Kain und Abel - so nennen Vogelkundler die beiden Jungen eines Schreiadlerpaares. Wie das biblische Vorbild tötet bei den Vögeln der Erstgeborene das jüngere Geschwisterkind. "Er nimmt ihm das Futter weg oder hackt ihm den Kopf oder den Rücken blutig", sagt Bernd-Ulrich Meyburg, Vorsitzender der "Weltarbeitsgruppe für Greifvögel und Eulen" in Berlin. Warum bei den Schreiadlern immer zwei Junge geboren werden und eines getötet wird, weiß man nicht.
Inzwischen reicht ein Junges nicht mehr aus, um die Art zu erhalten - der Bestand der Schreiadler geht stetig zurück. Der rare Vogel braucht spezielle Reviere, in denen er jagen kann - er verfolgt seine Beute "unadlerhaft" zu Fuß - und ist auf seinen langen Zugstrecken ins südliche Afrika vom Abschuss bedroht. Lediglich 109 Paare brüten in Deutschland.
Die meisten von ihnen in Mecklenburg-Vorpommern, etwa 20 in Brandenburg. 2003 waren es bundesweit noch 130 Paare. Das Landesumweltamt in Brandenburg hat daher mit Unterstützung der Deutschen Wildtier Stiftung ein Experiment gewagt, um zumindest auch jene Jungen groß zu ziehen, die bislang dem "Kainismus" zum Opfer gefallen sind. Der Leiter der Naturschutzstation Woblitz, Paul Sömmer,hat dafür nach dem Schlüpfen das zuerst geborene Tier ausdem Nest genommen und nach vier Wochen gegen "Abel" ausgetauscht.
Nach sechs Wochen hat er Abel wieder zu Kain in das gemeinsame Nest gesetzt. Denn nur solange sie noch ihren weißen Kükenflaum tragen, versuchen die Jungvögel, einander aus dem Nest zu verdrängen. Auch die Altvögel haben ihr zweites Junges ohne Probleme aufgenommen.