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Astronauten können ihn von der Internationalen Raumstation aus sehen, auf der Erde aber zeigt er sich anfangs erst im letzten Moment: Wie ein Riss klafft der Grand Canyon inmitten einer weiten Ebene. Fast könnte man hineinstolpern, so unvermittelt geht es 50 Meter in die Tiefe. Erst weiter südwärts weitet sich die Schlucht zu einem Labyrinth, bis zu 29 Kilometer breit und 1600 Meter tief. In diesen Abgrund blicken jährlich sechs Millionen Menschen. Aber nur etwa 30 000 wagen sich hinunter. Auf seinen Urheber, den Colorado River. Wer diesen Fluss befährt, begibt sich auf eine der längsten und spektakulärsten Wildwassertouren der Welt. Und auf eine Reise durch 1,7 Milliarden Jahre Erdgeschichte – auf einen Trip in die Tiefenzeit.
Meile 0: Lees Ferry
Der einstige Fähranleger Lees Ferry ist das Tor zur steinernen Vergangenheit. Nur hier, am Übergang vom Glen Canyon zum Grand Canyon, können Boote zu Wasser gelassen werden. Für die Wagemutigsten liegen Kajaks und Ruderboote am Ufer. Für uns sind es zwei motorisierte Pontonboote, zehn Meter lang. Sie sehen aus wie Gummiflöße, verbunden mit schlauchartigen Auslegern und einem Bug. Sie sind die sicherste Wahl, wenn man den Colorado befahren will. Und, wie sich zeigen wird, abenteuerlich genug.
Mit einer Menschenkette aus 28 Gästen und drei Steuerleuten – den "Flussläufern" – verladen wir unser Gepäck: wasserdichte orangefarbene Seesäcke. In der Bootsmitte vertäut, dienen sie während der Fahrt als Rückenlehne.
In einem Karree zwischen Gepäckberg und Steuer, der »Teeküche«, bezieht Paul Knauth Stellung, das graue Haar gescheitelt, die Brille randlos, das Hemd gebügelt. Der 72-Jährige ist Geologieprofessor an der Arizona State University. Seit gefühlt Urzeiten leitet er einmal im Jahr eine Geologietour durch den Grand Canyon. Unter den Mitreisenden sind ehemalige Studenten, inzwischen längst selbst Professoren. Und immer noch voller Bewunderung für ihren alten Lehrer: Keiner könne packender aus der Erdgeschichte erzählen.
Was alle Reisenden eint: der Wunsch, den Grand Canyon vom Wasser aus zu erkunden – und dabei aus der Zeit zu fallen. Ab jetzt haben unsere Telefone keinen Empfang mehr. Vor uns liegen acht Tage Wildnis, 188 Flussmeilen und 67 Stromschnellen. Darunter einige der gefährlichsten Nordamerikas.

Meile 17: House Rock Rapid
Schon leckt die Zunge einer Stromschnelle nach unserem Boot. Weiß schäumt das Wasser zwischen riesigen Kieseln. Das Wasser drückt den Bug nach oben, dann stürzt er in einen tiefen Wirbel. Wer vorn sitzt, den überrollen die Wellen, von unten schießt Wasser durch einen Spalt zwischen Bug und Boot hoch. Ein Schock: Gerade erst aus den eisigen Tiefen des Lake Powell abgelassen, sind die Fluten acht Grad Celsius kalt.
Jubel bricht aus. Die erste Stromschnelle der Stärke 7 bis 8 auf einer Skala bis 10 liegt hinter uns.

Meile 65: Salzminen
Picknick mit Blick auf eine meterdicke Salzschicht. Den Hopi-Indianern ist dies ein heiliger Ort. Für Paul zeugt das weiße Kristall von einem Großereignis vor 540 Millionen Jahren: der kambrischen Explosion.
Binnen weniger Millionen Jahre waren damals Vorläufer fast aller heutigen Tiergruppen aufgetaucht. Warum, bleibt umstritten. Paul ist überzeugt, dass die Ozeane vorher zu salzhaltig waren für komplexeres Leben: In der sauerstoffarmen Lake konnten nur Mikroben und blinde, meist unbewegliche Kleinstlebeweisen gedeihen. "Nichts als Schleim", resümiert Paul, "zwei Milliarden Jahre lang."
Erst als der Salzgehalt auf ein bestimmtes Niveau gesunken war, hätten muschelbildende Organismen entstehen können – und darauf aufbauend die Grundlagen aller heutigen Lebewesen. "Salz war also der Schlüssel zur kambrischen Explosion."
Wir stehen quasi an unserer Wiege. Mittagsmüde verschlafen einige die Sensation.

