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Ehrlich gesagt, habe ich mir nie viel aus Pandas gemacht. Konnte nur den Kopf schütteln über die Panda-Manie der Menschen, über das Entzücken der Tierliebhaber beim Anblick der schwarzweißen Bambusbären und über die absurde Hochrüstung im Kampf der Zuchtanstalten und Zoos. Überall die Versuche, den kopulationsschwachen Superteddy per Elektro-Ejakulation und Kanülenbesamung zur Fortpflanzung zu bewegen. Mir schien es, als hätte sich eine pandaphile Welt verschworen, die doch offensichtlich evolutionsmüde Kreatur mit Gewalt zum Überleben zu zwingen.
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Was zieht den Menschen zum Panda?
Was hat den Großen Panda mit dem klingenden wissenschaftlichen Namen Ailuropoda melanoleuca zum Popstar des Naturschutzes gemacht? Wie konnte eine Kreatur, die mehr als 60 Prozent ihres Tages das immergleiche Grünzeug frisst und den Rest des Daseins träge in Astgabeln hängt, zum Kultwesen werden? Wie schafft es der Herzensbär, Menschenmassen in jene wenigen Zoos weltweit zu locken, die es sich leisten können, die lebendige Luxus-Leihgabe der Volksrepublik meist für jährlich eine Million US-Dollar pro Exemplar zu mieten, um sie zur Schau zu stellen? Fragen, auf die vernünftige Antworten zu bekommen ich nicht erwartete.

Bis ich Da Xiongmao, die "Große Bärenkatze", wie die Chinesen ihr lebendiges Wahrzeichen nennen, persönlich kennen lernen und sozusagen in die Höhle des Panda in der südwestlichen Provinz Sichuan kriechen durfte. Wolong heißt die Region, die etwa 5000 Einwohner zählt und die Kultstätte für Pandafans und -forscher beherbergt: das größte Zuchtzentrum der Welt mit 115 Tieren. Hier ballt sich das Wissen um das chinesische Nationaltier aus der Ordnung der Fleischfresser und der Familie der Bären, das an die anderthalb Meter lang werden kann, 75 Zentimeter hoch, 100 Kilogramm schwer. Alter: im Schnitt bis zu 13 Jahre in der Wildnis, 20 in Gefangenschaft. Das älteste lebende Tier ist 37 Jahre. Pandas vertilgen, weil sie nur ein Zehntel der nährstoffarmen Pflanze verwerten können, gut 30 Kilogramm Bambus pro Tag. Sie halten keinen Winterschlaf, da sie bei der schmalen Bambuskost nicht genügend Fett ansetzen. Und sie sind strikte Einzelgänger, die gern schwimmen und gut klettern. Geruchsinn und Gehör exzellent. Nur eben: Fortpflanzungsraten miserabel.
Die Ähnlichkeit der Gestik zwischen Mensch und Bär ist verblüffend
Das ist das Problem. Deshalb das gut besuchte Zentrum, wo erfolgreiche Reproduktion Planerfüllung bedeutet. Deshalb befindet sich Ye Ye in einem der vielen Gebärräume, wo die Bärin niederkommen soll. "Herrlicher Sonnenschein", selbst ein Zuchtprodukt, ist acht Jahre alt. Bambusbären können erst ab etwa sechs Jahren trächtig werden. Ye Ye sitzt am Boden, lehnt mit dem Rücken an der Wand und lässt die Pfoten hängen - wie ein zutiefst erschöpfter Mensch. Beinahe erschreckend die Ähnlichkeit der Gestik zwischen Mensch und Bär. Ye Ye kämpft seit drei Stunden. Eben ist ihre Fruchtblase geplatzt. Die klare Flüssigkeit bildet Pfützen. Ye Ye leckt sich das gerötete Geschlecht. Ein leises Stöhnen entweicht ihrem Maul. Überraschend menschlich auch dies. Im Nebenraum sitzt Cheftierarzt Tang Chun Xiang. Vor ihm flackern ein Dutzend Monitore. Ye Ye und andere Hochträchtige stehen unter ständiger elektronischer Überwachung. "Wir haben beide Arten der Fortpflanzung optimiert", sagt der Mann im weißen Kittel, "die natürliche und die künstliche." Die Erstgebärende erwartet Zwillinge - von zwei Vätern. "Ein Eierstock wurde durch Kopulation besamt, der andere per Samenspende und Kanüle." Reproduktion im Akkord.

