Tag 110. Ich lag im Zelt, eingepackt in die Daunenjacke und den Schlafsack. Draußen zog der Nebel um die Flanken des Mont Thabor (3178 m), von dem ich eben abgestiegen war. Auf seinem Gipfel be ndet sich der höchste Wallfahrtsort Frankreichs, heute gehüllt in tristes Grau. Waagrechte, vom klirrend kalten Wind geformte Eisgebilde waren an den Mauern der alten Kapelle gewachsen, deren Ursprung sich in der Geschichte verliert. Der Name des Berges lässt vermuten, dass es Kreuzfahrer waren, die nach ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land dort oben das erste Heiligtum errichteten.
Ich war müde, nicht nur körperlich. Seit bald vier Monaten kämpfte ich mit dem Wetter dieses ungewöhnlichen Sommers. Gewitter waren meine fast täglichen Begleiter. Sie diktierten meine Entscheidungen, meine Geschwindigkeit. Und sie verursachten Druck, noch lange bevor die schwarzen Türme das Blau verdrängten. Kann ich diesen Pass noch überqueren? Kann ich am Grat weitergehen? Wo kann ich absteigen in der Not? Das waren die Fragen, und sie hatten mir zugesetzt.
4300 Kilometer Pilgerweg erwarten den wandernden Priester Johannes Schwarz
Es stimmt: Jeden langen Weg geht man im Kopf. An das Körperliche gewöhnt man sich. 4300 Kilometer und 173000 Höhenmeter klingen nach viel, aber nach den ersten Wochen hatten sich die Beine darauf eingestellt, die physische Anstrengung trat in den Hintergrund. Die Kämpfe, wo es welche gab, waren mentaler Art. Während der Planung ist man den Weg ein Dutzend Mal in Gedanken abgegangen – bei ewig klarem Himmel, versteht sich. In der Wirklichkeit jedoch gehen Gipfel und Heiligtümer in Wolken unter, verhindert Regen eine Rast, sind Wege unpassierbar. Das reibt, und manchmal reibt es sich durch. Dann stellt man sich die Frage, warum man aufgebrochen ist. Was hat mich dazu getrieben, meine kleine Einsiedelei in den Cottischen Alpen zu verlassen?
Seit zwanzig Jahren lebe ich in verschiedenen Regionen des europäischen Rückgrats aus Stein. Die Alpen sind ein großartiger Naturraum und zugleich eine Kulturlandschaft. Sie sind in der Tat ein religiöses Gebirge. Aber nicht so wie der Himalaya, wo es »heilige Berge« gibt, Orte der Erleuchtung, Gipfel, auf denen Götter wohnen, und Felsen, in denen Dämonen hausen.
Die religiöse Welt der Alpen entstammt einer anderen Kultur. Sie wurde in den letzten 2000 Jahren vom Bild eines transzendenten Gottes geformt. Ein solcher Gott handelt in der Welt, aber Er übersteigt sie. Sein sind die Berge und das Meer, majestätisch, doch gescha en und deshalb vergänglich. Die Wildnis der Berge war für die Menschen dieses Glaubens nie heiliger Bezirk, kein Portal zur Götterwelt. Sie war vielmehr Rückzugsgebiet für dieses kurze Erdenleben. Einsiedler und Mönche kamen hierher, um der Welt und ihrem Treiben zu entfliehen. Unwirtliche, felsige Pässe wurden durch Hospize und Klöster für Reisende und Pilger zu Orten tätiger Nächstenliebe. Aus tiefen Schluchten hallte ein Echo der Begegnung mit Gott, der in der Stille zu den Menschen sprach. In den einsamen Gipfelregionen wurden zum Bann, Schutz und Gedenken weithin sichtbare Zeichen der Erlösung aufgerichtet.
