Es war Nacht, als der Verhaltensbiologe Roland Hilgartner vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen durch den Kirindy-Wald streifte, rund 60 Kilometer nordöstlich der Stadt Morondava im Westen Madagaskars. Er war auf der Suche nach nachtaktiven Lemuren, als sich ihm plötzlich ein bizarrer Anblick bot.
In einem Busch vor sich sah er einen schlafenden Vogel der Art Newtonia brunneicauda, in dessen rechtem geschlossenen Auge ein Saugrüssel steckte. Der Rüssel gehörte einem Nachtfalter, der sich im Nacken des Vogels niedergelassen hatte und offenbar dabei war, dessen Tränenflüssigkeit auszusaugen. Über eine halbe Stunde habe der Schneckenspinner aus dem Auge getrunken, wobei der Vogel unbeeindruckt weiterschlief, berichtet Roland Hilgartner.
Einige Tage später beobachtete er einen Nachtfalter der gleichen Familie (Limacodidae) auf einem Malegassendajal. Dass Nachtfalter Tränen trinken, ist nicht neu. Sie decken damit ihren Salz- und Proteinbedarf. Doch bei den bisher bekannten Fällen aus Asien, Amerika und Afrika handelte es sich ausschließlich um Falter, die an den offenen Augen größerer Säugetiere tranken, etwa Elefanten, Tapiren, Nashörnern – und auch Menschen.
Warum sich die Schneckenspinner in Madagaskar auf schlafende Vögel spezialisiert haben, ist unbekannt. Zumal deren Augen nicht nur viel weniger Flüssigkeit produzieren, sondern im Gegensatz zu Säugeraugen auch durch zwei so genannte Nickhäute geschützt sind, die das Eindringen des Rüssels erschweren. Eine Erklärung könne sein, dass es auf Madagaskar keine vergleichbaren Großsäuger gebe, so Roland Hilgartner. Die größten Säugetiere seien Wildschweine, Schleichkatzen und Lemuren. Außerdem wimmele es in den Tümpeln und Pfützen, aus denen die Nachtfalter sonst ihr Wasser saugen, von nachtaktiven Fröschen. Und die haben es nicht nur auf flüssige Nahrung abgesehen: Wie einige Lemuren fressen auch sie Insekten.