Die Ansprüche waren schon denkbar gering. Und dennoch erwarteten viele von Cancún einen Scherbenhaufen. Es ist anders gekommen: Entstanden ist ein neues Gefäß, wenn auch eines, das Risse hat und brechen kann. Und es ist noch fast leer: Die Staatengemeinschaft hat in Mexiko gerade einmal den Boden bedeckt, gefüllt werden muss die neue Töpferei auf dem Klimagipfel in Durban im kommenden Jahr. Der Erfolg von Cancún hat aber weniger mit dem Produkt zu tun als mit dem Produktionsprozess: Klimaverträge werden weiter unter dem Dach der UN verhandelt. Mit dem Anspruch, dass 194 Staaten gemeinsam ihren Willen erklären, eine Politik formulieren. Das ist die Botschaft. Cancún hat den Multiltateralismus vorerst gerettet - das ist essentiell für den Klimaschutz, aber auch für die gesamte internationale Diplomatie.
Denn der Vertrauensverlust nach dem Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels 2009 war immens, unerwartet nachhaltig - und blieb nicht nur auf die Klimapolitik beschränkt. Das gesamte Verhandlungssystem der UN wurde in Frage gestellt. Insofern stand in Cancún noch mehr auf dem Spiel als die schon gewichtige Frage, ob es gelingt, das Vertrauen zurückzugewinnen und die Hoffnung zu schaffen, dass in Durban der nötige große Wurf gelingt. Jetzt ist sogar mehr gelungen als das. Neben dem Vertrauensgewinn für die UN-Architektur - an dem auch die erfolgreiche Naturschutzkonferenz in Nagoya ihren Anteil hat - haben sich die Staaten bei erstaunlich vielen konkreten Punkten geeinigt. Dies allerdings sehr unkonkret. Und damit treten auch schon die Schwächen von Cancún hervor, die vom augenblicklichen Jubel überdeckt werden.
Ein Gewinn der symbolischen Politik
Cancún ist ein Gewinn der symbolischen Politik. Die Sachpolitik muss noch folgen. Beispiel grüner Fonds: Die Staaten haben in Mexiko keine Antwort darauf gefunden, woher das Geld für den Klimaschutzfonds kommen soll. Von dieser Frage hängt aber entscheidend ab, ob das neue Instrument funktionieren wird. Unklar ist ebenfalls, wie das vereinbarte Waldschutzprogramm aussehen wird - und ob vermieden werden kann, dass der neue Mechanismus genauso missbraucht wird wie der Clean Development Mechanismus (CDM) des Kyoto-Protokolls: Hierbei erwerben Firmen aus Industriestaaten Emissionszertifikate, wenn sie neue Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern anschieben. Aus dem anfangs hochgelobten Zertifikate-Handel ist jedoch ein undurchsichtiges Milliardengeschäft geworden, bei dem Unternehmen Geld mit längst bestehenden Projekten verdienen. Oder mit Programmen, die schlichtweg keinen Klimaschutzeffekt haben.
Wenn nicht frühzeitig Riegel vorgeschoben werden, könnte das neue Waldschutz-Werkzeug ebenfalls ein Greenwashing-Opfer werden. Das zumindest befürchten einige Umweltorganisationen: Im schlimmsten Fall erhielten Firmen Geld dafür, dass sie bestehende Biotope roden und dann riesige Monokulturen anpflanzen. Formell gäbe es dann zwar auf der gleichen Fläche mehr Wald. Doch er würde weniger CO2 speichern als das alte, gewachsene Grün. Und hätte nicht annähernd dessen Artenvielfalt. So weit das Szenario. Doch wenn der Durban-Gipfel für den Waldschutz harte Kriterien festlegt und strikte Kontrollen schafft, muss es so weit nicht kommen.