Via Alpina Sacra: Die heilige Route durch acht Alpenstaaten
All dies hat den Alpen ein religiöses, ein christliches Antlitz gegeben. Es war dieser Gedanke, der über die letzten zwei Jahre zur Idee einer transalpinen Pilgerroute führte: der Via Alpina Sacra. Die größten, schönsten, ältesten, interessantesten, höchst- gelegenen Wallfahrtsorte, Kirchen, Klöster, Heiligtümer und Pilgerstätten des Alpenbogens wollte ich besuchen. Ich wollte aufbrechen, um die Geschichten dieser Orte zu entdecken und zu erzählen. Deshalb lag ich heute in der kargen Wildnis hinter Bardonecchia, war müde und ging trotzdem weiter. Der Wind rüttelte am Zelt. Es war kalt. Ich drehte mich in den Schlafsack und schloss die Augen. So begann die 110. Nacht meiner Reise.
Tag 111. Was für ein herrlicher Tag! Was für ein Kontrast zur grauen Welt von gestern. Die Sonne flutete die Landschaft mit ihrem warmen Licht, glühende Felswände spiegelten sich im stillen Wasser klarer Seen. Und vor mir ausgebreitet lag die Dauphiné mit der vergletscherten Barre des Écrins (4102 m). Auf schmalen Pfaden stieg ich vom Col des Muandes ins Hochtal ab. In zwei Wochen, so Gott will, würde ich mein Ziel unweit von Cannes erreichen.
Nun, da das Ende der Reise in den Blick kam, kehrte ich in Gedanken immer öfter an den Anfang zurück. Ich erinnerte mich an den holprigen Beginn in Aquileia: Blasen nach sechs Kilometern, obwohl die Schuhe gut eingelaufen waren; entzündete Wunden vom Versuch, mir einen Weg durch slowenische Wälder zu bahnen; die ersten ungewissen Pässe über weite Schneefelder, die alle Markierungen begraben hatten; die täglichen Gewitter in den Ostalpen; die drückende Schwüle in den Tälern; der Kälteeinbruch, gerade als es erstmals an die 3000-Meter-Marke ging.
St. Mauricer Mönche verrichten ihren Gebetsdienst ohne Unterbrechung
Ich dachte zurück an die Dolomiten mit ihren Kalksteinkathedralen; an die uralten Kunstschätze Südtirols; an die ersten schönen, sternenklaren Nächte in der Schweiz. In Liechtenstein hatte ich als Priester jener Diözese ein Stück Heimat genossen und war dann auf mir bekannten Wegen bis zum Heiligtum des Bruder Klaus marschiert. Dahinter waren die Riesen der Alpen aufgetaucht: Eiger, Mönch und Jungfrau, der gefrorene Fluss des Aletsch und das Wallis mit seinen Weinbergen und Welten aus Eis.
Ich hatte im Dunkel der gewölbten Halle der Abtei St. Maurice gesessen, wo seit dem Jahr 515 die Mönche ihren Gebetsdienst ohne Unterbrechung verrichten. Im höchstgelegenen Kloster der Alpen zwei Tagesmärsche weiter südlich war ich durch eine Tür getreten, die kein Schlüsselloch besitzt. Seit tausend Jahren steht dort die Pforte immer offen.
Wer als Pilger kommt, wird von den geistigen Söhnen des heiligen Bernhard von Aosta aufgenommen.
Am Monte Rosa, wo das höchste Gipfelkreuz der Alpen steht, war ich bis zur Capella Gnifetti (3670 m) aufgestiegen. Nirgends sonst in Europa kann man die Messe dem Himmel so nah feiern.
Im Piemont hatte ich einige der berühmten Sacri Monti, der »heiligen Berge« besucht. Sie waren für jene gescha en worden, die die heiligen Stätten in Palästina nie würden besuchen können. »Il gran teatro montano« – das große Theater im Gebirge – hatte Jerusalem zu den einfachen Menschen in die Alpen gebracht. In Varallo besteht ein solcher Komplex aus 45 Kapellen mit 400 lebensgroßen Statuen aus Holz und Terrakotta – dazu 4000 gemalte Figuren. Ein »Theorama« des Heilsgeschehens. Am Lago d’Orta ist die Anlage dem hl. Franz von Assisi gewidmet.
