Fast scheint es, als stehe die Hütte auf der Bühne. Rings um das Hochweisssteinhaus erheben sich die Berge wie die Tribünen eines Amphitheaters. Die Zuschauer sind in diesem Fall Kühe; im warmen Abendlicht grasen sie an grünen Hängen und interessieren sich nicht für uns. Warum auch? Wir hocken dicht an dicht in der rustikalen Stube an langen Tischen, die Stimmung ist so aufgekratzt, wie sie nur in einer Wanderhütte sein kann. Alle erzählen vom Weg, den sie gegangen sind, und alle haben Hunger. Ich sitze neben Isabell aus dem Spreewald. Sie sagt, sie habe beim Urlaub im idyllischen Lesachtal in Kärnten sehnsüchtig zu den Bergen aufgeschaut und sich gesagt: Dort oben will ich wandern. Und so nimmt sie nun, gemeinsam mit einer Freundin, den Karnischen Höhenweg unter die Füße.
150 Kilometer auf Augenhöhe mit den Gipfeln
Der Fernwanderweg führt über den Kamm der Karnischen Alpen: Von Sillian bis Arnoldstein sind es gut 150 Kilometer, zu schaffen in acht bis elf Etappen. Abgesehen von einem kleinen Schlenker über die italienische Grenze verläuft die gut markierte Route durch Österreich. Westlich des Hochweißsteinhauses geht es auf hohe Gipfel: Aus 2600 Meter Höhe blickt man über die Dolomiten und ihr Wahrzeichen, die Drei Zinnen. Isabell will morgen in diese Richtung, ich in die andere. Beim Abendessen können wir wählen zwischen Hirschbraten und Gemüsereis, zum Nachtisch gibt es ein Wassermelonen-Granité. Alles ist frisch und gekonnt gekocht, obwohl sämtliche Zutaten mühsam mit der Materialseilbahn zur Hütte transportiert werden müssen (Matratzenlagerplatz 24 €).
Am nächsten Tag bin ich knapp sieben Stunden unterwegs, reine Gehzeit. Abwechslungsreicher kann eine Etappe im Gebirge kaum sein; außerdem wird der Weg Richtung Osten einfacher: Ich komme an halb verlassenen Almen vorbei, passiere eine Schafherde, quere eine Schotterflanke, wandere auf einem federnden Waldweg zwischen Lärchen dahin. Ziemlich groggy erreiche ich die Wolayerseehütte. Ein unfassbares Panorama tut sich auf: Vor ein paar Jahren bekam das traditionsreiche Haus einen Anbau mit Glasfront. Hier sitze ich nun mit den anderen Wanderern und kann mich nicht sattsehen: Über dem türkisfarbenen Bergsee erhebt sich ein grauer Felsriese mit einer schroffen Wand, die Hohe Warte, mit 2780 Meter der höchste Gipfel der Karnischen Alpen. Strahlend blauer Himmel und eine weiße Wolke machen das Landschaftsgemälde komplett. Dazu bekomme ich einen hausgemachten Apfelstrudel serviert: hauchdünner Teig, einfach himmlisch (Matratzenlagerplatz 24 €).
Wo der Erste Weltkrieg einst tobte, herrscht nun Ruhe
Am folgenden Tag erreiche ich den Plöckenpass. Er führt nach Italien und war im Ersten Weltkrieg schwer umkämpft. Das Freilichtmuseum erinnert an den Wahnsinn, selbst im Hochgebirge Krieg zu führen. Die Kustodin Karin Schmid führt mich auf schmalen Pfaden zu den Gräben und Mauern mit Schießlöchern, zu den ins Gebirge betonierten Treppen und zu einem vertikalen Tunnel. Bis auf den 1866 Meter hohen Gipfel des Kleinen Pal führen die Wege des Freilichtmuseums. Im Winter kämpften die Soldaten beider Seiten mehr gegen Kälte und Lawinen als gegen den Feind. Im Bergwald geht es vorbei an den ehemaligen Stellungen für Minenwerfer und an dunklen Kavernen. Als sich der Himmel verdunkelt und es donnert, kehren wir um. Die Aussicht, in einer Horchstellung unterzustehen, bis das Gewitter vorbeizieht, gruselt mich. Jeden Sommer helfen Freiwillige beim weiteren Ausbau des Freilichtmuseums. Ohne sie gäbe es wohl auch den Karnischen Höhenweg nicht. Sie haben verlassene Pfade und einige Hütten wieder hergerichtet.
Je weiter ich nach Osten wandere, desto lieblicher wird der Höhenweg. Auf der Egger Alm stehen drei Dutzend Blockhütten, einige mit Schindeldächern gedeckt. An den Balkonen hängen Geranien, darunter stapelt sich das Brennholz. In der Senke um einen See grasen Kühe, Pferde weiden unter einer Fichte. Die Milch wird gleich zu Käse verarbeitet und im Gasthaus Zur Alten Käserei serviert (Tel. 0043-650-3910520). Hier, am Ziel meiner Wanderung, gibt es auch den berühmten Gailtaler Almkäse – die Buttermilch ist weder homogenisiert noch pasteurisiert, die Sauermilch gibt’s als Shake mit Cranberrys. Auch die Kasnocken sehen verlockend aus. Und beim Abräumen verrät der Kellner noch einen ganz persönlichen Tipp: »Heut gehen wir über die Grenze nach Italien und trinken ein Glas Wein. Das ist viel gscheiter.«