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Energiewende "Bis 2020 raus aus der Kernenergie"

Die Nuklearkatastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima hat der Diskussion um eine Abkehr von der Kernenergie und eine Umstellung der Stromproduktion auf erneuerbare Energien wieder Aktualität verliehen. Wie und wie schnell könnte ein solcher Umstieg erfolgen? Und wie teuer würde er für die Verbraucher? GEO-Autor Jürgen Bischoff sprach darüber mit Dr.-Ing. Joachim Nitsch, 70, Seniorwissenschaftler beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Stuttgart, wo unter anderem die Konzepte für das Solarstromprojekt Desertec entwickelt wurden. Seit vielen Jahren ist Nitsch einer der führenden deutschen Experten auf dem Gebiet der regenerativen Energien und Mitautor der jährlich im Auftrag des Bundesumweltministeriums erarbeiteten "Leitszenarien für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland".

Herr Nitsch, bis wann könnte die Stromproduktion in Deutschland vollständig auf regenerative Energiequellen umgestellt sein?

Wenn wir den Weg, den wir in den letzten zehn Jahren eingeschlagen haben, konsequent weiterverfolgen, können wir die Stromversorgung bis zum Jahr 2050 vollständig auf erneuerbare Energien umstellen.

Welche Voraussetzungen braucht es dafür?

Zum einen muss der Ausbau erneuerbarer Energiequellen noch forciert werden. Zweitens muss die übrige Stromversorgung komplett umgebaut werden: Sie muss sich diesen neuen Energieträgern anpassen. Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Grundlastkraftwerke, also Kernenergie- und Braunkohlekraftwerke, schnell und umfassend zurückgedrängt werden. Neu geplante Verbrennungskraftwerke müssen, drittens, einerseits kohlendioxidarm sein und andererseits sehr flexibel. Da kommen nur Gaskraftwerke in Frage, die sich ideal auf Produktionsschwankungen bei den erneuerbaren Energien einstellen können.

Energiewende: Dr.-Ing. Joachim Nitsch
Dr.-Ing. Joachim Nitsch
© Stadt Stuttgart
Energiewende: Parabolrinnenkraftwerk in Kalifornien: Die gebündelten Sonnenstrahlen erhitzen mit Öl gefüllte Leitungen. Mit der heißen Flüssigkeit wird Wasserdampf erzeugt, der Turbinen antreibt
Parabolrinnenkraftwerk in Kalifornien: Die gebündelten Sonnenstrahlen erhitzen mit Öl gefüllte Leitungen. Mit der heißen Flüssigkeit wird Wasserdampf erzeugt, der Turbinen antreibt
© Michael Melford/National Geographic Society/Corbis

Weil sie schnell regelbar sind, wenn der Wind mal schwächer weht.

Ja, und weil sie relativ geringe Fix- und Investitionskosten haben. Damit sind sie auch bei geringen Auslastungen noch wirtschaftlich attraktiv. Und viertens brauchen wir einen Ausbau der Netze. Man kann vereinfacht sagen: Je größer die Stromnetze, die miteinander gekoppelt sind, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Schwankungen auszugleichen. Und schließlich kann man auch in das Verbrauchsmuster eingreifen, also in das Lastmanagement. Man kann den Stromverbrauch an das Angebot anpassen. Die Netze müssen also intelligenter werden und größer, damit wir die unterschiedlichen Energiequellen verknüpfen und aufeinander abstimmen können. Wenn wir die 100-Prozent-Marke anpeilen, gerät natürlich auch das europäische Umfeld in den Blick. Das heißt zum Beispiel, dass die Windenergie von Nordsee und Atlantik kommt, während im Süden die Sonne der entscheidende Energielieferant wäre.

Welche Quellen sehen sie noch?

