doch der Blick aus dem verstaubten Bullaugenfenster ist wie Meditation für die Augen. Nichts versperrt den Blick Richtung Horizont, flamingofarbene Wolken spiegeln sich im Watt, und in der Ferne erkennt man schon mein Reiseziel: eine winzige Erhebung mitten im Meer. Ich fahre auf eine einsame Insel. Das klingt nach tropischem Eiland, doch meine Insel sieht anders aus. Statt Kokospalmen wächst hier Deichgras, statt tropischem Sonnenschein herrscht hier ein frischer Nordwestwind, und statt türkisblauem Wasser schwappt die graubraune Nordsee ans Ufer der Hallig Oland. Das mindert den Charme dieser winzigen Insel jedoch keinesfalls. Denn was ich suche, gibt es hier im Überfluss: Ruhe.

Hier gibt es nicht mal Straßen
Ich möchte den Stress der Großstadt, in meinem Fall Hamburgs, hinter mir lassen. Das Dröhnen der Containerschiffe im Hafen, das Rauschen der Autos auf dem Asphalt, das Grölen und Gelächter der Kieztouristen auf der Reeperbahn. Und nicht nur ich brauche Ruhe. Laut Umweltbundesamt leiden 13 Millionen Deutsche unter Lärmbelastung, die Stress und gesundheitliche Beschwerden verursachen kann.

Daher habe ich mich für ein Reiseziel entschieden, an dem es keine Straßen gibt, keine Autos und nicht einmal Fahrräder, soweit ich weiß. Auf die Hallig Oland gelangt nur über einen schmalen Bahndamm, der vom Küstenschutz und den Halligbewohnern mit ihren Loren befahren werden darf. Für zwei Nächte habe ich mich in einer der wenigen Ferienwohnungen eingemietet und mit meiner Gastgeberin abgesprochen, dass ich in Dagebüll auf sie und ihre Lore warten würde. Schon auf der Fahrt nach Dagebüll wurde deutlich, dass meine Reise mich in abgelegene Gebiete führt. Nach jedem Umsteigen lande ich in einem kleineren Gefährt. Auf den Regionalexpress folgt eine sogenannte Kleinbahn, bestehend aus einem Waggon, geschätztes Baujahr 1970, mit einer ersten Klasse, die aus vier Sitze besteht. Die Lore, in der ich jetzt sitze, gleicht schließlich einer Spielzeuglok, bunt angemalt und mit Bullaugenfenstern.
Als wir die Hallig erreichen, ist es dunkel geworden, und ich bekomme einen ersten Eindruck davon, was es bedeutet, inmitten der Nordsee zu sein. Als ich meine reetgedeckte Unterkunft verlasse, sehe ich nämlich erstmal - nichts. Über der Insel liegt eine dichte Nebelwolke. Nur der Leuchtturm schlägt eine Schneise in die vollkommene Dunkelheit. Wo sein Licht auf die Nebelwolke trifft, erstrahlt diese in Rot, Weiss und Grün. Zwei Stunden später wiederum hängt ein dicker Vollmond am Himmel, und ich sehe, dass das Wasser langsam zurückgekrochen kommt. Plötzlich fühle ich mich sehr klein.
Im Rhythmus der Gezeiten
Am nächsten Morgen ist meine Scheu gemeinsam mit dem Wasser gewichen, und ich mache mich daran, die Hallig zu erkunden. Die Warft, wie die Halligbewohner den aufgeschütteten Hügel nennen, auf dem ihre Häuser stehen, ist in drei Minuten durchschritten. Die wenigen Häuser gruppieren sich um einen kleinen Teich in der Mitte des kreisrunden Dorfplatzes. Eines davon ist der einzige reetgedeckte Leuchtturm der Welt. In Hamburg gibt es Toilettenhäuschen, die größer sind, aber sein Licht weist den vorbeifahrenden Fähren den Weg nach Föhr.
Ich spähe durch das Fenster der Schule, in einen Raum voller Bücher, darin die beiden Schüler und ein Lehrer. Hoffentlich haben sie ihre Hausaufgaben gemacht, denke ich, verstecken kann man sich bei solch intimen Unterrichtsverhältnissen nicht. Die kleine Kirche spare ich mir für den nächsten Tag auf und verlasse die Warft, um den Rest der Insel zu sehen.
Zwei Quadratkilometer plattes Land, außen herum nur Wattenmeer. So überschaubar, sagt eine Oländerin scherzhaft, dass man heute schon weiß, wer nächste Woche zu Besuch kommt. Trotzdem dauert mein Spaziergang zwei Stunden. Immer wieder halte ich an und wage mich ein paar Schritte ins Watt hinaus, sammele Steine und Muscheln, versinke einmal fast mit meinen Gummistiefeln im Schlick. Dabei ändert sich die Szenerie ständig. Das liegt am Licht: Mal legt sich Nieselregen wie eine graue Decke über das nasse Land, dann wieder bringt die Sonne das Watt zum Leuchten.

