Der Vogelkundler Jens Hering will seinen Augen nicht trauen. Aber es ist keine Fata Morgana, die er in seinem Libyenurlaub erblickt. "Inmitten der Libyschen Wüste stehen auf einmal mehrere Hundert Weißstörche vor uns", sagt er, "und noch dazu Ende Dezember." Die Vögel befinden sich weit nördlich der Überwinterungsgebiete und fernab ihrer üblichen Flugrouten, die über Gibraltar oder die Sinaihalbinsel führen. Auf der Verbreitungskarte des Weißstorchs ist Libyen bislang ein großer weißer Fleck.
Aber die Stelle, an der die Vögel sich niedergelassen haben, ist ein besonderer Ort. Auf einem künstlich angelegten Feld bei Maknusa im Westen des Landes fahren stetig 500 Meter lange Sprenklerarme im Kreis und bewässern riesige Anbauflächen, die sogar auf Satellitenbildern gut zu erkennen sind. Diese "Grünen Kreise" sind ein ehrgeiziges Agrarprojekt des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gadhafi, die Sahara zum Leben zu erwecken.
Dort schaffen es über 600 Störche, heftigen Sandstürmen zu trotzen und extreme Temperaturschwankungen auszuhalten. Nachts ist es in der Wüste eiskalt, tagsüber herrschen selbst im Winter über 20 Grad Celsius.
Wasser wenigstens finden die Tiere reichlich: an den Bewässerungsanlagen. Dort sitzen viele der Vögel aufgereiht wie auf einer Perlenkette. Andere nutzen die Anlage als erfrischende Dusche in der Mittagshitze. Um sich zu ernähren, staksen die Tiere über die abgeernteten Felder auf der Suche nach Insekten oder kleinen Wirbeltieren.
Ob Störche auch im Sommer in Libyen vorkommen oder nur auf ihren Winterreisen? Die Antwort findet Jens Hering im folgenden Mai, als er mit einem befreundeten Vogelkundler die Oase Kufra im Südosten des Landes besucht.
Dort erstreckt sich eine der größten künstlichen Anbauflächen des Landes: Einst rasteten an dem Ort nomadische Beduinen. Inzwischen wohnen hier ganzjährig Störche, die ihr Nomadendasein aufgegeben haben.
Im gelben Wüstensand stehen die Tiere bei 50 Grad Celsius in der prallen Sonne und hecheln wie Hunde, um sich abzukühlen. Auf einem Strommast in der Nähe eines landwirtschaftlichen Betriebes nistet sogar ein Storchenpaar mit zwei Jungen.
"Mir ist völlig unklar, wie Störche es schaffen, in dieser lebensfeindlichen Umgebung Nachkommen aufzuziehen", sagt Hering, der schon weitere Reisen zu den ungewöhnlichen Wüstentieren geplant hat. "Auch die Sahara-Bauern sehen das als etwas Besonderes. Sie verehren den Storch fast wie ein heiliges Tier."