Freitag, 09.06.2006, Helgoland / Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI), Gebäude D am Alten Hafen
Der 8. GEO-Tag der Artenvielfalt beginnt mit einem Vorsprung für jene, die von der Tide abhängig sind: Bereits am Morgen bricht der AWI-Forschungskutter "Uthörn" von Helgoland aus auf, um Teilnehmer des Tages nach Bremerhaven überzusetzen. Natürlich werden auf dem Weg zur Wesermündung bereits reichlich Tier- und Bodenproben gesammelt, von denen ein Großteil bis zum nächsten Tag bestimmt werden soll. Mit an Bord sind GEO-Reporter Martin Meister und Fotograf Heiner Müller-Elsner. Bei aller Begeisterung für Flora und Fauna haben sie, wie die Besatzung und mitfahrenden Forscher, gegen Abend aber vor allem ein Ziel vor Augen: noch rechtzeitig zum Auftakt-Spiel der Fußball-WM 2006 im alten Hauptgebäude des AWI einzutreffen. Doch obwohl Kapitän Charly Lührs alles aus dem Kutter herausholt, ist er erst zu Beginn der zweiten Halbzeit in Bremerhaven eingeschleust, wo die übrigen Teilnehmer bereits bei Bier und Fischbrötchen den doppelten Auftakt feiern. Immerhin: Der anschließenden Einweisung in die Untersuchungsgebiete im AWI-Hörsaal können dann alle gemeinsam folgen.


Samstag, 10.06.2006, Auftakt im Watt, Nationalpark-Haus Dorum-Neufeld, 5.00 Uhr
Die Frühaufsteher haben sich zur Wattbegehung getroffen. Dichte Nebelschwaden verhängen die Sicht auf die 100 Meter entfernte Küste. "Zu gefährlich, um ins Watt zu gehen", befindet Waltraut Menger, Leiterin des Nationalpark-Hauses Dorum-Neufeld. Die aufgehende Sonne bringt Hoffnung. Langsam verzieht sich der Nebel. Und mit vierzigminütiger Verspätung marschiert die Gruppe ins Watt, bewaffnet mit Eimern, Spaten und Fanggläser - barfuß oder in Gummistiefeln. Dann wird gegraben, nach Watt- und Seeringelwürmern, Pfeffermuschel und Sandklaffmuschel, die einst im Kielwasser der Wikingerschiffe aus Nordamerika eingeschleppt wurde. Am vorderen Priel wird der Untergrund so tief, dass die Ersten bis zu den Waden im Schlick versinken. Die Gummistiefelträger kämpfen um ihr Schuhwerk - zwei von ihnen vergebens.
Helgoland, 5.00 Uhr
Zeitgleich mit den Dorumer Frühaufstehern startet das Helgoländer Team ins Felswatt. Allen voran Prof. Heinz Dieter Franke, Zoologe bei der Biologischen Anstalt Helgoland. Es riecht nach faulen Eiern; Möwen kreischen, glucksend läuft das Wasser ab. Ebbe. Koffer- bis kleinwagengroße Brocken aus rotem Sandstein säumen die Steilküste. Helgoland, 50 Kilometer vom Festland entfernt, ist die einzige Felsinsel Deutschlands. Auf ihrem überfluteten Sockel - von Forschern "Hartsubstrat" genannt - leben maritime Arten, die in deutschen Gewässern nur hier einen Lebensraum finden, darunter viele Großalgen wie der Palmentang. Um 6.30 Uhr klettert die Gruppe eine Treppe hinauf zum Felsplateau, welches das Felswatt säumt. Am Lummenfelsen wartet Dr. Ommo Hüppop von der Vogelwarte Helgoland. 2600 Lummenpaare nisten auf der Insel - in einer steilen, etwa 50 Meter hohen Wand, die jäh ins Meer abfällt. Die Weibchen legen jeweils ein Ei auf einen schmalen Vorsprung und bewachen es, bis das Junge schlüpft. Dann stellen sie sich schützend vor ihr Jungtier, den schwarzen Rücken dem Meer zugewandt. Die Jungen sind flauschige kleine Knäuel, in zwei Wochen etwa werden sie in einer windstillen Stunde zum Lummensprung ansetzen. Die noch flugunfähigen Jungen stürzen sich in die Tiefe während ihre Eltern sie von unten rufen. Meist geht das gut. Unten erkennen sich die Familien an ihren Stimmen. Notwendig ist das Manöver, weil es für die Eltern zu energieaufwändig wäre, ihr Junges weiter zu füttern. Statt dem Kleinen Fische auf den Felsen zu schleppen, bringen sie den Nachwuchs zur Nahrung.

