GEO: Warum sind Sie, als Vertreter der Wissenschaft, an einem Dialog mit religiösen Gruppen interessiert?
Wilson: Aus rein praktischen Gründen, nämlich um für das gemeinsame Ziel zu werben, die Artenvielfalt unseres Planeten zu bewahren.
In Ihrem Buch appellieren Sie vor allem an die Evangelikalen, die in den USA eine sehr konservative Religionsgemeinschaft sind. Weshalb? Erstens, weil ich selbst mit diesem Glauben aufgewachsen bin. Ich verstehe die Evangelikalen, auch wenn ich selbst mich mittlerweile als säkularen Humanisten sehe. Zweitens, weil ich weiß, dass ein religiöser Mensch seine Leidenschaft auch für die Bewahrung der Vielfalt des Lebens entwickeln kann. Deshalb wählte ich auch das biblische Wort "The Creation", die Schöpfung, als Synonym für die Artenvielfalt. Der dritte Grund ist schlicht die große Anzahl an Adressaten: rund 40 Prozent der US-Amerikaner sind evangelikalen Glaubens.
Alle Welt redet derzeit über den akuten Handlungsbedarf, um die Erderwärmung zu bremsen. Kommt Ihr Werben für die Biodiversität nicht zur Unzeit? Die biologische Vielfalt unseres Planeten verarmt mit jedem zerstörten Lebensraum weiter - und eben diese Zerstörung beschleunigt noch den Klimawandel. Der unwiederbringliche Verlust der Biodiversität ist eine Tragödie für alle heute und zukünftig lebenden Menschen. Neben den direkten ökonomischen Folgen wird der spirituelle Schaden - durch die dauerhafte Verarmung des Lebens auf der Erde - als jenes Verbrechen in Erinnerung bleiben, welches spätere Generationen der unseren am wenigsten verzeihen werden.
Sie haben gesagt, es werde die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts sein, den Lebensstandard der Armen auf ein erträgliches Niveau zu heben und gleichzeitig so viel natürliche Umwelt wie möglich zu bewahren.
Richtig. Und diese Herausforderung wird dadurch erschwert, dass die meisten der Ökosysteme mit besonders großer Artenvielfalt, sogenannte Brennpunkte der Biodiversität, in tropischen Entwicklungsländern liegen.
Wie sähe ein realistischer Lösungsansatz aus? Am Anfang steht die Einsicht, dass der Erhalt des Artenreichtums die Welt gar nicht so viel kostet. Ende der 1990er Jahre wurde der Preis, der für den dauerhaften Erhalt der 25 wichtigsten Brennpunkte des Lebens einmalig gezahlt werden müsste, mit 28 Milliarden US-Dollar berechnet. Eine Summe, die damals gerade mal einem Tausendstel des jährlichen Bruttoweltprodukts entsprach. Aufgrund der Inflation wären dies heute vielleicht 50 Milliarden - immer noch das beste Geschäft, das die Menschheit jemals abschließen könnte.
In Ihrem Buch widmen Sie ein Kapitel der Bildung. Jeder Mensch empfindet eine intuitive Zuneigung zur lebenden Umwelt. Nicht verwunderlich, schließlich entstammt die Menschheit dem Schoß der Natur. Bereits bei Vorschulkindern äußert sich diese "Biophilie" in der Bewunderung alles Lebendigen. Diese angeborene Neugier gilt es, stärker zu kultivieren.
Wie ist die bisherige Reaktion auf Ihr Buch? Es gab zahlreiche positive Rückmeldungen. Ich bekomme laufend Anfragen zu Gastvorträgen bei Kirchenverbänden, sowohl christlichen als auch jüdischen. Erst kürzlich habe ich eine Vorlesung über Biodiversität an der theologischen Fakultät in Harvard gehalten. Später traf ich mich mit mehreren Professoren und Theologen zum Gespräch. Dabei schwebte etwas wie Entschlossenheit im Raum: Dieser Brückenschlag könnte eine ganz neue Tatkraft wecken! Die Umwelt könnte das transzendente Thema des 21. Jahrhunderts werden, das die weltweiten Kräfte aus Politik, Wissenschaft und Religion vereint.