In einem der Gehege herrscht nun für Panda-Verhältnisse regelrechte Hyperaktivität: ein Kinderspielplatz, der alle Klischees in meinem Kopf aufleben lässt. Rollende Wollknäuel, knuffige Klettermeister, tapsige Toddler – so sollen die von klein auf eingefleischten Einzelgänger ihre natürliche Scheu voreinander verlieren und Körperkontakt trainieren. Auf dass sie sich später leichter paaren mögen. Das Image des Panda als weitgehend friedlicher Vegetarier macht alles noch runder, obwohl es nicht ganz stimmt: Pandas in freier Wildbahn lieben zusätzliche Fleischkost und machen selbst um Aas keinen Bogen. Das wichtigste Signal aber: Ausgerechnet diese Unschuldsbären sind vom baldigen Aussterben bedroht. Sie sind extrem bedürftig.
Mit dem Nächstbesten kopulieren

Im Gebärraum leidet weiter ein Wesen, das aussieht wie ein erwachsenes Kind. Ye Ye dreht sich mit dem Bauch zur Wand, als wollte sie sich ein Restchen Privatheit bewahren. Sie lässt sich langsam zur Seite fallen. Die Nachkommen zweier Väter drängen aus ihrem Leib ans Licht. Unter ihrer Haut steckt ein Chip mit allen Daten ihrer genetischen Herkunft. Der rasierte Unterbauch zeugt von den Ultraschalluntersuchungen, die Ye Ye während ihrer fünfmonatigen Tragezeit von Anfang an jeden Tag über sich ergehen lassen musste. Die Bärin hatte sich zunächst gewehrt, von einem Männchen begattet zu werden. Nicht weil es ihr an Trieben fehlte, sondern weil sie in Gefangenschaft wohl einfach keine Lust hatte, mit dem Nächstbesten zu kopulieren. "Die Tiere haben ausgeprägte Vorlieben und Abneigungen", sagt der Cheftierarzt. Nicht leicht, den Weibchen, die nur drei Tage im Jahr befruchtungsfähig sind, den "Richtigen" zu präsentieren.
Und die "Panda-Pornos"? Nichts als ein mildes, der Natur entlehntes Mittel, die Kopulationsfreude anzuregen: In freier Wildbahn bleibt das Junge bis zu zwei Jahre bei seiner Mutter und erlebt deren Begattungen quasi live. Am Bildschirm erkennen die Tiere wohl nichts, doch sie hören die Brunftschreie, was die Bereitschaft beider Geschlechter steigern soll. Männchen brauchen ebenfalls Stimulation - und Training für die Hinterbeine, etwa mit hoch hängenden Fresskörben. In Gefangenschaft sind ihre Muskeln zu schwach, als dass sie ein Weibchen besteigen könnten. Im Wald sollen starke Männchen dagegen sogar artistische Akte auf Bäumen schaffen. Plötzlich erscheinen mir Ye Ye und ihre Artgenossen in einem anderen Licht: Sind sie nicht eher stolze Rebellen als lustlose Versager? Verweigern sie sich nicht vor allem wegen der Gefangenschaft?
In Gefangenschaft attakieren Männchen auch Weibchen
In der Natur, sagt der Tierarzt, können zeugungsbereite Panda-Weibchen unter vier, fünf Männchen auswählen. Im Frühling seien in der stillen Gebirgslandschaft kilometerweit deren Brunftschreie zu hören. Die Kerle liefern sich heftige Raufereien. Nur in Gefangenschaft attackieren sie, da keine Konkurrenten greifbar sind, in einer Art Übersprungsreaktion auch Weibchen. Doch keiner bricht den Widerstand eines weiblichen Tieres, wenn dieses partout nicht will. "Heute wissen wir zum Glück viel mehr über das eigenwillige Fortpflanzungsverhalten", sagt Tang. Und zwar vor allem dank der Kollegen, die ihre Arbeit hoch oben in den Bergen tun. Leute wie Zhou Shi Qiang, den sie hier "Vater aller Pandas" nennen, haben erst vor kurzem ein weiteres Missverständnis aufgeklärt: Die Bären können in freier Wildbahn im Prinzip ausreichend Nachwuchs produzieren. Ein Weibchen steuert dem Bestand im Laufe seines Lebens fünf bis sechs neue Pandas bei.