Sylt, 7.30 Uhr am Strand vor der Wattenmeerstation in List
Dicht hängt der Nebel über der Insel, was die Stimmung der drei polnischen Studenten, die derzeit im Alfred-Wegener-Institut einen internationalen Master-Kurs in Küstenökologie belegen, nicht gerade verbessert: Ihr Fußballteam hat gestern gegen Ecuador 0:2 verloren. Doch Prof. Karsten Reise, Meeresbiologe am AWI, bringt seine Studenten in Schwung. Durch blubbernden Schlick schickt er sie auf die Miesmuschelbank im Watt. Es ist die letzte dieser Art auf der Insel, berichtet Reise - alle anderen haben sich in den vergangenen fünf Jahren zu Austernriffen verwandelt. Die Pazifische Auster, ein Fremdling, der 1991 zum ersten Mal außerhalb der Zuchtanlagen vor Sylt entdeckt worden war, hat die heißen Sommer seit 2001 genutzt, um die durch die Erwärmung des Wassers geschwächten Miesmuscheln radikal zu überwuchern. 3500 Stück Miesmuschel pro Quadratmeter Oberfläche, rechnen die Studenten aus; in "guten" Muscheljahren macht das bis zu 100.000 Jungmuscheln. Zwischen und auf ihren schwarzen Schalen, die mit abgesonderten Klebfäden eng miteinander verwoben sind, leben mehr als 150 weitere Tier- und Pflanzenarten: Algen, Seepocken, Garnelen, Einsiedlerkrebse, Moostierchen, eine Aalmutter und weitere Eindringlinge wie die amerikanische Pantoffelschnecke oder Porphyra – eine Alge der gleichen Gattung, mit der Sushi-Fans ihre Reistäschchen zusammenrollen. Damit sind Muschelbänke Oasen der Biodiversität, hungrigen Seevögeln bieten sie ein vielseitiges Buffet.
Alle vier Sylter Seeschwalbenarten, die Zwergseeschwalbe, die Brandseeschwalbe, die Flussseeschwalbe und die Küstenseeschwalbe, lassen sich blicken, was Stefan Garthe, den Ornithologen vom Forschungs- und Technologiezentrum Büsum, besonders freut. Weiteres Highlight der Wattwanderung: Ein schwarzes Fischbaby namens Seehase, das im adulten Stadium zu einem über 50 Zentimeter mächtigen Schwimmer heranwachsen kann - sofern es nicht vorher in einem der vielen Fischernetze landet.


Helgoland, 8.30 Uhr
Die "Diker" wartet. Auf helgoländisch heißt das "Taucher". An Bord des Motorboots befinden sich Carsten Wanke, Taucheinsatzleiter und zwei Forschungstaucher. Sie sind darauf spezialisiert, Arten im Wasser und auf dem Meeresboden zu suchen. Um Helgoland herum gibt es viele Arten, die auf Hartsubstrat angewiesen sind. Und was für Arten! Seeanemonen, Schwämme, Seescheiden, Nacktschnecken, mit denen sich die Eimer an Bord nach jedem Tauchgang weiter füllen. "Denk an den Knieper" - ruft Carsten Wanke jedem Taucher vor dem Tauchgang zu. "Knieper" wird der Taschenkrebs auf Helgoland genannt. Sein Panzer kann bis 30 Zentimeter breit werden, seine Scheren sind dementsprechend groß und eine Spezialität auf der Insel.
Nationalpark-Haus Dorum-Neufeld, 9.15 Uhr, Aufbruch zur Salzwiesenkartierung
Auf den ersten Blick gibt die Salzwiese direkt an der Wattkante nicht viel her. Sabine Arens und Norbert Hecker beugen sich über grüne Halme und beginnen zu bestimmen: Einjähriges Rispengras, Rotschwingel, Salzbinse, Quecke, Breitwegerich, Milchkraut - alles typische Salzwiesenbesiedler, die höhere Salzgehalte im Boden tolerieren, dazwischen reichlich Kuhfladen. Die erweisen sich als wahres Pilzparadies. Wider Erwarten entdecken die Mykologen Jörg Albers und Bernt Grauwinkel gleich fünf dieser mikroskopisch kleinen Arten. Der Winzigste von allen nennt sich Pillenwerfer. Zu Recht, denn an seiner Spitze ist dem Pilz eine Kapsel gewachsen, die an eine Pille erinnert. Platzt diese auf, verbreiten sich die darin befindlichen Sporen in alle Himmelsrichtungen.