Wir haben bei der Windenergie noch ein beträchtliches Potenzial: an Land, wenn wir die Anlagen an den heutigen Standorten durch jene ersetzen, die in 10, 15 Jahren Stand der Technik sind, mit einer Leistung von drei bis fünf Megawatt je Windrad; und in Süddeutschland, wo der Windenergieausbau ja bisher blockiert war. Dazu kommt die Offshore-Windtechnik in der Nordsee, sodass der Wind bei uns die tragende Säule in der Stromversorgung sein wird. Auch die Photovoltaik wird noch zunehmen, weil die Kosten für die Solarzellen in den nächsten Jahren durch neue Technologien drastisch zurückgehen werden. Wir haben zudem bei der Biomasse noch beachtliche Möglichkeiten, wenn wir sie mehr zur Strom- und Wärmeerzeugung nutzen und stattdessen die Biokraftstofferzeugung drosseln, die ökologisch obsolet ist. Längerfristig gibt es auch bei der Geothermie noch Potenzial. Unsere Untersuchungen zeigen aber, dass wir nicht anstreben sollten, alles im Lande zu decken. Im europäischen Verbund haben wir die Chance, große Windenergiepotenziale zu nutzen, etwa in der Biskaya, und wir haben natürlich auch die riesigen solarthermischen Potenziale in Südeuropa und Nordafrika.

Es heißt, Strom aus Erneuerbaren würde für die Verbraucher teurer. Stimmt das?

Dazu gibt es zwei Antworten: Im Moment, bei der jetzigen Kostenkalkulation, ist der Strom aus Erneuerbaren noch teurer als der aus konventionellen Quellen. Aber wir sehen, dass die Kostendifferenz durch den technischen Fortschritt bei den Erneuerbaren ständig kleiner wird. Die zweite Antwort ist: Energie wird immer etwas kosten. Bei den erneuerbaren Energien sehen wir alle Kosten sofort, weil wir die Anlagen komplett hinstellen müssen. Alle anderen Energiearten zeigen heute nicht ihre wahren Kosten. Bei der Kernenergie muss ich die versteckten Kosten ja nicht aufzählen; bei der fossilen Energie tragen die Kosten dann vielleicht unsere Kinder und Enkel in Form von Klimaschäden. Das heißt, die Kostendiskussion darf nicht nur kurzfristig und betriebswirtschaftlich, sondern sie muss langfristig und volkswirtschaftlich geführt werden.

Die derzeitige Bundesregierung bezeichnet die Kernenergie gern als Brückentechnologie auf dem Weg zur Vollversorgung mit regenerativen Energien. Kritiker halten sie für das Gegenteil, für eine Bremse.

Sie ist mit der Laufzeitverlängerung garantiert eine Bremse. Es war ja nicht umsonst ein Teil des Kernenergiekonsenses, die großen Kraftwerke zurückzufahren, weil, wie schon erwähnt, die Erneuerbaren von den Strommengen her beträchtliche Mengen auch für die Grundlast bereitstellen können. Das Ziel ist ja, dass sie im Jahr 2020 bereits 40 Prozent der Strommenge liefern. Aber die Kernkraft blockiert das eher. Unabhängig von jedem Restrisiko stehen sie deshalb im Systemkonflikt mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien.

Der Atomkonsens der alten Bundesregierung sah ja den endgültigen Ausstieg auch erst für den Zeitraum nach 2020 vor.

Wir können wir die Vergangenheit nicht ungeschehen machen: Wir haben immerhin noch über 20 Gigawatt Kernkraft im Lande stehen. Ich kann mir aber vorstellen, dass wir im Lichte der Neubewertung des Risikos jetzt auch den ursprünglichen Ausstiegsfahrplan noch einmal beschleunigen können, der ja vorsah, dass bis zum Jahr 2022/23 das letzte Kraftwerk abgeschaltet wird. Vom Angebot der erneuerbaren Energien her und mit dem Zubau von Gaskraftwerken wäre das zu leisten.

Wie lange, denken Sie, würde das dauern?

Bis zum Jahr 2020 könnten wir komplett aus der Kernenergie raus sein.

Lesen Sie zum selben Thema auch den Essay "Woher der Strom der Zukunft kommt" von GEO-Autor Jürgen Bischoff im GEO Magazin Nr. 4/2011.

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