Auf meinem Weg hatte ich wunderbare Landschaften durchquert, hatte große Kathedralen, geschmückte Basiliken, schlichte Bergkirchen, winzige Eremitagen, einsame Bildstöcke und Kreuze besucht. Sie alle erzählen ihre eigene Geschichte, nutzen eigene Vokabeln. Und doch sprechen sie eine Sprache. Diese frommen Stätten sind wie die Alpen selbst vielfältig in ihrer Form und bilden doch ein Ganzes. Ihre Botschaft? Keine abstrakte spirituelle Idee, sondern der Glaube an einen Gott, der nicht fern, sondern in Christus Mensch geworden ist; ein Gott, der reiner Geist ist und doch der Welt Gestalt gibt, in ihr wirkt und sie verwandelt – auch durch uns.
Pilgergruppen aus ganz Europa reisen zum Marienwallfahrtsort
Tag 113. Im weichen Abendlicht querte ich den grasbewachsenen Hang. Das Heiligtum La Salette, dem ich nach einem langen Tag durch die Écrins mit müden Beiden entgegenschritt, glänzte ein letztes Mal in der Sonne, dann legte sich ein samtener Schatten auf die Kuppe in 1800 Metern Höhe. Als ich wenig später durch die Tür des Hospizes trat, traf ich erstmals seit längerem wieder auf große Pilgergruppen. Sie waren aus ganz Europa mit Bussen zu diesem Marienwallfahrtsort gekommen, an dem 1846 die Jungfrau zwei Hirtenkindern erschienen sein soll.
Ich wurde freundlich aufgenommen, unterhielt mich mit Gläubigen aus Frankreich, Polen, der Schweiz und dem Libanon. Nach Einbruch der Dunkelheit versammelte man sich in der neuromanischen Basilika zum mehrsprachigen Gebet, Gesang und der anschließenden Prozession. Das warme Licht der Kerzen erhellte die Gesichter der Menschen, die zur Bitte, zum Dank, in Sorge oder Glück den Weg hier hoch gefunden hatten.
Ich dachte zurück an die vielen Begegnungen der letzten Monate. Das Marienheiligtum Ziteil in der Schweiz kam mir in den Sinn, das eine ähnliche, aber ältere Geschichte hat als dieser Ort. Dort wird man bisweilen nach der Messe zum Essen geladen, und auf den Rosenkranz folgt manchmal ein köstliches Dessert. In der Küche steht dafür der Pfarrer persönlich. Er ist ein Spätberufener, der vor seinem Priesteramt die Lehre zum Koch und Konditor abgeschlossen hat. Auch um den Blumenschmuck kümmert sich der Geistliche. So stand er kurz nach meiner Ankunft in einem niedrigen Raum und arrangierte im Licht einer alten Neonröhre kunstvolle, duftende Gestecke. »Für die Muttergottes mache ich das liebend gern«, schwärmte er und kürzte ein paar Chrysanthemen, bevor er sie sorgfältig in den Steckschwamm setzte.
Später saßen wir an einem Tisch, er zauberte eine riesige Bündner Nusstorte hervor – natürlich selbst gebacken – und wir plauderten eine Weile. Die Sehnsucht, Priester zu werden, hatte er eigentlich schon als Kind gehabt. Er war in einer frommen Familie mit sieben Geschwistern aufgewachsen und war glücklich und dankbar, diesen Berg als Seelsorger anvertraut bekommen zu haben. Er liebt das Gebet in den stillen Stunden und feiert oft schon um 5 Uhr morgens seine erste Messe. »Schau, ein Regenbogen!«, unterbrach er sich mit kindlicher Freude und lief zum Fenster.