Eines der botanischen Highlights des Tages lässt auch nicht lange auf sich warten: In der Hand hält Vegetationskundler Ullrich Hellwig ein unscheinbares Gewächs mit knollenartigen Verdickungen an der Wurzel - den Knollen-Fuchsschwanz, eine endemische Grasart. Zu finden ist sie in ganz Deutschland allein an einem einzigen Ort - an der Wurster Küste zwischen Bremerhaven und Cuxhaven.


Sylt, 10.00 Uhr im Priel vor dem Lister Haken
Kaum lässt Kapitän Alfred die Schiffshupe des Forschungskatamarans "Mya" tröten, kommt doch noch die Sonne heraus. Zwölf Kinder der Lister "Urwaldpiraten" sind an Bord des Forschungskatamarans - und mächtig aufgeregt. Denn Sabine Wolf, Umweltpädagogin beim Lister Erlebniszentrum Naturgewalten, zieht die Dredsche, ein Netz mit fester Aufhängung, um damit den Meeresboden nach Lebewesen abzurechen, aufs Schiff und lässt hunderte Organismen aus dem Netz purzeln. "Uhhh, das krabbelt ja überall!" schreit Moritz (7) und hüpft erschrocken zurück. "Das sind doch nur Krebse!" beruhigt ihn Nele (9), ihrerseits ganz unerschrocken. Drei Arten, um genau zu sein: Strandkrabben mit Laufbeinchen und stumpfen Scheren, Schwimmkrabben mit Paddelbeinen und scharfen Zangen, die richtig fest zukneifen können, sowie zahllose Einsiedlerkrebse, die verstört aus ihren Schneckenhäusern gucken. Nichts für Moritz; er bewundert lieber einen der handtellergroßen, orange-gepunkteten Seesterne - und natürlich die gut fünfzig Seehunde, die sich an der Nordspitze von Sylt in der Sonne räkeln. Hochschwanger sind einige der Weibchen, bald steht auf der Insel die Geburt der ersten Robbenkinder des Jahres 2006 an.
Fischereihafen am Nationalpark-Haus Dorum-Neufeld, 10.30 Uhr
Mit einsetzender Flut läuft die "Nixe II" aus. Der Fischkutter des Nationalparkhauses tuckert den Priel entlang hinaus auf die Nordsee. "Nicht viel los am Wurster Küstenhimmel", resümiert der Ornithologe Lutz Achilles. Nur ein paar Möwen, Enten und Höckerschwäne, und ab und zu eine Seeschwalbe. "Der Durchzug der Zugvögel geht zu Ende". Doch dann taucht plötzlich in einiger Entfernung die Rückflosse eines Schweinswales auf und lässt den Adrenalinspiegel der Mannschaft steigen. Jetzt kann es losgehen. Die Schleppnetze werden bis in acht Meter Tiefe ausgelegt und fördern nach etwa 20 Minuten jede Menge Fisch an Deck: Petermännchen, Sandgrundel, Stint, Seezunge, Scholle, Steinpicker, Leierfisch, Wittling und Dorsch.

Nationalpark-Haus Dorum-Neufeld, 11.00 Uhr Vogelbeobachtung auf Watt und Wiese
"Woher stammt eigentlich der Name Watvogel?", fragt einer der Exkursionsteilnehmer. "Das rührt daher, dass solche Vögel mit ihren langen Beinen durch den Schlick waten, wenn sie dort nach Nahrung suchen", antwortet Peter Südbeck, Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Er erklärt auch, weshalb das Watt so bedeutend für die Avifauna ist: Für Zugvögel, wie Pfuhlschnepfe, Knutt und Kiebitzregenpfeifer, die in ihre nördlichen Brutgebiete ziehen, sei dies ein lebenswichtiger „Trittstein“, ein Rastplatz, an dem die Vögel Reserven für den Weiterflug auffüllen. Arten wie der Austernfischer brüten dagegen rund ums Watt. Über den Anblick eines Kiebitzweibchens mit fünf Kücken freut sich Südbeck ganz besonders: Der frühere Allerweltsvogel des Feuchtlands steht heute durch Landwirtschaft und natürliche Feinde erheblich unter Druck.
Helgoland, 11.30 Uhr mit der "Diker" auf See
Keine 50 Meter vom Boot entfernt taucht plötzlich eine Kegelrobbe auf. Eine Freude für die Zoologen, denn in Deutschland galt diese Robbenart lange Zeit als ausgerottet. Seit 15 Jahren wird sie nun wieder auf Helgoland beobachtet. Etwa anderthalb Stunden später taucht etwas anderes aus dem Wasser auf: Die Hand eines Tauchers. Sie hält einen tellergroßen Krebs. Der Knieper!
