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Eine Freundschaft für's Leben?
Kennengelernt haben wir uns vor knapp 25 Jahren. So lange dauert diese Beziehung nun schon. Sie hatte ihre Höhen und Tiefen – wie jede Freundschaft – doch so ganz trennen wollten wir uns eigentlich nie. Irgendwann auf der Strecke scheinen wir uns allerdings etwas aus den Augen verloren zu haben.
Bemerkenswert ist, dass meine Freundschaft mit dem Baum in einer Phase begonnen hat, als es ihm gar nicht gut ging. Er kränkelte, mir wurde beigebracht ihm zu helfen. Bis zu einem gewissen Grad habe ich mich sogar für seine Krankheit verantwortlich gefühlt. In diesem Sinne ist unsere Bindung also aus einem schlechten Gewissen heraus entstanden. Eigentlich kein guter Start für eine Beziehung.
Eine einseitige Freundschaft
Ich bin mit dem Waldsterben aufgewachsen. Von der Grundschule bis zum frühen Teenageralter fanden regelmäßig Lehr-Ausflüge in und um den Wald herum statt. Saurer Regen, der Wald als Ökosystem und Lebensraum, Luftverschmutzung und Rettung des Waldes waren alltägliche Schlagworte. Sie wurden erklärt und analysiert. Der Bodenforscher Bernhard Ulrich hatte vorhergesagt, dass bereits 1986 die ersten Wälder abgestorben sein würden. Höchste Zeit also, eine enge Bindung mit dem Wald, den Bäumen anzustreben. Denn Freunde helfen sich ja bekanntlich gegenseitig. Und spätestens jetzt war es an der Zeit, etwas zurückzugeben. Denn problematisch wird eine Freundschaft dann, wenn einer den anderen konsequent ausnutzt und als selbstverständlich hinnimmt.

Neuartige Waldschäden wurden entdeckt
Ohne dass es mir bewusst war, konnte ich dank der Wälder ein sehr bequemes, katastrophenarmes Leben führen. Nicht nur, dass Bäume für ein ausgeglichenes Klima sorgen, oder das für uns lebenswichtige Wasser speichern und reinigen. Sie produzieren außerdem Sauerstoff, schützen vor Bodenerosion und fungieren als Schadstofffilter.
In den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts standen Wissenschaftler dann vor einem neuen, unbekannten Problem. Schon vor 1900 waren Waldschäden in der Nähe von Industrieanlagen, verursacht durch deren Abgase, zu beobachten. Seit 1975 wurden diese Schäden allerdings auch an Bäumen in emittentenfernen Gebieten entdeckt. Schadstoffe aus der Luft drangen durch Niederschläge in den Boden ein und zerstörten dort das Feinwurzelsystem der Bäume. Die Folge: die Wasser- und Nährstoffaufnahme der Wälder wurde stark beschädigt. Bäume verhungerten und verdursteten. Die Schuld am Desaster wurde vor allen Dingen den Emissionen aus Autoverkehr, Industrie und Landwirtschaft zugesprochen.
Einige Jahre lang hatte ich riesige Angst, dass ich meinen Freund verlieren könnte. Und damit die Möglichkeit, auf diesem Planeten zu leben. Mit der Zeit nahm diese Angst ab. Unter anderem auch, weil ich schlicht und einfach nicht mehr mit dem Thema Waldsterben konfrontiert wurde. In den Medien wurde es ruhiger und auch pädagogisch stand anderes auf dem Lehrplan. Es schien, als sei die Gefahr gebannt und sei es wieder Zeit, dass mein Freund etwas für mich tut. Das normale Wechselspiel einer Beziehung eben. Außerdem erklärte die damalige Bundesumweltministerin Renate Künast das Waldsterben 2003 offiziell für beendet. Ich brauchte mir also keine Sorgen mehr zu machen.
Wie hat sich der Wald in der Zwischenzeit entwickelt?
