Federleichte Kraftprotze Das erstaunliche Leben der Kolibris
Vor allem anderen sind Kolibris: Poesie der Natur und technischer Superlativ der Schöpfung. Sie sind die Kleinsten im Vogelreich: Eine Art namens Bienenelfe misst, mitsamt dem Schnabel und den Schwanzfedern, etwa sechs Zentimeter und wiegt kaum zwei Gramm – halb so viel wie eine Zehncentmünze. Kolibris können wie ein Hubschrauber in der Luft stehen, im Sturzflug er reichen sie fast 100 Stundenkilometer, sie vollführen Flugmanöver, so wendig, so blitzartig, wie es wohl keinem anderen Wirbeltier gelingt – als einzige Vogelfamilie inklusive Rückwärtsflug. Und Arten wie die Violettkronennymphe – ein fliegendes Juwel – gehören zu den schönsten Gefiederten überhaupt.
Dank neuer Technik sind Forscher den Geheimnissen der Kolibris auf der Spur. Mit Hochfrequenzkameras etwa lassen sich jene Flugtechniken erkennen, die sonst in ihrer wirbelnden Geschwindigkeit dem menschlichen Auge verborgen blieben. Und sogar die Schönheit der Kolibris lässt sich erklären; sie ist keineswegs eine bloße Laune der Natur. Doch dazu später.
Bis zu 80 Mal schlagen die Kolibriflügel in der Sekunde, an die 250 Mal pocht das winzige Herz einiger Arten pro Minute beim Rasten, 1200 Mal und mehr im Schwirrflug. Die scheinbar unbeschwerte Flitzerei zählt zu den kraftraubendsten Aktivitäten im Tierreich. Noch so ein Superlativ.
Eine Biologin hat errechnet, dass ein Mensch, würde er sich vergleichbar verausgaben, 300 Hamburger am Tag essen müsste. Kolibris beziehen ihre Energie vor allem aus Blütennektar. Täglich schleusen sie etwa das Dreifache ihres Eigengewichts durch den Minikörper.
Dabei verbrennen sie einen großen Teil dieses Treibstoffs, noch während sie ihn gewinnen. Auf der Stelle zu fliegen ist nämlich weitaus aufwendiger, als blitzschnell durch die Luft zu sausen. Und um Zuckerwasser aus Kelchen zu schlürfen, müssen die Kolibris in der Luft stehen, wie Nachtfalter vor der Blüte. Energetisch betrachtet ist das so, als würde man beim Tanken Vollgas geben.
Reserven bilden die meisten Kolibris kaum, jedes Fettpölsterchen muss schließlich mitgeschleppt werden. Andererseits können wandernde Arten vor dem Flug in die Brut- oder Überwinterungsgebiete in kurzer Zeit ihren Fettanteil verdoppeln. So ausgestattet, schafft zum Beispiel der Rubinkehlkolibri sogar eine 3000-Kilometer-Reise nonstop, inklusive der 1000 Kilometer über den Golf von Mexiko. Und trotzdem: Die Energiebilanz der Kolibris ist bis ans Limit optimiert. Was allerdings bedeutet, dass der Hochleistungsorganismus pausenlos Treibstoff benötigt. Zwei Stunden ohne Zucker, und um den Vogel ist’s geschehen. Er verhungert. Ein Leben konstant im Grenzbereich, im festen Vertrauen dar auf, dass die Natur just in time für Nachschub sorgt.
Woher aber nehmen Kolibris dann die Kraft, Nachwuchs großzuziehen? Und: Wie überleben sie die Nacht? Das sind Fragen, auf die sich in freier Natur nur schwer Antworten finden lassen. Es ist kaum möglich, den winzigen gefiederten Blitzen im Nebelwald zu folgen. Der Weltvogelpark im niedersächsischen Walsrode ist einer der wenigen Orte, an denen die schwierige Haltung und sogar die Zucht der Kolibris routinemäßig gelingt. In den Glasvolieren des Kolibrihauses herrschen tropische Temperaturen.
