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Schmerz-Versteher im Porträt Justin Schmidt erforscht die schlimmsten Insektenstiche - am eigenen Leib

Robert Clark
Tarantulafalke, Schmerzstärke 4,0. Was tun, wenn man von ihm gestochen wird? Schmidts Rat: "Lege dich hin und schreie"
© Robert Clark/GEO
Justin Schmidt ließ sich von Dutzenden Insekten stechen. Doch wo wir »Autsch!« rufen, wird Schmidt zum Dichter: Die Pein inspiriert den Insektenforscher zu Poesie. Im Schmerz spürt er zudem den Wandlungen der Evolution nach

Wir haben uns gerade erst kennengelernt, da beklagt sich Justin Schmidt bereits über den Mangel an insektenbasierten Initiationsriten in unserer Gesellschaft. Er erzählt vom Volk der Sateré-Mawé im Nordwesten Brasiliens, das eine Zeremonie abhält, bei der junge Männer ihre Hände in große Handschuhe voller Tropischer Riesenameisen stecken.

Deren Stiche sind so qualvoll, dass sie zu kurzzeitigen Lähmungen führen können. Schmidt glaubt, dass wir davon etwas lernen könnten. Der Insektenforscher ist Fachmann für Hautflügler - Wespen, Bienen, Ameisen.

Aber er hat auch zwei Söhne im Teenageralter, und zumindest an diesem Morgen denkt er laut darüber nach, ob ein Schmerzritual ihnen nicht helfen würde, erwachsen zu werden. "Ich meine, es würde sie nicht umbringen", sagt Schmidt. "Das könnte das Entscheidende an der Sache sein: Es kann dich nicht töten, und trotzdem passiert etwas sehr Wirkliches mit dir."

Der 69-jährige Justin Schmidt hat den Kopf voller roter Haare, die nicht grau werden wollen, und ein jungenhaftes Gesicht, in dem Übermut flackert. Er weiß, wovon er spricht: In seinem jüngsten Buch "Der Stachel der Wildnis: Die Geschichte des Mannes, der sich im Dienst der Wissenschaft stechen ließ" ("The Sting of the Wild: The Story of the Man Who Got Stung for Science") verwebt er seine Theorien über stechende Insekten mit persönlichen Erfahrungen.

Für viele Leser wird der Höhepunkt des Buches der Anhang sein: Schmidts berühmte Schmerzskala für stechende Insekten. Sie basiert größtenteils auf seinem eigenen Erleben. Weil er bei seiner Forschung zufällig gestochen wurde – und in einigen Fällen, weil er es darauf angelegt hat.

Die Skala reicht von 0 (schmerzlos) bis 4 (extrem schmerzhaft) und besticht vor allem durch die poetische Wucht der Beschreibungen:

  • Maricopa-Knotenameise, Schmerzgrad 3: "Nachdem du acht Stunden lang unerbittlich in deinen eingewachsenen Zehennagel gebohrt hast, verkantet sich der Bohrer im Zeh."
  • Termitenjäger-Ameise, Schmerzgrad 2: "Der lähmende Schmerz einer Migräne, konzentriert in deiner Fingerspitze."
  • Keulenwespe, Schmerzgrad 0,5: "Enttäuschend. Eine Büroklammer fällt auf deinen nackten Fuß."

Polistes erythrocephalus, eine 3 auf der Skala, beschreibt Schmidt so: „Näher wirst du aus dem Inneren eines Feuers heraus nie dem Anblick des Blauen in der Flamme kommen.“ Die überraschende Poesie führt einen wortgewaltigen Beweis: dass wir einen Zugang finden können zu den uralten Geheimnissen der Insekten.

Kommunikation in der Sprache des Schmerzes

Mit seiner Schmerzskala bringt Schmidt die Welt der Menschen und die Welt der Insekten näher zusammen. Oder vielmehr: Er zeigt, dass sie bereits ständig miteinander kommunizieren. In der Sprache des Schmerzes.

Schmidt nimmt seine Rolle als wissenschaftlicher Stuntman an, weil er die Menschen mit seinen geheimnisvollen Studienobjekten bewegen will. Trotzdem hätten die meisten zu viel Angst. Diese Furcht, sagt Schmidt, zeige unser langes, kompliziertes Verhältnis zu diesen Wesen: Wir sind Jäger, und Insekten sind eine besonders gewitzte und kreative Beute.

Wenn er sich lebhaft an einen bestimmten Stich erinnert, Jahrzehnte nachdem der Schmerz nachgelassen hat, dann spinnt er nicht nur Forschergarn. Er belegt seine Theorie, wie der Schmerz eines Stichs funktioniert: als Abschreckung, an die sich ein Fressfeind ein Leben lang erinnern wird.

Justin Schmidt studierte zunächst Chemie, merkte dann aber, dass er „weder Chemiker noch den Geruch von Chemielaboren besonders mochte“. Als er Pogonomyrmex-Ameisen sammelte, um die Zusammensetzung ihres Gifts zu studieren, stachen sie ihn. Der Schmerz nahm über mehrere Stunden zu und unterschied sich von allem, was er bis dahin erlebt hatte. Schmidt war fasziniert.

In seinem VW-Bus machte er sich auf den Weg quer durch Amerika, um Exemplare aller heimischen Arten von Knotenameisen zu sammeln: Nach den zufälligen Stichen wollte er diesmal die verschiedenen Arten Schmerz aufzeichnen, die ihm im Feld begegnen würden.

Was ein Stich im Körper anrichtet, lässt sich chemisch bestimmen, indem man das Gift analysiert.

Das Melittin einer Honigbiene etwa verursacht einen lokal begrenzten Schmerz – ein hitzeähnliches Gefühl, das durch die Zerstörung von Zellen entsteht –, doch es gelangt auch zum Herzen. Wenn genug Bienen ein Opfer stechen, wird das Melittin sein Herz zum Stillstand bringen.

„Schmerz ist das Warnsystem des Körpers, dass ein Schaden aufgetreten ist, gerade auftritt oder auftreten wird“, erklärt Schmidt. „Aber Schmerz ist nicht dasselbe wie Schaden.“ Der Stich des Tarantulafalken, einer amerikanischen Wespe, ist wesentlich schmerzhafter als der einer Honigbiene, hinterlässt aber keinen bleibenden Schaden. Zu verstehen, wie giftig ein Stich ist, erklärt nicht vollständig, wie er als Abwehrmechanismus funktioniert.

Um weiterzukommen, musste der Forscher eine Sprache für den Schmerz erfinden: Die schmidtsche Schmerzskala für stechende Insekten war geboren. Er nutzte seine eigenen Erfahrungen und gelegentlich die Aussagen von Kollegen und entwickelte eine Skala von 0 bis 4.

Den Stich der Honigbiene machte er zum Bezugswert, definiert als Schmerzgrad 2. Die Skala würde ihm erlauben, Stiche zu vergleichen, Hypothesen zu testen und Theorien zur Rolle des Stichs in der Entwicklungsgeschichte der Insekten zu formulieren.

Das Vorgehen ist nicht besonders wissenschaftlich. Schmidts Stichprobengröße ist winzig. Er berücksichtigt weder das Alter des Opfers noch die gestochene Körperstelle. Selbst unter den besten Umständen ist Schmerz berüchtigt dafür, wie schwer er objektiv zu beurteilen ist.

Aber die Skala war ein nützlicher Anfang. Sie half Schmidt, seine Hauptthese zu erklären: dass die Entwicklung hochgiftiger Stiche entscheidend war für den Übergang der Insekten von einem einzelgängerischen Leben zur Staatenbildung.

Frühe Insekten besaßen keine giftigen Stiche; sie brauchten sie als minderwertige Beute nicht. Einzelgängerischen Insekten und ihren Nachfahren wie dem Tarantulafalken genügte ein äußerst schmerzhafter, aber für größere Tiere ungefährlicher Stich, um Räuber abzuschrecken.

Doch etwa zur selben Zeit, als Insekten begannen, Staaten zu bilden, rüsteten sie ihre Verteidigung auf. Ihre Bauten sind gefüllt mit zarten, nahrhaften Larven und manchmal auch mit Honig. Ein lohnendes Ziel, das hoch motivierte Räuber anlockt. Also setzten sich evolutionär jene Arten durch, deren Stich nicht nur wehtat, sondern potenziell tödlich war. Der Schmerz durch den Stich eines sozialen Insekts, sagt Schmidt, „war mehr als nur ein Werbeversprechen – er sagte die Wahrheit“.

In Justin Schmidts Arbeit gab es immer eine anarchistische Komponente

Als ich Schmidt in Tucson treffe, komme ich gerade aus Mexiko zurück, von einer Expedition mit einer großen Gruppe Biologen in die Sonora-Wüste. Schmidt hatte sich wegen einer Grippe abgemeldet. Zunächst war ich enttäuscht, dass er nicht teilnehmen konnte. Aber ich merkte, dass seine Abwesenheit auch Vorteile hatte: Ohne ihn konnten seine Kollegen ungestört über ihn tratschen.

„Oh, Schmidt?“, hatte Bob Johnson gesagt, ein Spezialist für Ameisen. „Ich würde sagen, der Typ ist vielleicht einmal zu oft gestochen worden.“ John Palting, ein Mottenexperte, erinnerte sich lachend, wie er Schmidt im Feld beobachtet hatte. „Man ist an ihm vorbeigelaufen, und er machte so“, Palting tat, als würde er sich mehrfach ins Handgelenk stechen, „und man sagte: ,Junge, mach langsam! Wir sind hier im Nirgendwo. Wenn du darauf schlecht reagierst, trage ich dich nicht hier heraus.‘ “

Obwohl er 25 Jahre lang für das Bienenforschungszentrum des US-Landwirtschaftsministeriums gearbeitet hat, gab es in Justin Schmidts Arbeit immer eine anarchistische Komponente. Wissenschaft für die Regierung, fand er, wurde bestimmt von den Interessen der Industrie – von Imkern bis zu großen Herstellern von Pestiziden – und widersprach oft dem, was er für gute Forschung hielt.

Für seine Arbeit an stechenden Insekten, die keine Bienen sind, gab es wenig Interesse und keine Unterstützung. So tat Schmidt alles, um seine unabhängige Forschung weiterzutreiben: Er reparierte seine Autos selbst, vermied Schulden, um Projekte finanzieren zu können.

„Ich weiß, dass Leute mich für ein bisschen verrückt halten“, sagt Schmidt. Er zuckt mit den Schultern. „Aber das bin ich wirklich nicht. Ich versuche nur, andere Fragen zu beantworten.“

Manchmal frustriert ihn sein Ruhm als „der Mann, der sich im Dienst der Wissenschaft stechen ließ“. Reporter rufen bei ihm nicht an, um über die Evolution der Staatenbildung von Insekten zu plaudern. Die meisten Journalisten wollen nur irre Geschichten darüber hören, wie er von exotischen Ameisen gestochen wurde.

Diese Fixierung passt gut in Schmidts Beobachtung, dass Stiche brutal effektiv darin sind, sich in der Psyche potenzieller Fressfeinde festzusetzen.

In seinem Zuhause in den Hügeln hinter Tucson lädt Schmidt mich zu einem Spaziergang durch seinen Garten ein, um nach der Kolonie wilder Afrikanisierter Honigbienen – Killerbienen – zu sehen, die er mit einer selbst entwickelten Pheromonmischung auf sein Grundstück eingeladen hat.

„Sie sind robust“, sagt er, während wir uns vorsichtig einen Weg durch hohe Kakteen suchen, „sie haben gute Gene. Sie sind nicht vom Bienensterben betroffen. Wir sollten mit ihnen arbeiten. Aber alle haben Angst vor ihnen.“

Ich frage ihn nach dem Vorgehen im Fall eines Killerbienenangriffs. „Oh“, sagt er. „Rennen Sie.“ Doch die Bienen, berüchtigt für die aggressive Verteidigung ihrer Heimat, sind an diesem Tag friedlich.

Vogelspinne

Als wir zum Haus zurückschlendern, werde ich Zeuge eines Treffens alter Freunde. „Da sind sie ja“, ruft Schmidt, als wir uns einer Gruppe von Tarantulafalken nähern, die um eine blattlose Seidenpflanze auf seiner Terrasse summen. Wie sie da über dem Busch schweben, mit ihren fünf Zentimeter langen, bläulich-violettschwärzlich schimmernden Körpern und Flügeln wie gebrannter Ocker, sehen sie aus wie Feen.

Der Stich des Tarantulafalken ist, in der Sprache des Schmerzes gesprochen, der Stich der Stiche. Die Farben der Wespe sind nur eine Ankündigung des Giftes, dessen Zusammensetzung noch immer unbekannt ist. Schmidt gibt dem Stich eine glatte 4, die höchste Note, schmerzhafter als der Biss der Tropischen Riesenameise. Er beschreibt ihn als „elektrisch, ein Schock aus heiterem Himmel“. Es ist die Art von lähmendem Empfinden, die die Kontrolle über den Körper eines Menschen übernehmen kann.

Sein ehrlicher Rat an jemanden, der von einem Tarantulafalken gestochen wurde: hinlegen und schreien.

Als ich auf die wilden Wespen treffe, die ebenso hübsch wie geheimnisvoll sind, verstehe ich, warum Schmidt über Stiche in einer kultivierten Sprache schreibt, wie ein Genießer. Es geht nicht um Masochismus oder Machismo. Sondern um das Verlangen, jeden einzelnen Bestandteil eines Wesens zu begreifen, auch die scharfen – ein bisschen wie ein Liebender.

Diesem einzelgängerischen, auffälligen Insekt hat sein Gift geholfen, Millionen von Jahren zu überleben, in denen es noch keine Menschen gab. In ihm wird die Schönheit des Stichs offensichtlich: nicht wegen des Schmerzes, den er auslöst. Sondern wegen des Lebens, das er schützt.

GEO Nr. 02/2017 - Atmen

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