Dieses Jahr wurde ich dann erstmals wieder auf meinen alten Freund aufmerksam. Natürlich hatten wir uns in der Zwischenzeit öfter mal getroffen. Ich habe seine frische Luft, sein Schattenspenden und seine vielfältigen Farben genossen. Aber wir hatten uns auf einem angenehmen, oberflächlichen Niveau eingependelt. 2011 ist offiziell zum internationalen Jahr der Wälder erklärt worden. Grund genug, um tiefer nachzubohren, wie der deutsche Wald sich entwickelt hat – denn offensichtlich lebt er noch.
Die Zahlen zum Waldbestand in Deutschland sehen heute auf den ersten Blick gut aus. Etwa 30 Prozent der Bodenfläche sind hier mit Wald bedeckt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Waldfläche um knapp 3.000 Quadratkilometer angewachsen. Und nach Angaben der Bundesregierung wächst er stetig weiter. Die Zeit bezeichnete das Waldsterben 2004 gar als „Panikwort“. In die Welt gesetzt von Forstleuten, dankbar angenommen und aufgeputscht von Medien und Politik.

Alarmierende Erkenntnisse
Durch die Einführung von Katalysatoren in Autos, Filteranlagen in Industriebetrieben, Bodenschutzkalkungen und forstlichen Maßnahmen wird seit knapp 30 Jahren versucht, dem Waldsterben entgegen zu wirken. Allein die Emissionen von Schwefeldioxid haben stark abgenommen. 1990 lagen sie noch bei über 5.000.000 Tonnen. Bis 2003 ist dieser Wert unter 1.000.000 Tonnen gefallen.
Trotzdem galten 2009 64 Prozent der Bäume in unseren Wäldern als krank. Ein Wert, der über dem 1984 gemessenen liegt. Damals waren „lediglich“ 56 Prozent des Bestands geschädigt. Die Entwicklung ist alarmierend, dachte ich doch, ich hätte meinen Freund gut gepflegt und sein Zustand hätte sich zum Positiven gewandelt.
Vor zwei Jahren wurden 37 Prozent aller Bäume als schwach geschädigt gelistet, 27 Prozent als stark geschädigt bis abgestorben. Vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen und Sachsen haben sich die gesundheitlichen Werte der Wälder verschlechtert. Besonders betroffen sind Buchen und Eichen. Ihre Bestände werden zu fast 50 Prozent in der Schadstufe zwei bis vier (starke Schäden bis abgestorben) geführt.
Das schlechte Gewissen meldet sich
Woran liegt diese Negativentwicklung? Zwar hat die Schwefeldioxid-Belastung der Wälder deutlich abgenommen, doch gleichzeitig ist das Verkehrsaufkommen in Deutschland immens gestiegen. Allein während der letzten zehn Jahre ist die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge in Deutschland um etwa dreieinhalb Millionen gewachsen. Der Ausstoß von Ammoniak, der hauptsächlich von der Landwirtschaft verursacht wird, hat sich seit 1990 nur marginal verändert.
Außerdem sind die Gesundheitsprobleme des Waldes keine kurzfristigen. Zur Genesung sind langfristige Maßnahmen erforderlich, die natürlich auch finanziell aufwändiger sind. Die Veränderungen durch den Klimawandel tragen ihr Übriges zum Zustand der Bäume bei.
Der Schreck ist groß und prompt meldet sich auch das schlechte Gewissen wieder zurück. Ich hätte, ich sollte, ich wollte... Aber Selbstvorwürfe sind jetzt wohl müßig. Wichtig ist, dass ich meinen Freund nicht mehr als selbstverständlich hinnehme. Natürlich musste ich damit rechnen, dass er nicht per Wunderheilung über Nacht gesund geworden ist. Wie soll das Ökosystem Wald gesund werden und überleben, wenn wir gleichzeitig den Rest der Natur durch unsere Lebensweise systematisch schädigen?
Ich hätte meinen Freund nicht aus den Augen verlieren sollen. Denn braucht er mich jetzt noch genauso wie vor 25 Jahren. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist.