Die Wildnis kehrt nach Europa zurück, doch sie tut es nicht von allein. Der Mensch hilft nach - insbesondere Naturschützer, die in Europa seit Jahrzehnten für bedrohte Arten kämpfen. Gelege bewachen, Bestände zählen oder Jungtiere auswildern. Ohne dieses Engagement könnten sich verloren gegangene Wildtiere kaum wieder ausbreiten.
Das wilde Europa hat auch einen politischen Rahmen: Jagdverbote, Schutzgebiete und Wiederansiedlungen, die Staaten auf den Weg gebracht haben - und damit die Europäische Union zu mutigen Gesetzen inspirierten. Den Anfang machte die EU mit der Vogelschutz-Richtlinie, die eine Antwort auf die Vogeljagd in Südeuropa war. Als sie 1979 in Kraft trat, unterlagen mit einem Mal alle europäischen Vogelarten einem Jagdverbot, das nur wenige Ausnahmen kennt.
Für 160 besonders gefährdete Vogelarten mussten die EU-Länder Schutzgebiete ausweisen - Grundlage dafür, dass die Bestände von Seeadler (Haliaeetus albicilla), Rohrweihe (Circus aeruginosus) oder Schwarzstorch (Ciconia nigra) gewachsen sind, wie Studien von Birdlife International zeigen. "Die Richtlinie war ein Riesenerfolg. Und sie ist es heute noch, denn die Vogelwelt der neuen EU-Staaten hat besonders stark von ihr profitiert", sagt Lasse Laine, europaweit bekannter Ornithologe aus Finnland.
Durch EU-Gesetze wurde in den 1970er und 80er Jahren die Luft sauberer, erholten sich Flüsse und Seen, sank der Chemikalien-Einsatz in Landwirtschaft und Industrie. Fischbestände nahmen daraufhin zu, und Greifvögel brachten wieder mehr Nachwuchs durch.
Neuer Lebensraum für Wolf, Biber und Co.
Der größte Gesetzes-Coup gelang 1992: Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) hält Staaten dazu an, Schutzgebiete für gefährdete Lebensräume und Arten auszuweisen, darunter auch Wildtiere wie Biber (Castor fiber), Fischotter (Lutra lutra), Luchs (Lynx lynx) oder Wolf (Canis lupus). Dafür können die Länder bestehende Schutzzonen angeben, wenn diese geforderten Kriterien entsprechen. Meist müssen sie aber zusätzliche Gebiete ausweisen, wodurch bedrohte Arten viele neue Rückzugsräume erhalten.
Die FFH-Richtlinie stellt außerdem 234 bedrohte Pflanzen- und Tierarten, darunter alle großen Raubtiere sowie Wisent (Bison bonasus), Alpensteinbock (Capra ibex) und Biber, unter Artenschutz, der überall in der EU gilt. Und immer wieder dafür sorgt, dass Gewerbegebiete oder Autobahnen neu geplant werden müssen, wie etwa in Polen, wo 2008 die vorgesehene Trasse durch das geschützte Rospuda-Tal nach Protesten verlegt wurde.
Viele Länder mussten wegen der FFH-Richtlinie Jagdverbote erlassen. Für die neuen EU-Staaten galt mit dem Beitritt quasi über Nacht ein zumeist sehr viel strengeres Naturschutzrecht, das die Fauna effektiv schützt - auch mit Gerichtsurteilen. Jeder vierte Fall, in dem die EU-Kommission ein Land vor den Europäischen Gerichtshof bringt, ist ein Verstoß gegen die Naturschutz-Richtlinien.
Bei manchen Ländern liegt das an mangelnden Kapazitäten: "In Osteuropa gibt es in der Verwaltung teils zu wenig Geld und Personal, um die EU-Vorgaben zu erfüllen", sagt Professor Christoph Knill, Umweltpolitik-Forscher von der Universität Konstanz (Deutschland). In den großen Ländern fehlt der Wille: Nachdem die EU-Kommission mit einer Klage gedrohte hatte, meldete Deutschland 2008, mit zehnjähriger Verspätung, seine letzten Schutzgebiete nach Brüssel.
Mittlerweile haben fast alle Staaten ihre Vogelschutz- und FFH-Gebiete eingerichtet; 26.000 Refugien, die zusammen das Netzwerk "Natura 2000" bilden und 18 Prozent der EU-Landesfläche erfassen. Es ist der größte Biotop-Verbund weltweit und ein Vorzeigestück der EU-Politik, wie auch kritische Umweltverbände meinen.