Der Gipfel in Südafrika muss noch einiges mehr leisten: Festlegen, dass das in Cancún zwar endlich anerkannte, aber doch nur zur Kenntnis genommene Zwei-Grad-Ziel verbindliches Völkerrecht wird. Und erreichen, dass auch China und die USA im neuen Kyoto-Regime Reduktionsverpflichtungen eingehen. Die bloße Verlängerung der bestehenden Kyoto-Vereinbarungen ließe die beiden Hauptemittenten weiter außen vor und würde dadurch den wohl größten Fehler des Protokolls wiederholen. Zur vermeintlichen Fußnote ist im Cancún-Jubel ein weiteres Problem geworden: die Lücke, die sich nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls auftut. Auch wenn in Durban ein neues Abkommen auf den Weg gebracht wird, dauert dessen Ratifizierung Jahre. Wie der Zeitraum dazwischen überbrückt werden kann, muss noch geklärt werden. Und vor allem, wie der internationale Emissionshandel auch ohne Kyoto-Basis weiter funktionieren kann.
Cancún hat also vieles offen gelassen - und ist genau deshalb zum Erfolg geworden. Mexikos Außenministerin Espinosa hat die Staaten nur um sich versammeln können, weil sie Klimafonds, Waldschutz und Zwei-Grad-Ziel benannt, aber nicht ausgestaltet hat. Und weil sie das wichtigste Instrument, die konkreten CO2-Einsparziele, wieder aus dem Papier herausgenommen hat. Wie diese in das Dokument von Durban gelangen werden, ist damit die dringlichste Frage geworden, die Cancún stellt.

Europa muss vorangehen
Eine der großen Klimamächte muss nun den Anfang machen, mutige Zielvorgaben festlegen - und so das Gefäß füllen, das die Staaten in Cancún aufgestellt haben. Ohne diese Vertrauensbasis werden andere Länder nicht folgen, wird in Durban der Kern eines neuen Abkommens, also neue ambitionierte Reduktionsziele, nicht zu erreichen sein. Vorangehen kann bei der jetzigen Konstellation nur ein Akteur: die Europäische Union. In den USA wird es nach dem furiosen Scheitern von Obamas Power Act auf absehbare Zeit kein ambitioniertes Klima- und Energiegesetz mehr geben. Dass die Umweltbehörde den Klimaschutz im Alleingang mit Einzelregelungen massiv voranbringt, ist kaum zu erwarten. Wenn sich die USA aber nicht bewegen, bewegt sich auch China nicht. Das hat Peking immer wieder klargemacht. Und wenn diese beiden Großmächte sich gegenseitig blockieren, verharren wiederum andere wichtige Staaten wie Indien und Brasilien in ihrer abwartenden Position.
Auflösen kann diese Blockade also nur die EU. Dass sie in der Lage ist, mit ambitionierte Zielen und Programmen eine Führungsrolle zu übernehmen, hat sie in der Vergangenheit bewiesen. In den vergangenen beiden Jahren ist allerdings aus der klimapolitischen Führungsmacht ebenfalls ein Zauderer geworden - das wurde auch bei den Verhandlungen in Cancún deutlich. Die EU zögert, kalkuliert, zockt mit. Ihre klimapolitische Gestaltungskraft ist verschwunden, zerronnen zwischen Finanz- und Eurokrise und nationalen Streitereien.
Dass mit dem früheren Umweltkommissar Stavros Dimas ein mutiger Klimakämpfer in Brüssel fehlt, auch das spielt eine Rolle. Schwerer wiegt aber die augenblickliche Führungslosigkeit der Gemeinschaft, die auch durch Merkels neuen Nationalismus entstanden ist. Deutschland hat zusammen mit Frankreich Skepsis und Zwietracht gesät - und letztlich so Europa auf der internationalen Bühne handlungsunfähig gemacht. Gerade hier, auf der klimapolitischen Bühne, ist die EU aber stärker gefragt denn je.
Kurzum: Nur wenn die EU in der Lage ist, weltpolitisch mit einer Stimme zu sprechen, kann sie klimapolitisch die Führungsrolle übernehmen, die sie übernehmen muss. Voraussetzung dafür ist - und damit wohl auch für das Gelingen von Durban - eine Rückbesinnung der EU auf ihre Werte und ihre frühere Kraft zur Integration und Vision - politikübergreifend wie auch auf dem Feld der Umwelt- und Klimapolitik. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben es in der Hand, auf die anderen Staaten neu zuzugehen und diese Rückkehr einzuleiten. Dann gewinnt die EU die Politikfähigkeit wieder, die sie selbst braucht. Und die die Weltklimapolitik braucht. Sie ist derzeit aufs Engste mit der Europapolitik verbunden. Auch das ist eine der Lektionen von Cancún.