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„Was am diesjährigen Castor-Transport anders ist? Diesmal kommt der Zug nicht durch!“, antwortet Henner Schlichting lachend auf meine Frage. „Nein, im Ernst, wirklich besonders ist, dass viele alte Demonstranten wieder mit dabei sind. Und auch viele neue, die sich bisher nicht an den Protesten beteiligt haben.“ Der 43-jährige Landwirt ist in der Anti-AKW-Bewegung bekannt, nicht zuletzt durch das circa vier Meter hohe Atom-Klo, auf dem Angela Merkel in Form einer Puppe seit der Demonstration im September 2010 in Berlin bei allen Protesten mitfährt. Familie Schlichting betreibt einen Bio-Bauernhof im Dorf Klein Bünstorf im Landkreis Uelzen direkt an der Castor-Transport-Strecke zwischen Hannover und Lüneburg. Wenn der Castor rollt, bieten sie den Demonstranten dort ein Lager für gemeinsame Aktionen.

„Das Desaster in der Asse hat vielen die Augen geöffnet“
In diesem Jahr ist eine erste Versammlung für Samstag, 21 Uhr anberaumt, dem Abend, bevor der Transport den Landkreis passieren soll. Rund 150 Gäste aus dem gesamten Bundesgebiet sind zusammengekommen, sie wollen auch außerhalb des Wendlandes ihren Unwillen gegen Atomkraft zeigen. Bernd Ebeling, Sprecher der Bürgerinitiative gegen Atomanlagen Uelzen erzählt: „Der Informationsstand ist hier ein ganz anderer als im Wendland. Vor zwei Jahren war es noch schwierig, im Landkreis überhaupt einen Artikel gegen Atomkraft in die Zeitung zu bekommen. Das hat sich geändert. Das Desaster in der Asse hat vielen Leuten gezeigt, dass Atomkraft einfach keiner im Griff hat.“
Die meisten Demonstranten kommen direkt von der Großkundgebung am Nachmittag in Dannenberg nach Klein Bünstorf. In der urigen Scheune von Hof Schlichting erwartet sie ein bombastisches Buffet, das von umliegenden Bäckern und Bauernhöfen gespendet wurde. Auch die evangelische Kirche im Ort hat im Vorfeld Unterstützung geleistet, hat eine Castor-Andacht durchgeführt und ihre Räumlichkeiten für Sitzblockaden-Trainings zur Verfügung gestellt. Auf dem Hof werden zum Kennenlernen ein paar Fragen in die Runde gestellt: Wo kommt ihr her? Seit wann beteiligt ihr euch am Protest? Seit 9 oder 17 Jahren, sind häufig genannte Antworten. Besonders viel Applaus erntet ein älteres Pärchen, das schon seit 1977 an Anti-AKW-Aktionen teilnimmt.
Zu Beginn klärt Ebeling einige Grundsätze mit der Gruppe: „Wir befinden uns hier an der ICE-Strecke, circa alle sechs Minuten fährt ein Zug durch. Das heißt, es geht niemand auf die Schienen, das ist zu gefährlich. Wir wollen hier keine Märtyrer haben.“ Henner Schlichting pflichtet ihm bei: „Die Aktionen, die wir hier machen wollen, sollen legal und ungefährlich sein.“ Im Gegensatz zu Blockaden an der Strecke ab Lüneburg, auf der ausschließlich der Castor-Zug fährt, ist das primäre Ziel am restlichen Teil der Strecke, den Transport durch Präsenz an den Schienen zu verlangsamen. „Natürlich sind wir generell dagegen, dass der Zug fährt“, sagt Ebeling. „Aber wir sind auch dagegen, dass er anstatt wie für Gefahrentransporte vorgeschrieben 30 vielerorts 100 Stundenkilometer fährt. Das können wir mit unseren Aktionen verhindern.“
Erprobte Organisationsstrukturen
Die Gruppe teilt sich in mehr und weniger risikofreudige Demonstranten, die sich anschließend zu Bezugsgruppen zusammenfinden. Im Vorfeld wird besprochen, wer zu welchen Einsätzen bereit ist. Ob sie Angst hat, frage ich eine Soziologie-Studentin, die zum ersten Mal dabei ist. „Nein, ich bin eher gespannt. Hier sind so viele Leute, die sich auskennen, da fühle ich mich sicher.“
„Das erste Mal hatten wir im Jahr 2001 Demonstranten auf dem Hof“, erzählt der Vater von Henner Schlichting. „Damals haben wir richtig Ärger mit dem Landkreis bekommen, weil wir außer einer Info-Stelle auch noch ein Camp auf dem Feld nebenan einrichten wollten. Das haben sie uns verboten. Und am Schluss der Diskussion flüsterte der Zuständige vom Ordnungsamt mir dann zu: ‚Ihr wisst doch, ich muss das machen. Aber morgen früh bin ich dann mit dabei.‘“
Warme Betten für Protestler
Bis nach Mitternacht werden eifrig Telefonlisten geschrieben und Landkarten verteilt. Für viele bedeuten die Aktionen rund um den Castor-Transport auch ein Wiedersehen mit Freunden, es werden alte Geschichten ausgetauscht und die beste Kleidung für den nächsten Tag besprochen. Ein Weckdienst soll die Aktivisten am Morgen wecken. Momentan rollt der Castor. Wenn er ohne Störungen durchkommt, könnte er schon gegen vier Uhr im Landkreis Uelzen sein. Wer nicht gerade Wache schiebt, um den Castor-Ticker im Internet zu verfolgen, sollte sich also lieber auf der Isomatte ausruhen. Im Gegensatz zu einer Nacht im Gleisbett sind die beheizten Räumlichkeiten auf Hof Schlichting reinster Luxus.
Gegen fünf Uhr schrecke ich hoch, noch keine Nachricht? „Der Zug steht seit zwei Stunden bei Fulda, da hat sich das Eichhörnchen von einer Brücke abgeseilt“ verrät mir einer, der draußen herumläuft. Eichhörnchen? „Das ist eine Kletter-Aktivistin aus Lüneburg. Wir können also ausschlafen.“ Prima! Noch ein kurzer Blick auf die Straße, wo ich laufende Motoren vernehmen kann. Die Polizisten, die seit einigen Tagen den Hof bewachen, versuchen, ihre Wagenheizung in Gang zu halten. In der Nacht sind die Temperaturen unter null Grad gefallen.
Ungeliebter Einsatz für die Polizei
Am Morgen liegt der Hof ruhig im Nebel da. Ich statte den Beamten draußen einen Besuch ab, die sich inzwischen mit fünf Mannschaftswagen zwischen Hof und Schiene postiert haben. Neben ihnen ragt das Atom-Klo empor. Wie erleben die Polizisten diese Tage? „Wie unser Polizeipräsident schon sagte, es ist ein ätzender Einsatz“, erzählt ein junger Beamter. „Wir kommen alle hier aus der Gegend, mein Nachbar hat auch so ein Schild am Zaun hängen, „Atomkraft, nein danke“. Es kann passieren, dass ich ihm irgendwann gegenüber stehe. Aber wir verdienen nun mal mit diesem Job unser Geld. Wer keinen Urlaub nimmt, muss auch mit zum Castor.“

Gegen neun Uhr wird das Frühstück mit der Nachricht eröffnet: „Im Wendland schottern circa 3000 Menschen!“ Großer Jubel für die Kollegen, die am frühen Morgen begonnen haben Steine aus dem Gleisbett zu räumen, bricht aus. Die Atmosphäre wird von einer Mischung aus Anspannung und Nervenkitzel beherrscht. Noch stehen die Castoren in Hannover. Nur wenige Kilometer weiter, in Lehrte, wird sich entscheiden, ob der Castor tatsächlich am Hof vorbeifährt oder ob er die Ausweichroute über Verden nimmt. Die Atomkraft-Gegner sind für alle Eventualitäten vorbereitet. Immer wieder wird gibt es Besprechungen, werden Streckenposten angerufen oder Aktionspunkte diskutiert. Alle wissen, dass es jetzt relativ schnell gehen kann.
Katz-und-Maus-Spiel
Tut es aber noch nicht. Der Transport wurde auf die Strecke Richtung Uelzen gelenkt, trifft kurz vor Celle jedoch erneut auf angekettete Aktivisten. „Hier muss man Durchhaltevermögen haben“, bemerkt der pensionierte Bautechniker neben mir. Dennoch schwärmen die ersten Gruppen bereits aus, um sich irgendwo im Landkreis den Schienen zu nähern. Das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei beginnt. „Unser Ziel ist es, die Polizeikräfte zu dezentralisieren. Alle Beamten, die wir hier durch Aktionen binden, können nicht gleichzeitig im Wendland sein“, erklärt Schlichting. Passend dazu überzeugt sein Vater vor dem Hof gerade die Beamten, dass seine Rinder von mindestens fünf Polizisten bewacht werden müssen. Aus Angst vor den Hubschraubern, die den Zug begleiten, könnten sie ansonsten auf die Schiene laufen. Die Beamten lassen sich darauf ein.
„Wir wollen den Transport so teuer wie möglich machen“, sagt Jan aus Rostock. Besonders viele Demonstranten sind aus Mecklenburg-Vorpommern angereist und rühren in Niedersachsen die Werbetrommel für Proteste gegen einen weiteren Atommüll-Transport, der im Dezember in das Zwischenlager am Atomkraftwerk Lubmin fahren soll. „Das ist unser einziges Mittel, um Druck auszuüben. Die Kernkraft-Konzerne sollen gezwungen werden, die Transportkosten selbst zu tragen.“ Geht es denn gar nicht um die Gefahr, die die Kernenergie für den Menschen darstellt? „Was bringt es, mit Leuten über Gefahr zu diskutieren, die nach Tschernobyl nicht aufgewacht sind?“ fragt er ernüchtert zurück.
Seit Stunden hat die Gruppe, die direkt vom Hof aus starten will, gewartet. Schließlich, um 15:25 Uhr, erreicht der Castor-Transport mit zehn Stunden Verspätung Klein Bünstorf. In einer Blitz-Aktion sprinten die Demonstranten über den Acker und erreichen ungehindert die Schienen. „Gehen sie nicht auf die Schienen, zu Ihrer eigenen Sicherheit!“, brüllt ein Beamter noch, da rauscht der Transport schon heran. „Tun wird nicht!“, ruft Schlichting zurück, und trotzdem erreicht die Gruppe ihr Ziel: Der Lokführer sieht die Personen neben den Gleisen und bremst ab. Der Erfolg wird nur kurz bejubelt, schon wenige Momente später springen die Demonstranten in die bereitstehenden Wagen Richtung Wendland. Für viele war dies nur die erste Etappe.