Nähert man sich der Scheibe, dann tauchen die Vögel auf wie aus dem Nichts. Man sieht sie nicht kommen, das menschliche Auge ist zu träge, um die Kolibribewegungen aufzulösen. Die schlagenden Flügel: lediglich ein verwischter Grauschleier. Aber hören kann man sie, die Flügel knattern wie Flaggen im Wind, wenn auch ganz leise.
Kolibris führen ein Einzelgängerdasein; auch im Walsroder Park hat jedes Exemplar seine eigene Voliere. Sie würden sich auf jeden Konkurrenten stürzen, der sich in ihr Territorium wagte. Draußen in der Natur wachen sie eifersüchtig über rund 200 Blüten in ihrem Reich. Zwischen ihnen schießen die Vögel hin und her – wobei sie offenbar genau wissen, welche Kelche sie kürzlich leer geschlürft und welche bereits wieder Nektar gebildet haben.
Zweimal täglich stehen Pfleger in Walsrode in der blitzsauberen Kolibriküche, rühren einen Cocktail aus Glukose, Fruktose und Saccharose an und füllen ihn in Trinkkanülen. Über den Konsum jedes ihrer etwa hundert Schützlinge führen sie genau Buch. In der Regel trinkt ein Kolibri täglich 15 Milliliter. Abweichungen sind entweder Anlass zur Sorge. Oder Zeichen dafür, dass ein Weibchen mit der Brut begonnen hat.
Um halb sieben am Abend beginnt ein Ritual, das die Tiere sicher durch die Nacht bringen soll: Das Licht wird stufenweise heruntergedimmt. Die Temperatur im Kolibrihaus sinkt, die Luftfeuchtigkeit steigt, von 60 auf 80 Prozent. Es ist die technische Simulation einer anbrechenden Tropennacht.
Für Kolibris sind diese Umweltveränderungen untrügliche Signale. Sie setzen sich auf einen Zweig und fallen in einen Zustand, den die Biologen „Torpor“ nennen: Die Herzfrequenz der Vögel, besonders jener aus kühleren Bergregionen, sinkt von mehreren Hundert auf 40 Schläge pro Minute oder weniger, ihre Körpertemperatur fällt von 42 auf 13 Grad-Celsius, wie beim Rubinkehlkolibri. Insgesamt verbraucht der Organismus in diesem nächtlichen Ruhemodus nur noch ein Zehntel der Energie, die er während der Tagstunden verheizt.
Ein Schreck allerdings, und der Organismus fährt wieder hoch. Nach rund 20 Minuten läuft der Turbo-Stoffwechsel dann erneut auf Touren, was fatal ist, denn in der Dunkelheit kann der Vogel seinen Schnabel nicht in einen Blütentrichter einfädeln. Im Kolibrihaus brennt deshalb bis zum Dämmern jedes neuen Morgens ein fahles Licht. In dessen Schein die Trinkkanüle zu finden stellt für einen jäh erwachten Kolibri die einzige Chance dar, dem Hungertod zu entrinnen.
Unter freiem Himmel wäre der Mondschein seine letzte Hoffnung.
Rund 340 Kolibriarten leben auf dem amerikanischen Kontinent, vor allem im Süden. Entdeckt wurden die meisten Spezies im 19. Jahrhundert. Regelrecht vernarrt in die Winzlinge war ein britischer Ornithologe namens John Gould. Obsessiv sammelte er die exotischen Vögel, die Forscher und Händler zu Abertausenden von ihren Reisen heimbrachten.
Auf ihre komplizierte Haltung verstand sich damals niemand. Aber Kolibris sind noch im Tode herzzerreißend schön. 1500 ausgestopfte Kolibris präsentierte Gould in einem eigens errichteten Pavillon im Londoner Zoo. Während die viktorianische Gesellschaft sich an der schimmernden Pracht der Gefieder ergötzte, trieb deren Schönheit ein Genie zur Verzweiflung: Charles Darwin.
Ihm würde beim Anblick eines Pfauenschwanzes schlecht, bekannte der Naturforscher; gleiches galt für die bunten, wie Perlmutt glänzenden Kolibrikleider. Darwins Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ war da gerade erschienen. Nach seiner Theorie der natürlichen Auslese lassen sich Merkmale jeweils als Anpassung zugunsten einer höheren Überlebenstauglichkeit deuten.
Auch Pracht, logisch, kostet. Das passte nicht in das gerade frisch entworfene Bild einer Natur, die beständig die Kosten eines neuen Merkmals gegen dessen Nutzen abwägt, auswählt und verwirft.
Tatsächlich aber, so die Erkenntnisse der modernen Biologie, sind Kolibris in vielerlei Hinsicht Paradebeispiele für das Wirken der Evolution. Ein absurd geschrumpfter Vogel, der wie eine Hummel fliegt, weil er sich einer eigentlich für Insekten bestimmten Umwelt angepasst hat. Denn das Blütennektarangebot richtet sich ja ursprünglich an Insekten; Pflanzen locken sie an, um ihnen ihre Pollen mit auf den Weg zu geben. Über Jahrmillionen morphte im Fall der Kolibris ein Vogelbauplan immer mehr zum Bauplan eines Insekts. Einen großen Vogel machen die Nektarpfützen in Blütenkelchen kaum satt; Kolibris wurden daher im Laufe der Evolution kleiner und kleiner und lernten, wie Insekten zu fliegen.
Aber welchen Reim sich Biologen heute auf die Schönheit machen? Einen Hinweis darauf findet man in Walsrode.
Kolibris ernähren sich nicht vom Nektar allein. In jeder Voliere steht ein Eimer mit gammeligen Bananen, Brutstätte für winzige Fruchtfliegen, von denen die Kolibris rund 1000 pro Tag verputzen. In freier Natur fangen sie kleine Insekten und Spinnen. Weibchen benötigen die Proteinnahrung vor allem, um Eier zu legen und ihre Jungen großzuziehen.
Dass die Brutzeit begonnen hat, können die Pfleger im Weltvogelpark daran ablesen, dass der Nektarkonsum eines Kolibris rapide sinkt – im Nest zu hocken verbraucht nicht viel Energie. Jedes Gelege umfasst zwei Eier, klein wie Erbsen. Nach 15 bis 18 Tagen schlüpfen die Jungen. Von diesem Zeitpunkt an explodiert der Zuckerbedarf des Weibchens manchmal auf das Zehnfache seines Eigengewichts. Es muss nun mit Nektar, aber auch mit Fruchtfliegen den Nachwuchs päppeln.
Und die Kolibrimännchen? Sie beteiligen sich nicht an der Brutpflege. Fruchtfliegen fressen sie trotzdem. Daraus entsteht ein Überschuss an Energie. Die Männchen investieren ihn in spektakuläre Balzflüge. Und in prächtiges Gefieder.
Ihre Schönheit dient offenbar hauptsächlich dazu, das Ansammeln von Körpermasse zu unterbinden, wie ein Ventil, das überschüssige Energie ableitet. Denn ein dicker Kolibri wäre undenkbar. Er könnte schließlich niemals seine akrobatischen Flugmanöver ausführen.
Die verschwenderisch anmutende Pracht der Kolibris: Sie ist eine schöne, schlaue Überlebensformel der Evolution.

GEO-Reporterin Anke Sparmann (Foto) verblüfften die Stoppmanöver der Kolibris. Sie bremsten im Flug so jäh ab, als wären sie gegen eine Scheibe geprallt. Fotograf Ingo Arndt war erstaunt, wie aggressiv sich die bunten kleinen Prachtvögel um jede Blüte zankten.