Die Gemeinde Bohmte, nordöstlich von Osnabrück gelegen, hatte ein Problem: Durchgangsverkehr. Mehr als 12.000 Fahrzeuge täglich, darunter viele LKW, stauten sich vor den Ampeln, quälten sich im Stop-and-Go durch die Ortsmitte. Kein schöner Anblick für Anwohner und Passanten, laut, stinkend und gefährlich obendrein. Das Zentrum des Orts war zum Schauplatz eines permanenten Verkehrsinfarkts verkommen.
Im Jahr 2004 traten die Gemeindeväter die Flucht nach vorn an: In einer Einwohnerversammlung wurde das Problem erörtert, nach Lösungen gesucht. Referent war damals der Niederländer Hans Monderman. Der Verkehrsplaner warb bei den Bürgern für sein Konzept "Shared Space": Statt Vorschriften, Begrenzungen und Schildern ein großer, offener Platz für alle, vom Rollator- bis zum Brummifahrer. Statt Rechthaberei Aufmerksamkeit, Kommunikation und gemächliches Miteinander.
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Shared Space wurde damals im Rahmen eines EU-Projekts gefördert. Sechs Städte in den Niederlanden, in Belgien, Dänemark und England wollten mitmachen. Ein deutscher Versuchsteilnehmer wurde noch gesucht. Monderman nahm die Bohmter für sich ein, die Gemeinde bekam den Zuschlag.
Doch es gab auch kritische Stimmen. Wie? Auf fast einem halben Kilometer im Ortszentrum Schilder und Ampeln abbauen, die ganze Verkehrsfläche einebnen und pflastern? Muss das nicht unweigerlich zu einem Verkehrs-Tohuwabohu führen? In den niedersächsischen Landesbehörden war die Angst vor einem Fehlschlag so groß, dass sich die Gemeinde verpflichten musste, im Falle eines Fehlschlags die Baumaßnahmen rückgängig zu machen - aus eigenen Mitteln. Das Risiko war nicht gering: Die Gesamtkosten des Projekts beliefen sich am Ende auf 2,1 Millionen Euro, die sich die Gemeinte Bohmte mit der EU teilte.
2008 war der Umbau fertig. Die abschließende wissenschaftliche Auswertung des Projekts sorgte für Erleichterung. Zwar gab es im Jahr nach der Fertigstellung mehr Unfälle als vor dem Umbau. "Doch das Gefahrenpotential und die Unfallintensität haben eindeutig abgenommen, weil die Verkehrsteilnehmer jetzt zu mehr Aufmerksamkeit und Vorsicht praktisch gezwungen sind", meint der Leiter der Untersuchung, der Logistik-Experte Wolfgang Bode von der Fachhochschule Osnabrück. Viele der Blechschäden waren sogar direkt auf einen einzelnen neu aufgestellten Laternenmast zurückzuführen, der vor einem Gasthaus stand - und offenbar beim Ein- und Ausparken störte. Er wurde inzwischen wieder entfernt.
Bode und sein Team nahmen nicht nur die Unfallstatistik unter die Lupe. Sie analysierten auch Videosequenzen und baten Anwohner, Ladeninhaber, Gastwirte und Passanten um ihre Meinung. "Einige wussten nicht, wie sie sich im Shared Space verhalten sollten, fühlten sich unsicher", sagt Simon Deutler, der die Auswertung wissenschaftlich bearbeitet hat. Offenbar spielt das individuelle Selbstbewusstsein eine große Rolle, meint Deutler. Es bestimmt zum Beispiel die Zeit, die ein Passant braucht, um die neu gestaltete Straße zu überqueren. Wer sich unsicher fühlt, braucht dafür sogar länger als vor dem Umbau.
Entscheidend ist für Bode jedoch, dass sich für die meisten Anwohner die Lebensqualität verbessert hat. Auch die Geschäftsleute bewerten Shared Space im Schnitt als Erfolg. Der Verkehr fließt nun zwar langsamer, aber dafür gleichmäßiger. Die Aufenthaltsqualität, wie die Forscher es nennen, ist im Shared-Space-Bereich deutlich gestiegen.
Das Potenzial der Idee scheint gewaltig: Umgehungsstraßen verschlingen viele Millionen Euro und zerstören die Landschaft. Und geschätzte 20 Millionen Verkehrsschilder und Millionen von Ampeln, die in Deutschland den Verkehr regulieren, müssen aufgestellt und gewartet werden. Shared Space kommt im Idealfall ganz ohne sie aus. Es genügt, sich rechts zu halten. "Alles uniform zu machen, durch Regeln und Schilder - das ist verrückt. Wenn man die Leute ständig anleitet und behandelt wie Idioten, benehmen sie sich irgendwann wie Idioten, wen wundert das?", sagte der 2008 verstorbene Monderman in einem Interview mit der taz.
Weniger Regeln, mehr eigene Aufmerksamkeit und Verantwortung, besserer und sichererer Verkehrsfluss - dass diese Rechnung augeht, davon ist auch Anja Hänel vom Verkehrsclub Deutschland überzeugt. "Shared Space bringt mehr Lebensqualität in den Straßenraum, sagt die Verkehrsexpertin. Sie sieht die Chancen für weitere Shared-Space-Projekte steigen. Zumal in Zukunft immer weniger Autos auf der Straße fahren und an der Straße parken werden. "Denn der Trend geht weg vom Individualverkehr", meint Hänel.
Das Medienecho der Bohmter Pioniertat machte auch die Hamburger Stadtväter hellhörig. Noch im selben Jahr fragte das Hamburger "Abendblatt" seine Leser, wie die hanseatischen Shared-Space-Flächen einmal heißen sollen. Offenbar hatte man an der Elbe Sorge, dass der englische Ausdruck auf Widerstand stoßen würde. So heißt das Projekt nun "Gemeinschaftsstraße" (was keine gute Übersetzung ist).
Geplant sind bislang fünf Pilotprojekte in fünf Hamburger Bezirken. Der Baubeginn steht noch nicht fest. Man habe bei der Planung "einen Gang rausgenommen", so Pressesprecher Enno Isermann. Nicht nur, weil Straßenbau-Gelder in die Ausbesserung der Schlaglöcher aus dem vergangenen Rekord-Winter umgeschichtet wurden. Die Stadt will möglichst viele Interessengruppen an den Planungen beteiligen. Wie wichtig das ist, das haben die Hamburger von Bohmte gelernt.
Irgendwann, vor dem Baubeginn, meldeten sich die Blinden- und Behindertenvertretungen bei der Gemeinde. Das Problem lag auf der Hand: Shared Space setzt auf Blickkontakt und ein "normales" Reaktionsvermögen der Verkehrsteilnehmer. Was, wenn beides eingeschränkt ist? Orientierung für Sehbehinderte sollen nun "taktile Leitstreifen" geben, die mit dem Blindenstab gut zu ertasten sind. Wieder ein Problem gelöst. Allerdings zeigte sich dann, dass manche Autofahrer die weißen Streifen für eine Parkflächen-Kennzeichnung halten.
Von solchen Unsicherheiten lassen sich die Bohmter nicht beirren. Mittlerweile ist Shared Space im Ort so gut akzeptiert, dass die Bürger darüber diskutieren, den umgestalteten Bereich zu erweitern. Allerdings nur, wenn wieder EU-Mittel fließen.
Buchtipp
Shared Space
Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume
Verein zur Förderung kommunalpolitischer Arbeit
1. Auflage, Mai 2010, 214 Seiten