Ein Rentner erzählt aus seiner Kindheit in der Nachkriegszeit. Sein bester Spielgefährte war das Kaninchen, das im Hinterhof in einem kleinen Stall gehalten wurde. Eines Tages war das Kaninchen weg. Zum Mittagessen gab es an diesem Tag ausnahmsweise Fleisch. Während sich die Eltern auf das Festessen freuten, lief der Junge heulend auf sein Zimmer.
Wenn Kinder den Zusammenhang zwischen dem Fleisch, das sie essen sollen und den Tieren, die sie kennen, herstellen, geht ein Stück Unschuld verloren. Es ist ein schmerzlicher Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Von Geburt an kennen Kinder vorerst keine Grenze zwischen menschlichem und tierischem Leben. Diese wird ihnen erst beigebracht – sie ist also Teil des Sozialisationsprozesses. Unter dieser Prämisse stellt sich nicht mehr die Frage: „Was ist der Unterschied zwischen Menschen und Tieren?“, sondern „Wie wird dieser Unterschied hergestellt?“
Tiere als Teil der Gesellschaft
Wenn bei der ersten Frage noch Biologen und Philosophen um die Deutungshoheit ringen, fällt die zweite Frage klar in den Zuständigkeitsbereich der Soziologie.
Soziologen der Universität Hamburg haben sich zur Forschungsgruppe Group for Society and Animal Studies (GSA) zusammengeschlossen. Die meisten Forscherinnen und Forscher haben ihr Diplom- oder Magisterstudium gerade erst absolviert und kommen aus der Tierrechtsbewegung.
Das Thema ist nicht neu, aber es gewinnt an Dringlichkeit, nachdem es jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Birgit Pfau-Effinger, Leiterin der GSA, zeigt sich erstaunt darüber, dass das Thema nicht früher entdeckt wurde: „Es gibt zwar schon lange Umweltforschung, aber mit den Tieren, die ja viel näher an uns dran sind – schließlich gibt es in jedem dritten deutschen Haushalt ein Haustier – wollte sich lange niemand beschäftigen.“ Für Biologen ist es unstrittig, dass der Mensch ein Tier ist – so beginnt der Eintrag „Mensch“ auf der deutschen Wikipedia-Seite so: „Der Mensch ist innerhalb der biologischen Systematik ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Primaten“. Doch die alltägliche Unterscheidung zwischen Tieren und Menschen bleibt bestehen. Als Begründer dieses Denkens gilt der Philosoph der Aufklärung Descartes, der häufig für die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur sowie zwischen mechanischem Tier und rationalem, mit Geist ausgestattetem Menschen verantwortlich gemacht wird.
Unser ambivalentes Verhältnis zu Tieren
Descartes hat zweifelsohne die westliche Welt stark beeinflusst. Doch unsere Gesellschaft sieht Tiere nicht rein mechanisch, sondern weitaus differenzierter und widersprüchlicher. Bei der Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnis aus der Distanz, fällt auf, dass wir Tiere nicht ausschließlich als seelenlose Fleischlieferanten sehen, deren Leiden uns gleichgültig ist. Haustiere haben oft einen Status wie ein eigenständiges Familienmitglied, ihnen wird also ein Subjektstatus zugestanden. Mit einem Hund wird geredet, er wird bestraft und belohnt – kurz: er wird als handlungsfähiges Subjekt, als Gegenüber mit Geist und Seele behandelt und niemand würde in der westlichen Welt auf die Idee kommen, einen Hund zu verspeisen. Die menschlichen Züge, die wir in ihm erkennen, schützen ihn vor der Schlachtung.
Ein Schwein dagegen, ein erwiesenermaßen intelligentes und sehr emotionsbetontes Tier, wird als reines Nutztier gemästet und geschlachtet. Dabei hat ein Schwein gleich einem Hund ein Gesicht, einen Willen und Leidensfähigkeit. Trotzdem wird ihm kein Subjektstatus zugeschrieben. Das Gesicht des Schweins muss unsichtbar bleiben, sonst würden wir es als Subjekt wahrnehmen und Mitgefühl entwickeln. So macht es Sinn, dass Schlachthöfe häufig außerhalb der Sichtweite der Menschen stehen, die die geschlachteten Tiere essen sollen. Wir behandeln also nicht hoch entwickelte Tiere besser, sondern Lebewesen, die uns nahe stehen, in deren Gesicht wir schauen und auf deren Gestiken wir menschliche Gefühle projezieren können.