Duftende "Panda-Pfade"
Woran liegt es dann, dass die Pandas in der Wildnis vor dem Aussterben stehen? Es fehlten "Panda-Pfade", sagt der Feldforscher. Einst reichte das Verbreitungsgebiet der Bären über weite Teile Chinas und darüber hinaus. Heute können sie nur noch eingezwängt zwischen Landwirtschaft und Baumgrenze existieren. Zwar sind zurzeit 56 Schutzgebiete ausgewiesen. Doch Straßen, Felder und Siedlungen parzellieren die Reviere der Einzelgänger so stark, dass sie zur Paarungszeit nicht zusammenfinden. Naturschützer kämpfen deshalb um grüne Korridore, die einzelne Schutzgebiete miteinander verbinden. Ein Netz duftender Wegweiser für Artgenossen kennzeichnet die "Panda-Pfade" und die Wohngebiete in freier Natur.
Ein rosanackter Körper windet sich wurmartig aus dem Mutterleib
Ye Ye verlangt Aufmerksamkeit. Alle vier Minuten ein fast greifbarer Schmerz. Es sei sehr schmerzhaft für die Mutter, sagt der Tierarzt, denn die Neugeborenen würden in Gefangenschaft immer größer. Wohl eine Folge des mit Vitaminen und Mineralien versetzten "Pandabrots" aus Bambus-Mus. Herz und Bauch der Bärin vibrieren. Stöße im Unterleib. Blut tritt aus. "Drei Minuten", ruft Tang, "es ist gleich so weit!" Da tritt ein weißliches Spitzchen aus dem Unterleib. Die Mutter leckt das Köpfchen. Nächster Wehenkrampf. Ein rosanackter langer Körper windet sich wurmartig aus dem Mutterleib und rutscht glitschig auf den Boden. 75 bis 184 Tage ist das Junge im Fruchtwasser gewachsen; die Panda-Schwangerschaften sind unterschiedlich lang. Denn das befruchtete Ei nistet sich nicht sofort ein, sondern schwimmt bis zu vier Monate lang frei im Uterus umher. Die echte Reifezeit des Fötus beträgt nur bis zu anderthalb Monate. Reichlich unfertig sieht das Neugeborene daher aus: blind, haarlos, winzig. Erst mit fünf Monaten wird es laufen können. Die Mutter muss es vorsichtig in ihrer mächtigen Pfote umhertragen. Deshalb können Pandas immer nur ein Junges aufziehen.
Anfangs starben noch zwei Drittel der Jungen
Lange Jahre wusste man in Wolong zu wenig von der Ökologie der Tiere und hielt die Pandas unter schlechten Bedingungen: in dunklen kleinen Käfigen oder tristen Freilaufgehegen. So starben Anfangs noch bis zu zwei Drittel der Jungen. Die weltweite Unterstützung, vor allem die intensive Kooperation mit US-amerikanischen Zoos, führte zu besseren Pflege- und Fütterungsmethoden. Seit 1998 müssen Tierparks, die Pandas leihen wollen, sich als Partner am chinesischen Schutzprogramm beteiligen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Bestand im Zuchtzentrum deshalb verdreifacht. Eine weitere Steigerung schafften die Forscher mit dem Zwillingstausch. Werden zwei Junge auf einmal geboren, so wachsen sie abwechselnd in der Obhut der Mütter und der Pfleger auf. So akzeptieren Weibchen beide Babys. 2005 wurden in Wolong 16 Junge geboren, die im Panda-Kindergarten prächtig weiter gedeihen.