Meile 180: Lava Falls
Das also sind die heftigsten navigierbaren Stromschnellen Nordamerikas. Sie haben schon jede Art von Boot umgestürzt. Wir begutachten sie zunächst vom Ufer aus: Schäumendes Wasser umtost schwarzes Gestein, Überreste eines Lavadamms, der den Flusslauf vor rund 500 000 Jahren blockiert haben muss. Nach Ricks Unfall ist die Vorsicht zurückgekehrt: Niemand darf auf die Pontons, vorn am Bug sitzen nur die Kräftigen. Die Fahrt wird zum Tanz: Wir springen und drehen uns mit dem Boot, jubeln und lachen. Was für ein Finale!
Die Hochzeit der Vulkanausbrüche im Grand Canyon begann vor 730 000 und endete vor 100 000 Jahren. Die letzte Eruption war vermutlich erst vor 1000 Jahren.
Quasi gestern.
Dies sind Auszüge von "Wilde Wasser". Lesen Sie die ganze Geschichte in GEO SAISON.
Tipps und Adressen für das Rafting-Abenteuer
Touren
Der jährliche Geologie-Trip wird von Paul Knauth organisiert, ist aber über Hatch River Expeditions zu buchen. Acht Tage, zwei Boote, 28 Passagiere. Der nächste Trip findet vom 13.–20.5.2019 statt, 2418 € p. P.
Auf der Website der Nationalparkverwaltung findet sich eine Liste aller kommerziellen Anbieter geführter Rafting-Trips. Ausrüstung und Verpflegung sind inbegriffen, meist auch die Rückreise an den Ausgangspunkt. Neben den regulären Touren gibt es auch solche mit Schwerpunkten wie Geologie, Wandern, Fotografie, Yoga oder Musik. Je nach Bootstyp und Streckenlänge dauern die Rafting-Trips drei bis 18 Tage. Rafting-Trips und die Unterkünfte im Park sind früh ausgebucht. Es empfiehlt sich, ein bis zwei Jahre im Voraus zu planen. Beste Reisezeit: im Frühjahr oder Herbst, sonst ist es sehr heiß. Während des Spring Breaks und der Sommerferien sind außerdem vermehrt junge Leute unterwegs, die vor allem Spaß suchen. www.bit.ly/2L9r9MR, eine Woche kostet ca. 2100 €, längere Touren bis zu 3900 €
Touretappen
Die Länge der Trips variiert je nach Anbieter. Grob lassen sich drei Touren unterscheiden:
Full Canyon: 188 bis 225 Meilen. Dauer: 7 bis 16 Tage. Die im Text beschriebene Tour ist 188 Flussmeilen lang. Diese Strecke umfasst alle geologischen Merkmale des Grand Canyon, www.hatchriverexpeditions.com, 8 Tage, 2650 €
Uper Canyon: Oberer Flusslauf, Dauer: 3,5 bis 6,5 Tage.
Lower Canyon: Unterer Flusslauf, Dauer: 4,5 bis 8,5 Tage.
Upper- und Lower-Canyon-Trips enden oder starten in der Regel bei Flussmeile 88, der Phantom Ranch. Diese ist nur zu Fuß erreichbar (und mit Hilfe von Lasteneseln). Trittsicherheit und eine gute Kondition sind daher Voraussetzung. Schließlich gibt es auch kürzere Trips ab Meile 188 bis zum Ende des Canyons am Lake Mead. Dieser Abschnitt ist der unspektakulärste. Wem all das zu lang, zu teuer oder zu abenteuerlich ist, dem empfehlen sich Halbtages- oder Tagestouren auf dem Colorado River zwischen Lake Powell und Lees Ferry – durch den Glen Canyon. Hier liegt der weltbekannte Horseshoe Bend, die Hufeisenkurve, Stromschnellen gibt es keine.
www.riveradventures.com, je nach Dauer kosten die Trips ab 80 €
Bootstypen
Motorisierte Pontonboote: Zwölf bis 14 Personen pro Boot, doppelt so schnell wie unmotorisierte Varianten. Riemenboot. Inmitten von drei Gästen sitzt der Flussläufer und paddelt.
Paddelboot: Der Flussläufer sitzt hinten und gibt Kommandos. Fünf Gäste paddeln mit.
Kajak: Nur für Kajakfahrer mit solider Wildwassererfahrung (mindestens Klasse 4).