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210 Meter hohes Stahlungetüm
Es ist eng im Hubschrauber, eng und kühl. 17 Männer drängen sich auf den Sitzen in der schmalen Kabine, die Kleidung versteckt unter orangefarbenen Rettungsoveralls - für den Fall einer Notwasserung. Fast alle lesen Zeitung, niemand spricht. Ohnehin haben die meisten ihre Ohren verschlossen, zum Schutz gegen den Rotorenlärm. Für die Männer, sämtlich Ölarbeiter, ist der Flug Routine, ihr Arbeitsweg. Er hat wie immer in aller Frühe in der norwegischen Stadt Stavanger begonnen. Rückflug in zwei Wochen. Dann vier Wochen Pause, bevor sie wieder hier sitzen.
210 Meter hohes Stahlungetüm
Nach einer Stunde Flugzeit taucht das erste Ziel auf. 240 Kilometer vor Norwegens Küste erhebt sich ein Riese aus dem Meer: Sleipner A, eine Gasbohrplattform der Statoil, der größten norwegischen Ölgesellschaft. Höhe über alles: 210 Meter, davon 120 Meter über dem Meeresspiegel. 8400 Quadratmeter Grundfläche, 80000 Kubikmeter Beton. Fast 35000 Tonnen wiegt der Teil der Plattform, der über der Wasseroberfläche liegt. Im Gebäudetrakt 240 Kojen für die Besatzung, auf dem Dach der Hubschrauberlandeplatz. Im Sturm der Rotoren klettern vier Männer aus der Passagierkabine und verschwinden im Mannschaftstrakt. Sofort hebt die Maschine wieder ab und nimmt Kurs auf die nächste Bohrinsel.

Aufwendige Suche nach Öl und Gas
Rund 600 Förderanlagen für Erdöl und Erdgas stehen oder schwimmen im Seegebiet zwischen den Küsten Norwegens und Großbritanniens, etwas weniger als die Hälfte davon auf norwegischer Seite. Sie heißen wie die Öl- und Erdgasfelder, deren unterirdische Vorräte sie mit ihren Bohrköpfen perforieren: Draupner oder Troll, Heidrun oder Åsgard. Oder eben Sleipner, benannt nach dem achtbeinigen Ross des Göttervaters Odin in der nordischen Mythologie. "Der Komplex besteht aus einer Bohr- und Produktionsplattform", erläutert Egil Kai Elde, der Plattform-Manager. "Die ist über zwei Stahlbrücken mit einer Plattform zur Gasaufbereitung und mit einem Fackelturm für die Verbrennung von Abgasen verbunden." Sieben Erdgasquellen werden von Sleipner A aus angebohrt, alle im Umkreis von drei bis vier Kilometern. "Auf der Suche nach neuen Quellen haben wir in der Vergangenheit schon bis zu sieben Kilometer weit horizontal gebohrt", sagt Elde, "um am Ende eine Position zu treffen, die gerade einmal einen Quadratmeter Durchmesser hatte." Absolute Präzision ist wichtig, denn die Suche nach Öl und Erdgas wird immer teurer, je schwerer neue Quellen zu erschließen sind.
Unterwasser-Detonationen verraten die Vorkommen
Entscheidend bei der Erschließung der Rohstofflager ist heutzutage die Seismik: Dazu wird vom Schiff aus im Wasser ein starker Schall erzeugt, den die unterschiedlichen Bodenschichten auf unterschiedliche Weise reflektieren. Hunderte Mikrofone, an kilometerlangen Kabeln durchs Meer geschleppt, fangen die Schallwellen auf. Die Signale werden digitalisiert, zur Ölgesellschaft aufs Festland übertragen und dort in farbige, raumgroße 3-D-Sequenzen umgerechnet.
Geologen und Ingenieure erhalten durch diese Technik 3-D-Bilder über die geologische Struktur der Bodenschichten und können gleichsam mitten im dreidimensionalen Raum entscheiden, wo zur genaueren Untersuchung Probebohrungen angesetzt werden. Freilich: Der künstliche Lärm hat Folgen für die Tierwelt: Was dem Menschen Hinweise auf Öl- und Gasvorkommen gibt, beeinträchtigt Orientierung und Kommunikation von Walen und Delfinen.
21 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Tag
Aus den Öl- und Erdgaslagerstätten unter dem norwegischen Kontinentalschelf strömen täglich rund 2,8 Millionen Fass (446 Millionen Liter) Rohöl und 215 Millionen Kubikmeter Gas. Weil das Land nur etwa fünf Prozent davon für den Eigenbedarf benötigt, ist es inzwischen der drittgrößte Öl-und Gasexporteur der Welt.
Sleipner A trägt zu diesem Ergebnis mit durchschnittlich mehr als 21 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Tag bei; dazu kommen rund 5640 Kubikmeter so genanntes Kondensat, das bei der Verarbeitung von nassem Roh-Erdgas anfällt. Denn während gefördertes Rohöl an den Bohrinseln auf Tankschiffe verladen oder durch Pipelines geschickt wird, um an Land in Raffinerien weiterverarbeitet zu werden, wird Rohgas aus dem Sleipner-Feld gleich auf der Plattform verbrauchsfertig gemacht. 120 Grad Celsius heiß ist der nasse Rohstoff, wenn er aus den unterseeischen Lagerstätten in die Leitungen strömt - "und hier oben", sagt Elde, "hat das Gas im Rohr immer noch eine Temperatur von 60 Grad, bei einem Druck von über 100 bar".
8000 Kilometer Gas-Pipelines

Auf der Plattform wird es zuerst in trockenes Erdgas und flüssiges Kondensat getrennt. Pumpen drücken das Kondensat ins nördlich von Stavanger gelegene Kårstø, wo es in die Gase Butan und Propan aufgespalten oder zu Flüssiggas aufbereitet wird. Das kommt unter anderem als Benzin-Alternative in den Handel.
Dem Erdgas werden noch Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff entzogen, sodass zum Schluss fast reines Methangas übrig bleibt. Eine Turbine von der Größe eines Flugzeugmotors presst das Methan durch die Pipelines - etwa die "Europipe", 716 Kilometer lang, welche die Ware von den Erdgasfeldern in der Nordsee direkt ins Verteilerzentrum bei Emden leitet. Insgesamt ist das norwegische Netz der Gaspipelines auf dem Meeresboden vor Nordeuropa 8000 Kilometer lang.
Öl gelangt als Abfall in die Nordsee
Reinigung und Inspektion dieses unterseeischen Rohrgeflechtes ist Sache der Schweine: "Pipeline Pigs" heißen die zylinderförmigen Metallbehälter, die regelmäßig durch die Leitungen geschickt werden, vorwärtsgetrieben vom Druck des Öls oder der Gase. Auf ihrer oft Hunderte Kilometer langen Reise durch die Röhren suchen die Roboter mit Sensoren nach Korrosion, nach Rissen oder anderen Beschädigungen und liefern die Daten am Ende der Tour in der Raffinerie oder im Gaslager ab.
Dennoch kommt es immer wieder zu Leckagen, vor allem auf den Plattformen. Zudem wird auf den Bohrinseln mit dem Öl auch Seewasser aus dem Sediment nach oben befördert. Zwar wird das Wasser auf den Bohrinseln weitgehend von Ölrückständen gereinigt, bevor es zurück ins Meer fließt; trotzdem gelangen pro Jahr rund 9000 Tonnen Öl in die Nordsee. Vom Jahr 2006 an wird daher für die Nordseeanrainer der Ölanteil im abgetrennten Meerwasser auf 30 Milligramm pro Liter begrenzt.
Kohlendioxid wird zurück ins Erdreich gepumpt
Daneben fallen vor allem bei der Erdgasproduktion erhebliche Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid an. In anderen Förderanlagen entweichen diese einfach in die Luft oder werden in die unterseeischen Reservoirs zurückgepumpt - zur Erhöhung des Förderdrucks. So gelangt das CO2 aber über kurz oder lang wieder nach oben. Im Sleipner-Feld dagegen wird das Kohlendioxid nach der Abtrennung verflüssigt und im Meeresboden eingelagert, in 1000 Meter Tiefe. Eine dicke Lehmschicht über den Endlagerstätten verhindert, dass das CO2 nach oben entweicht. "Pro Jahr", so Egil Kai Elde, "werden etwa eine Million Tonnen Kohlendioxid ins Sediment zurückgepumpt."
286 Billionen Liter Ölreserven
Zwar wollen die Norweger diese Technik mittelfristig auch dazu nutzen, selbst Kohlekraftwerke - bei denen große Mengen CO2 anfallen - umweltfreundlich zu machen. Vor allem jedoch soll sie auf anderen Erdgasfeldern zum Einsatz kommen. Denn in etwa zehn Jahren wird man aus dem Sediment im norwegischen Festlandschelf mehr Gas als Öl pumpen - weil das Öl dort deutlich früher zur Neige geht. Auch anderswo rinnt es zusehends spärlicher. Zwar werden auf der Erde noch Ölvorräte in Höhe von rund 1,8 Billionen Fass (286 Billionen Liter) vermutet - doch ein Drittel dieser Menge gilt als schwer oder nur mit immensen Kosten förderbar. Und auch der Rest sprudelt nicht einfach hoch: Ist eine Lagerstätte erst einmal zur Hälfte leer gepumpt, lässt ihre Leistung rapide nach. Der Öldruck wird schwächer, und ein immer größerer technischer Aufwand ist nötig, um an die verbliebenen Vorräte heranzukommen.
Die größte schwimmende Bohrinsel der Welt
Experten fürchten diesen Zeitpunkt, den sie Peak of Oil oder Midpoint nennen. In den USA ist er bereits in den 1970er Jahren erreicht worden. Für die übrigen Förderländer wird, je nach Schätzung der explorationsfähigen Reserven, zwischen 2007 und 2020 mit dem Peak of Oil gerechnet. Der renommierte Analyst Matthew R. Simmons aus Houston behauptet sogar, dass Länder wie Venezuela, Kuwait, Iran und Irak den Peak ebenfalls bereits hinter sich haben.
Folglich unternehmen die Ölgesellschaften immer größere Anstrengungen, um Öl und Gas aus schwer zugänglichen Lagerstätten zu pumpen. So baut ein Konsortium aus BP und ExxonMobil derzeit die größte schwimmende Bohrinsel der Welt, die vom Herbst 2005 an im Golf von Mexiko Öl fördern soll. Dort ist das Meer fast 2000 Meter tief, und die Rohöl-Reservoirs liegen weitere 6000 Meter unter dem Meeresboden. Nur wenn der Ölpreis hoch bleibt, sind derartige Projekte für die Konzerne wirtschaftlich zu realisieren.

Ölförderung kontra Umweltschutz
Auch Lagerstätten mit "nicht konventionellem" Öl werden angesichts der hohen Preise interessant. Etwa die Teersand-Vorkommen in der kanadischen Provinz Alberta. Aus dem schwerölhaltigen Sand wird in einem technisch aufwendigen - und umweltbelastenden - Prozess das Rohöl gelöst. Die Ölsände haben Kanada quasi über Nacht zum Land mit den nach Saudi-Arabien zweitgrößten Ölreserven der Erde gemacht. Daneben drängen die Energiefirmen immer heftiger auf Fördergenehmigungen für Gebiete, die bislang tabu waren - mit Erfolg. So genehmigte der US-Senat kürzlich die Exploration von schätzungsweise 16 Milliarden Fass Rohöl, die in Alaska unter einem der artenreichsten Naturschutzgebiete der USA vermutet werden.
Statoil will "Schneewittchen" befreien
Und die norwegische Statoil will mit ihrem Bohrgerät im Jahr 2006 Snøvhit ("Schneewittchen") zu Leibe rücken. So heißt ein großes, industriell bislang noch fast unberührtes Gebiet in der südlichen Barentssee, in dem große Fisch- und Garnelenpopulationen leben - die Nahrungsgrundlage für Wale, Robben und Seevögel. 2000 Meter unter dem Meeresgrund dieses hochempfindlichen Ökosystems sind schon vor Jahrzehnten rund 190 Milliarden Kubikmeter Erdgas entdeckt worden. An die will Statoil jetzt heran.Schneewittchens Aderlass ist auch der Beginn eines neuen Zeitalters. Denn zu den Bohrungen, die den in der Tiefe schlummernden Kraftquell anzapfen, wird kein Hubschrauber mehr fliegen, der Männer in orangefarbenen Overalls zur Arbeit bringt. Und keine Offshore-Plattform, kein Bohrschiff wird mehr über den Wellen zu sehen sein.
Vollautomatische Produktionsanlagen

Stattdessen sollen in 250 bis 345 Meter Meerestiefe vollautomatische Produktionsanlagen die Arbeit übernehmen und, ferngesteuert, das Rohgas durch eine 143 Kilometer lange Pipeline zu einer kleinen Insel vor Hammerfest strömen lassen. Dort wird es anschließend aufbereitet, unter hohem Druck verflüssigt und schließlich mit Spezialtankschiffen zu den Kunden gebracht. Damit geht, wenn Schneewittchen erwacht, die Ära der Riesen endgültig zu Ende.