"Wir müssen es holen", ruft Tang, "sie wird es verletzen." Nach zehn Prozent der Geburten töten Pandamütter - meist versehentlich - ihr Junges. Eine Pflegerin nähert sich Ye Ye. Sie schirmt ihr Kind mit dem Körper ab, stößt mit der Pranke nach der Frau, die sonst ganz nahe kommen darf. "Nehmt mir mein Kind nicht weg!", scheint jede Faser ihres Körpers zu schreien. Doch nach einem unachtsamen Moment der schwerfälligen Bärin strampelt das nackte Wesen in der Hand der Pflegerin. Sie legt das Tierchen in eine Plastikwanne unter weiche Tücher und läuft damit zur Neugeborenenstation. Dort arbeiten Spezialisten hinter Schaufensterglas in sterilen Kitteln rund um die Uhr. Körpercheck: männlich, atmet, keine Verletzung. Waage: 185,3 Gramm. Daumen hoch: alles okay.
Leittier des Artenschutzes
Das Wachstum von Panda-Babys verläuft ungewöhnlich schnell. Ein weißer Flaum erscheint schon am ersten Tag. Nach sieben Tagen schwärzen sich die Öhrchen, nach zehn die Augenränder. Nach fünf Monaten lernt das Kleine allmählich, Bambus zu fressen. Die Bärin liegt auf dem Rücken, die Beine gespreizt, die Vorderpfote über den Augen. Gerade noch hat sie den Betonboden nach ihrem Baby abgesucht, hat gejammert und gerufen. Jetzt liegt sie da wie in ihr Schicksal gefügt. Im Überwachungsraum hat derweil eine Party begonnen, lautes Lachen, wieder gehen Zigaretten herum. Feldforscher Zhou Shi Qiang schlägt seinem Kollegen im weißen Kittel auf die Schulter. Ja, Tang, erneut eine glückliche Geburt, die elfte in diesem Jahr.
Leittier des Artenschutzes
Seit jeher galt der Panda in China als selten und kostbar. Jetzt aber ist er ein Leittier des Artenschutzes: Seine Popularität hilft Tierschützern, auch etwas für weniger attraktive Spezies zu tun. "Er repräsentiert die Zukunft", sagt der Wildhüter Zhou Shi Qiang. Wenn man den 2006 veröffentlichten Daten britischer und chinesischer Forscher glauben darf, die Exkremente gesammelt und die Unterschiede der Erbsubstanz analysiert haben, dann könnten heute bereits doppelt so viele Individuen im Freiland leben, als bisherige Schätzungen nahe legten. Ob allerdings freigelassene Pandas es schaffen, in der Wildnis zu überleben, weiß noch niemand. Denn außer Hunger und Mensch haben Pandas noch einen weiteren Feind: den Leoparden, der hier in den Wäldern jagt.
Der Sog der stillen Riesen
In der Zuchtstation sitzt der Cheftierarzt mit kleinen Augen im Überwachungsraum und erzählt, wie er sich, umgekehrt, manchmal in den Wald zurücksehnt, auf die andere Seite der Wissenschaft. Die ganze Nacht habe er bei Ye Ye gewacht. Die zweite Geburt war noch komplizierter. Wieder musste das Junge geborgen werden. Panda-Spuren zu folgen, das war für den Tierarzt als junger Wissenschaftler das Größte. Er erzählt von den zufälligen Begegnungen mit den stillen Riesen; von dem Sog, den sie auf ihn ausübten. Von der gelassenen Art, wie Buddha dazusitzen, versunken kauend in guter Balance, von der beinahe meditativen Ruhe, die sie auslösten. "Sie sind so geheimnisvoll", sagt Tang.
Ye Ye lehnt wieder an der Wand, den Kopf nach unten gebeugt. Eines der Jungen hat sie zurückbekommen – und angenommen. Es liegt an ihrer Zitze, gehalten von ihrer Tatze. Sie leckt es ab, es strampelt, sie hält es fester, rückt es wieder zurecht. Sie wärmt es mit ihrem Prankenfell, mit ihrem Atem, ihrem Wangenpelz. Sie schaukelt es, als würde sie es in den Schlaf wiegen. Wieder eine Geste, wie man sie sonst nur von Primaten kennt. Und wieder dreht sie den Menschen den Rücken zu.Einige Monate wird das Kleine bei ihr bleiben, dann langsam zum Training geführt, damit es, wenn alles gut läuft, in die Wälder gehen kann.