Im Labor des Nationalpark-Hauses Dorum-Neufeld, 13.30 Uhr
Die am Morgen im Watt gefangenen Seeringelwürmer entpuppen sich für Helmut Goerke vom AWI als hervorragende Versuchstiere für ein Fütterungsexperiment. Er sitzt vor einem großen Glasbehälter, in denen Glasröhren aufgehängt sind. In jeder der Röhren sitzt ein Wurm. Kaum gießt Goerke Brackwasser in den Behälter, tun die Tiere das, was sie in ihren Grabgängen im Wattboden tun. Sie beginnen zu fressen, und zwar auf bemerkenswerte Weise: Zuerst sondern sie im vorderen Bereich ihres Körpers ein Sekret ab. Durch wellenförmige Bewegungen befestigen sie ihre Schleimfäden am Röhrenrand und strudeln dann einen Wasserstrom durch das zwei Zentimeter lange Gebilde. Dies funktioniert wie ein Filter, mit welchem der Wurm Nahrungspartikel aus dem Wasser fischt. Ist genug Beute gemacht, frisst der Wurm alles auf, inklusive Schleimnetz. Das Spiel wiederholt sich - bis zu zwei Stunden lang. Einige Labortische weiter beugt sich die Biologin Manuela Gusky vom AWI über das Binokular. Objekt ihrer Untersuchung ist der Schlangenstern Ophiura albida, einer der vielen Fänge, welche die Forscher am Vortag auf der "Uthörn" zwischen Helgoland und Bremerhaven aus dem Meer gefischt haben.
Sylt, im AWI-Labor in List, 15.00 Uhr
"Das Strandstück vor unserer Tür gehört wahrscheinlich zum besterforschten der Welt", sagt Werner Armonies, Benthos-Ökologe am AWI und schaut wieder ins Mikroskop. Ein gutes Dutzend Doktorarbeiten wurde über die Lister Sandlückenfauna – eine Lebensgemeinschaft der Tiere, die in engen Spalten und Hohlräumen zwischen den einzelnen Körnern leben - schon geschrieben. 800 Arten konnte Armonies mit seinem Team während seiner Forschungsjahre bereits identifizieren. Am GEO-Tag der Artenvielfalt entdeckte er 38 alte Bekannte wieder.
Bremerhaven, AWI-Gebäude, Haus E, 17.00 Uhr
Mittlerweile sind alle Experten aus dem Untersuchungsgebiet bei Dorum-Neufeld eingetroffen. Unter ihnen auch Astrid Klug, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium. Mit einem großem Lob für den GEO-Tag der Artenvielfalt hebt die Politikerin in ihrer Ansprache vor allem hervor, wie wichtig es sei, junge Menschen für den Naturschutz zu gewinnen. Dazu trage die jährliche Arteninventur bei. Ganz nach dem Motto: "Wer sich auskennt in der Natur, merkt, wenn etwas fehlt oder fürchtet, das eines Tages etwas fehlen könnte. Und wer dafür sensibel ist, engagiert sich auch."
Die Spannung steigt weiter. Die Video-Live-Schaltungen nach Sylt und Helgoland sind aufgebaut. In den Wattenmeerstationen sitzen die Insel-Teams gespannt vor den Monitoren und verfolgen live, wie Peter Südbeck vom Nationalparkamt und Professor Sigrid Schiel vom AWI im Foyer des Bremerhavener Instituts das Zwischenergebnis verkünden: Rund 850 Tier- und Pflanzenarten haben die Experten schon während des GEO-Tag der Artenvielfalt bestimmen können - rund 450 vor Dorum, auf Sylt 260 und auf Helgoland 350 (die Gesamtzahl ist aufgrund von Doppelzählungen geringer). Zu erwarten ist, dass durch Nachbestimmungen die 1000-Arten-Schwelle aber noch überschritten wird. Zu den botanischen Highlights gehören neben dem Knollen-Fuchsschwanz (s.o.) auch Wasserfenchel, Brackwasser-Hahnenfuß und Gelbe Wiesenraute. Ornithologen haben einen Exoten aus Osteuropa, die Weißflügelseeschwalbe, gesichtet. Und Helgoland meldet den Fund der Ottermuschel Lutraria lutraria, die auf der Insel erstmals wieder lebend nachgewiesen wurde. Aber auch Sylt steht dem nicht nach: Dort ging ein Seehase ins Netz.
Letzter Höhepunkt des Tages: Bei Bier, Bratwurst und Abendsonne wird an der Mole im Hafenbecken auf großer Leinwand das Länderspiel Argentinien gegen Elfenbeinküste übertragen.