Wir sprachen auch über ernste Themen, Sorgen und Probleme, die es in der Kirche gibt. Es ist für Seelsorger ein Spagat, dem einzelnen Menschen mit seiner persönlichen und stets unfertigen Geschichte gerecht zu werden und gleichzeitig die Botschaft Christi zu verkünden, die eben anspruchsvoll ist. Die Worte Jesu fordern heraus, er benennt Sünde mit schonungsloser Deutlichkeit. Auch der Pfarrer von Ziteil konnte streng sein. Er vertrat eine Linie. Aber mein Eindruck war, seine Streng floss aus derselben Liebe zu Gott und der Schöpfung, die ihn Blumengestecke machen, Nusstorten backen und über Regenbögen staunen ließ.
Menschen und ihre Geschichten, sie haben meinen Weg begleitet, durch Begegnungen von Angesicht zu Angesicht; durch die Bauten, die sie schufen; durch die Votivbilder, die sie an den Pilgerstätten hinterlassen haben. Oft stand ich vor den behangenen Wänden und Galerien, blickte zu Sterbebildchen, bunten Schleifen, Wimpeln und Fahnen auf: jede gebrachte Gabe ein Blick in eine Biografie, ein Testament für die Hoffnung auf das Wirken Gottes im eigenen Leben oder ein Dank dafür.
Tag 119. So viele Wanderer, wie mir am späten Vormittag im Val Maira entgegenkamen, hatte ich seit Südtirol nicht mehr gesehen. Gruppen aus Deutschland und Österreich keuchten in der Hitze den staubigen Pfad aus dem Tal hoch zu exponierten Hängen, auf denen die sogenannten Percorsi Occitani zu den Sehenswürdigkeiten des einsamen Gebirgstals führten.
Ich nahm mir die Zeit, eine paar Worte zu wechseln über den Wegzustand und Stationen, die in jedem Fall lohnenswert sind. Und wie so oft auf dieser Reise bekam ich nach ein paar Gegenfragen neue Gebetsanliegen mit auf meinen Weg. Das ist Teil des Pilgerns, Teil des priesterlichen Dienstes.
Über 1500 Bitten habe ich seit den ersten Schritten am Golf von Triest mitgenommen und täglich mehr als ein Dutzend an der jeweils nächsten Pilgerstätte vor den Herrn gebracht – meist gesungen in Form einer byzantinischen Litanei, meist in der stillen Einsamkeit der abgelegenen heiligen Orte. Ein solcher Dienst gibt Richtung. Ein solcher Dienst gibt Kraft – gerade wenn der Weg schwierig wird, durch Regen, Schnee und Eis. Denn wenn es gelingt, die Widrigkeiten geduldig zu tragen, wenn man es »aufopfert«, wie es nach frommem Wortlaut heißt, dann liegt Segen auf den Bitten, die man mit sich trägt.
»Warum soll man Gott bitten?«, hatte mich vor Wochen jemand im Gespräch gefragt. »Er wird doch schon wissen, was ich brauche?« Ich musste schmunzeln und gab zurück: »Mit Sicherheit. Aber die Bitten dienen ja auch nicht dem Informationsaustausch. Wir bitten Gott nicht, damit er etwas Neues über uns erfährt. Vielmehr bitten wir ihn, weil uns dieses Bitten eine innere Haltung lehrt.« Im Bitten erkennt der Mensch seine Verwiesenheit auf Gott. Er ist die Quelle alles Guten. Alles, was wir haben und sind, ist letztlich nichts Eigenes, nichts Geschuldetes, sondern Geschenk. Das Bitten lehrt uns diese Haltung. Es lehrt, das Gegebene in rechter Weise zu sehen.
Und es kann uns helfen zu verstehen, dass unsere Bitte manchmal unerhört bleibt, weil uns Größeres gegeben wird. Dazu habe ich eine – zugegeben etwas banale – Geschichte von meinem ersten langen Pilgerweg: Zu Fuß, ohne Rucksack und Geld brach ich mit 20 Jahren von meiner Heimat in Österreich nach Santiago auf.