Der Rhythmus dieses Flecken Erde wird bestimmt durch die Nordsee, vom Wind, der das Wetter unberechenbar macht, vom gleichmäßigen Auf und Ab der Gezeiten.
Und so bedeutet Stille hier nicht die Abwesenheit von Geräuschen: Immer klingt das Pfeifen des Windes im Ohr oder das Pitschern der Gummistiefel im Schlick. Das Klangbild dieses Ortes ist nicht vom Menschen geprägt. Die Geräusche sind organisch. Sie reinigen die Ohren wie die frische Meeresluft die Lunge. Nach diesen Eindrücken gönne ich mir eine seltene Freude: Mittagsschlaf. Ich erwache erst wieder zum Sonnenuntergang, ein Blick aus dem Fenster treibt mich nach draußen. Vom Rand der Hallig aus schaue ich nach Westen. Auf dem Horizont kauern die Warften von Langeneß, während hinter ihnen die Sonne ins Meer zu gleiten scheint.
Die Nordsee macht die Termine

Am nächsten Morgen unterhalte ich mich mit meiner Gastgeberin. 1994 lebten noch 34 Menschen auf Oland. Heute sind es nur noch 17, sagt sie. Der Insel fehlt der Nachwuchs. Manche Menschen schreckt die Abgeschiedenheit, andere stellen sich das Leben der Halligbewohner zu idyllisch vor und sind enttäuscht, dass hier abends keineswegs alle zusammen am Kamin sitzen und Klönen. Denn wer auf einer Warft auf engstem Raum mit seinen Nachbarn lebt, freut sich vielmehr über jedes Stück Privatsphäre. Sollte die Insel zum Feriendorf verkümmern, wäre das ein herber Verlust für die Tradition und Kultur der Halligfriesen. Davon zeugt die winzige Kirche, die Relikte aus längst vergangenen Zeiten beherbergt. Die Saalkirche hat die Ausmaße eines großen Wohnzimmers, doch sie steckt voller Geschichten, von Sturmfluten und Land unter, von mutigen Seefahrern und Piraten.
Einen kleinen Friedhof gibt es auch. Ich lese die Inschriften auf den Grabsteinen, auf einem von ihnen steht „It’s only Rock & Roll“. Vielleicht ist selbst die Stille Ansichtssache.
Gerne würde ich noch ein bisschen bleiben, doch die Nordsee macht mir einen Strich durch die Rechnung. Eine Sturmflut ist angesagt, und ich muss die Insel verlassen, sonst könnte ich hier tagelang festsitzen. Auch darauf muss man sich einstellen: Den Terminkalender bestimmt hier das Meer - und nicht das Smartphone.
Weitere ruhige Orte
Mitten in den Bergen
Nur mit dem Boot erreicht man den Ort Quinten am Walensee. Die Region, auch Riviera der Schweiz genannt, hat ein sehr mildes Klima, sodass hier sogar Wein und Feigen gedeihen. Übernachten kann man beispielsweise im Kublihaus. Von der großen Terrasse aus beobachtet man bei einem Glass Quinter Wein das Schiffstreiben auf dem See.
Mitten in den Dünen
Hiddensee, die kleine Insel in der Ostsee, eignet sich hervorragend für ruhige Stunden. Autos haben hier nichts verloren, stattdessen kommt man auf dem Fahrrad oder per Pferdewagen herum – oder eben zu Fuß. Auf langen Spaziergänge an den breiten Sandstränden oder steinigen Küstenbereichen kann man sich durchpusten lassen und prima abschalten. Allerdings sollte man eine Reise lieber außerhalb der Saison planen, um Touristenmassen zu meiden. Denn richtig viele Fahrräder können auch laut sein.
Informationen gibt es unter:
Mitten im See
Noch eine skurrile Übernachtungsmöglichkeit: In Schweden können Besucher in einem See schlafen. Mit dem Ruderboot geht es hinaus auf das Gewässer, in dessen Mitte eine kleine Hütte steht. Begibt man sich in den „Keller“ dieser Hütte, steht man im Unterwasserschlafzimmer. Natürlich mit Panoramafenster zum Fische-Gucken. Das Ganze nennt sich „Utter Inn“ und sollte frühzeitig gebucht werden, denn die Übernachtung unter Wasser ist nur im Sommer möglich. Mit Abendessen und Frühstück kostet die Übernachtung 150 Euro für zwei Personen. www.mikaelgenberg.com
Mitten im Wald
Polens wilder Osten hat gleich zwei Regionen zu bieten, in denen Reisende Ruhe und Erholung in der Natur finden können. Ganz im Osten den Nationalpark Bialowieza, mit dem letzten Urwald Europas. Hier leben Luchse, Bären und die seltenen Wisente. Weiter südlich an der Grenze zur Slowakei liegen die Vorkarpaten, eine dünn besiedelte Region, geprägt von Landwirtschaft und undurchdringlichen Wäldern. Informationen und Unterkünfte gibt es unter: www.bialowieza-info.eu und www.podkarpackie.travel.pl