Alle Natura 2000-Gebiete brauchen Management-Pläne, die unter anderem festlegen, wie ein stabiler Bestand für eine Art erreicht wird. Eine Statistik gibt es nicht, aber laut Birdlife International liegen erst für ein Fünftel der Areale Schutz-Konzepte vor. "Das muss schneller gehen", kritisiert Claus Mayr, der im Büro von Birdlife International die EU-Naturschutzpolitik seit 1992 verfolgt. Frankreich, Großbritannien und die Niederlande kommen gut mit den Plänen voran, viele Staaten wie etwa Deutschland hinken hinterher. Die EU-Länder haben 2011 eine Strategie zur biologischen Vielfalt beschlossen. Darin sichern sie zu, bis 2020 ihre Naturschutz-Richtlinien "vollständig" umzusetzen - und damit auch alle Management-Pläne fertiggestellt zu haben.
Etwa sechs Milliarden Euro jährlich sind nötig, um die Pläne auszuarbeiten und umzusetzen, hat eine EU-Arbeitsgruppe ausgerechnet. "Die vorhandenen Mittel sind dagegen beschämend", sagt Claus Mayr. Rund 330 Millionen Euro stellt der EU-Umweltfonds "Life+" jährlich für Natur- und Artenschutzprojekte bereit.
Mit den bescheidenen Zuschüssen konnten nationale Verbände und Behörden zumindest Schlaglichter setzen: In Frankreich und Italien klärten Naturschützer über die Rückkehr von Wolf und Braunbär (Ursus arctos) auf und schafften so mehr Akzeptanz bei Bauern und in der Bevölkerung. Und in der Slowakei iso-lierte die Greifvogel-Initiative Hochspannungsleitungen, um den Östlichen Kaiseradler (Aquila heliaca) vor tödlichen Stromschlägen zu schützen. Schwarzstörche in Estland, Lachse (Salmo salar) in Schottland oder Unechte Karettschildkröten (Caretta caretta) im griechischen Meer - die EU-Gelder kommen verschiedensten Arten zugute. Und Lebensräumen wie Dünen und Sümpfen in Finnland, Steppen und Salzmarschen in Ungarn oder dem Donaudelta in Rumänien.
Trotz aller Anstrengungen: Der Artenschwund geht weiter
Gelder fließen auch in Studien und Workshops, mit denen die EU Konflikte entschärfen will, die durch die Rückkehr der großen Räuber auftreten. Sei es der Braunbär, der in den italienischen Abruzzen Schlagzeilen macht, oder der Wolf: EU-Umweltkommissar Janez Potočnik hat Schweden im Januar 2011 mit einer Klage gedroht, weil das Land die Wolfsjagd ausgeschrieben hat. In Finnland geht der Bestand schon wieder zurück, wohl wegen Wilderei, wie eine Studie des finnischen Instituts für Wild- und Fischereiforschung belegt.
Die Rückkehrer sind schon wieder bedroht. Und trotz erfolgreicher Projekte und manch wiederkehrender Arten geht es Europas Fauna, insgesamt betrachtet, nicht besser: Ihr Ziel, den allgemeinen Artenschwund bis 2010 zu stoppen, hat die EU verfehlt. Jetzt will sie es bis 2020 schaffen. Helfen sollen dabei auch Wildnisgebiete, die in der Strategie zur biologischen Vielfalt von 2011 erstmals genannt werden. 15 Prozent der geschädigten Ökosysteme sollen bis 2020 in ihren alten Zustand versetzt werden - damit wird die Wildnis zu einem neuen Faktor in der EU-Naturschutzpolitik.
Initiativen wie "Wild Europe" machen darauf aufmerksam, dass neue Wildnis-Areale dabei helfen könnten, die bestehenden EU-Schutzgebiete besser zu vernetzten. "Derzeit sind viele EU-Schutzgebiete Inseln. Das ist ein Problem gerade für wandernde Arten, deren Genpool sich dadurch nicht optimal mischt", erklärt Claus Mayr. Die EU-Kommission hat die Staaten aufgefordert, mehr für die Vernetzung zu tun. Dafür müssen sie Flüsse renaturieren oder Grünbrücken bauen, auf denen Wölfe und Luchse Straßen überqueren können. Im Zuge der Finanzkrise haben viele Länder ihre Mittel für solche Hilfen allerdings gekürzt.
Deshalb kämpfen die Verbände derzeit bei den Haushaltsverhandlungen für neue Mittel. Der Naturschutz soll zwischen 2014 und 2020 etwas mehr bekommen, so viel ist schon klar. Doch es geht um mehr: Bis Ende 2012 laufen die Debatten um die Reformen der Agrar- und Fischereipolitik, die beide ökologischer werden sollen. Wird die EU ihre Zusage einhalten und umweltschädliche Agrar-Subventionen abschaffen - auch damit es Feldbewohnern wie Rebhuhn (Perdix perdix) und Feldhase (Lepus europaeus) besser geht? Wird sie festlegen, dass die Fischereiquoten endlich den wissenschaftlichen Empfehlungen folgen?
Claus Mayr ist vorsichtig optimistisch: "Die Kommission hat gute Ansätze. Es kommt eben darauf an, wie viel die EU-Staaten davon zulassen. Darauf, wie viel Natur sie letztlich wollen."