In Frankreich angekommen, kam ich in eine Hitzewelle. Ohne einen Tropfen Wasser schleppte ich mich vorwärts. Endlich sah ich eine Frau in einem Garten, lief zum Zaun und streckte meine Flasche mit der Bitte nach etwas Wasser über die hölzernen Latten. »Nein«, kam es zurück. Ich war verwirrt, wiederholte meine Frage. »Nein«, hieß es aber- mals, und die Dame verschwand im Haus. Wut keimte. Welch »Ungerechtigkeit«! Ich stand eine Weile da, haderte, dann ging ich bitter weiter. 500 Meter. Ein Auto. Ein Mann. Ich lief. Er nahm meine Flasche und stand ein paar Augenblicke später mit einem eiskalten Getränk wieder in der Tür, in der anderen Hand hielt er Schokoladenkekse. In diesem Moment meinte ich zu erkennen, warum ich bei der Dame abgewiesen worden war: Da war mehr für mich bereitet gewesen, als nur Wasser. Jemand wollte, dass es auch Kekse für mich gab.
Wie gesagt, die Geschichte ist banal. Aber Pilger wissen: Schokolade ist nicht banal. Und darum erzähle ich sie oft. Wer bittet, erkennt Gott als Quelle alles Guten an. Er kultiviert eine innere Haltung und damit auch den Glauben, dass Gott das aufrichtige Gebet nie ignoriert. Aber bisweilen ist es etwas Anderes, etwas Wichtigeres, was Er uns schenken will. Bleiben wir nicht am Zaun stehen. Gehen wir weiter im Vertrauen. Mit einem Lächeln und in alten Erinnerungen begann ich den nächsten Anstieg.
Tag 122. Gewitter hatten meinen Start im Morgengrauen verhindert. Ich saß seit zwei Stunden im Heiligtum der Madone de Fenestre fest. Starker Regen prasselte auf die Steinplatten vor dem Kirchenportal. Wie viele alte Heiligtümer war dieser Ort in die Jahre gekommen. Die Pilgerherberge war zugebrettert, nur das Refuge dank der vorbeiführenden Weitwanderwege noch o en. Zu manchen dieser abgelegenen Stätten kommt außer an den Festtagen kaum noch ein Pilger, sie verwahrlosen. Andere kämpfen mit dem Klimawandel, wie eine Kapelle, die mir von Beginn des Weges an besonders am Herzen lag: die Kapelle am Thabor. Das Schmelzen des Permafrostbodens an ihrem Standort auf fast 3200 Metern Höhe hat die Fundamente bröckeln lassen. Risse durchziehen heute die uralten Mauern, doch die Zuständigkeit erschwert die Erhaltung.
Das Gebäude gehört einer italienischen Pfarrei, liegt nach der Verschiebung der Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch auf französischem Staatsgebiet. Vor meiner Reise hatte ich den Bürgermeister und den Pfarrer getro en und meine Hilfe angeboten, diesen wunderbar gelegenen Ort zu erhalten. Ich hoffe, es gelingt, und mache seither Werbung für das Spendenkonto.
Seit damals sind einige weitere bedrohte Stätten hinzugekommen. Sie sind Teil der Geschichte dieser Berge, Teil des Glaubens, der die Kultur und die Menschen der Alpen geprägt hat. Nur kann es mit Putz und Steinen nicht getan sein, denn letztlich ist es der gelebte Glaube, der diesen Orten Leben einhauchen muss. Ansonsten werden sie verlorengehen. Ich starrte in die grauen Regenschleier. Dann stand ich auf und zog die Jacke zu. Von Warten allein passiert nichts!
Tag 125. Ich lag im Zelt, alles war nass. Am Tag zuvor hatte ich noch gemeint, die Sache sei gegessen. Der letzte hohe Pass hinein ins Vallée des Merveilles war überschritten, von den mächtigen Alpen waren nur mehr ein paar schroffe Kalkfelsen mit mediterraner Vegetation und pittoresken Dörfern geblieben. »Jetzt laufe ich es heim«, hatte ich am Morgen unbeschwert gedacht. Was folgte, war ein Tag mit starken Regenfällen, steilen, rutschigen Wegen, dichter Vegetation, Dornen, Stacheln und am Abend die Abweisung bei jedem erschwinglichen Quartier. So hatte ich noch fünf Kilometer angehängt und während eines Wolkenbruchs im Finstern mein Zelt neben der Ruine einer Kapelle aufgebaut. Ich lag erschöpft auf meiner feuchten Matte. Der Regen trommelte auf die dünne Haut meiner Bleibe.