Die Grenze zwischen Menschen und Tieren ist demnach nicht nur eine erst im Sozialisationsprozess aufgebaute, sondern auch eine durchlässige. Sie hängt nicht von biologischen Fakten ab, sondern davon, wie sichtbar Tiere und ihre Emotionen für Menschen sind. Michael Fischer, Soziologe und Kriminologe, plädiert daher dafür, gedanklich feiner zwischen Tier und Mensch zu skalieren. Haustiere werden fast wie eigenständige Familienmitglieder betrachtet und steigen somit auf der Skala auf.
Der Gedanke klingt neu, wurde dennoch schon in fast allen Momenten der Geschichte gelebt. Allerdings in Bezug auf Menschen, denen kein Subjektstatus zugestanden wurde. Etwa leben einige Naturkundemuseen mit dem schweren Erbe, Leichen von Ureinwohnern in ihrem Archiv zu besitzen, die vor noch nicht allzu langer Zeit wie Tiere ausgestopft und ausgestellt wurden. Frauen wurden gleichfalls im Bereich der Natur eingeordnet und genossen als „unvernünftige Wesen“ keinen eindeutigen Subjektstatus. Sklaven ebenso – und diese Tradition ist keinesfalls auf Descartes zurück zu führen, sondern reicht bis in antike Gesellschaften zurück.
Nutzbarmachung ist Ausbeutung
Wann die Ausbeutung von Tieren genau begann, ist ein streitbarer Punkt. „Gewalt gegen Tiere liegt schon bei einer Jagd vor, systematische Ausbeutung dagegen begann erst mit der Domestizierung von Haus- und Farmtieren“, meint Julia Gutjahr, Mitbegründerin der GSA. Ausbeutung besteht demzufolge nicht nur im Akt der Tötung, sondern der Nutzbarmachung allgemein. Nach dieser Definition ist eine „artgerechte Haltung“ keine Abschaffung von Ausbeutung, denn die Lebens- und Todesumstände der Tiere werden nach wie vor von Menschen bestimmt. Wenn Tiere Eigentum von Menschen sind, wenn ihre Misshandlung im deutschen Recht in bestimmten Fällen immer noch als „Sachbeschädigung“ gilt, sind die ethischen Bedenken und die biologische Unkorrektheit dieser Bewertungen offensichtlich. Das Recht ignoriert die Biologie und „die Biologie trägt ihre Kenntnisse nicht in die Gesellschaft“, kritisiert Birgit Pfau-Effinger.
Die Tierrechtsbewegung
An diesem Punkt setzt die Tierrechtsbewegung an. Wie die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA und die Frauenbewegung sind es Gruppierungen in nur losen Verbindungen zu Hochschulen, die die Debatte in Schwung gebracht haben. Nun ist es an den Universitäten, das Thema zu vertiefen und weiter in die Gesellschaft zu tragen. Dabei geht es Tierrechtlern und Tier-Mensch-Forschern nicht darum, Fleischessen zu verdammen, sondern das Nachdenken über unser ambivalentes Verhältnis zu Tieren zu fördern.
Die Reduktion des Fleischkonsums ist ein erster Schritt. Buddhistisch oder hinduistisch geprägte Länder zeigen, dass ein Leben mit sehr geringem Fleischkonsum möglich sind. In Indien isst schätzungsweise nur die Hälfte der Bevölkerung Fleisch. Genaue Erhebungen gibt es nicht, ebenso wenig zum Vegetarier- und Veganer-Anteil in Deutschland.
Über den Konsum von Tieren wird intensiver nachgedacht als über ihre Arbeitsleistung zum Aufbau unseres Wohlstands: Einer der wenigen Philosophen, der diesen Aspekt thematisierte, war der Theoretiker der Frankfurter Schule Max Horkheimer. „Er benutzte die Metapher des Wolkenkratzers für die Gesellschaft. In ihr sind die Tiere im Keller verortet, wo sie unter elendigen Bedingungen als Ausgebeutete das Fundament des Wolkenkratzers tragen“, erläutert GSA-Mitbegründer Marcel Sebastian eine der ersten soziologischen Annäherungen an das Thema vor über 40 Jahren.
Heute beginnt die Debatte in der medialen Öffentlichkeit. Doch solange sich die Debatte auf den Fleischkonsum beschränkt, bleibt der Anteil, den Nutztiere zu unserem Wohlstand beitragen, unberücksichtigt. Dabei wären Nutztiere in unserer postindustriellen Zeit verzichtbar, ohne dass es große Einschränkungen in unserer Lebensqualität gäbe. Und eine Reform des Rechtsstatus von Tieren wird in den nächsten Jahren unumgänglich sein. In der Schweiz gab es etwa schon einen Anwalt für Tiere. Es ist nur einer der kleinen Schritte, den Umgang mit unserer Lebenswelt zu überdenken und neu zu erfinden. Aber definitiv ein notwendiger.