In der Früh war immer noch alles nass: das Zelt, meine Ausrüstung, meine Kleidung. Und hier fiel sie dann, die Entscheidung. Ein letzter Kraftakt bis zum Meer. Ein vielleicht idiotischer Versuch, an die körperlichen Grenzen zu gehen und zu sehen, was passiert.
28 Stunden und 112 Kilometer später dann der Hafen von Cannes – Euphorie! Hinter mir die Alpen, vor mir ein letzter kleiner Hügel im Meer: die Insel Saint-Honorat, auf der seit dem Jahr 410 die Mönche beten. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch war ich gegangen. Nun stand ich wie in Trance vor dem Endpunkt meiner Reise.
Nach der Überfahrt auf die Insel saß ich lange unter den hohen Kiefern, die ihren harzigen Duft verströmten. Die Wellen brandeten gegen die schro en Felsen. Eine Zikade füllte die Luft mit gleichmäßigem Klang. Der Boden war warm. Vier Monate. 4324 Kilometer. Unzählige Höhenmeter, Gipfel und Pässe. 200 heilige Stätten. Ähnlich wie bei meinem weiten »Umweg« nach Jerusalem und zurück (2013–2014) war es schwer, nun einen Abschluss zu finden.
Je länger der Weg, desto weniger scheint er im Rückblick einen deutlichen Anfang zu haben, desto mehr verschwimmt nach einem kurzen Moment des Ankommens das Ende. Lange Wege sind kein »Ausbrechen aus dem Leben«, kein »geistiger Urlaub«. Lange Wege verschmelzen mit dem Leben, werden prägender Teil der Biografie. Und damit erweisen sie sich als das, was alle Pilgerwege im Grunde sind und sein wollen: nicht kurzer Ausflug in die Fremde, sondern Etappe – Etappe auf einem Weg, auf dem wir als Menschen alle Pilger sind.
Für mich als Christ und Priester ist dieser Pilgerweg des Lebens ein Weg des Glaubens, dessen letztes Ziel im Jenseitigen liegt. Und ob in nobler Schlichtheit, in erhabenen Linien, in gewagten Schnörkeln und Stuck, im Herzen der Städte oder auf den Gipfeln der Berge: Ich bin dankbar, dass die Kirchen, Kapellen, Kreuze und Kathedralen der Alpen mir und vielen vor und nach mir als weithin sichtbare Wegweiser und Ruheplätze dienen. Im Lärm der Welt sind sie Oasen. Ich blickte auf den Weg, der hinter mir lag – den äußeren, den inneren.
Dann, nachdem die meisten Touristen das Boot zurück nach Cannes genommen hatten, stand ich auf und ging auf dem Waldweg zum Kloster. Ich trat ein in die heiligen Hallen und harrte in der Stille. Dann traten die Mönche und ein paar Gläubige durch das Portal und füllten den Raum mit himmlischem Gesang.
Hier, am Ende der Alpen, erneuerte ich meinen Entschluss: Ich werde weitergehen, mit und ohne Wanderschuhen. Denn auch nach vielen Kilometern liegt noch ein langer Weg vor mir. Jerusalem ist das Ziel – das himmlische.
Der Bildband „Pilgern - Wege der Stille“zeigt die schönsten Pilgerwege der Welt. Von Norwegen bis Japan reisten die Autoren, um die ältesten, schönsten und interessantestes Pilgerorte der Geschichte zu erkunden. Mit eindrucksvollen Beiträgen von Dieter Glogowski, Stefan Rosenboom, Andrea Nuß und Johannes Maria Schwarz.