"Immer schön auf den Wegen bleiben", mahnt Hauptmann Jens Junkersdorf und hebt einen metallenen Gegenstand auf. Der Bundeswehrsoldat und Fachkundige für Munition ist für die Sicherheit auf dem Truppenübungsplatz Putlos an der Ostsee zuständig. Auch wenn das Gelände regelmäßig nach gefährlichen Übungsresten durchkämmt wird: Abseits der Schotterpisten können überall Munitionsteile und explosive Blindgänger liegen, von der Gewehr- bis zur Artilleriemunition.

Heute, an seinem dienstfreien Sonntag, ist Junkersdorf für die Sicherheit einer ungewöhnlich bunten Truppe zuständig. Es sind fünfzehn Mitglieder der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Schleswig-Holstein und Hamburg, die er über "seinen" Platz führt. Vogelkundler und Naturschützer interessieren sich schon lange für die Truppenübungsplätze der Bundeswehr - weil sie dort fast unberührte Natur vorfinden. Und damit eine ungewöhnliche Artenvielfalt. Putlos etwa ist als Refugium für die stark gefährdete Rotbauchunke bekannt. Aber auch viele andere seltene Tier- und Pflanzenarten fühlen sich in der militärischen Sperrzone inmitten der welligen Küstenlandschaft wohl.
Das Übungsgelände erstreckt sich von der Wagrien-Kaserne nahe dem holsteinischen Oldenburg in westlicher und nördlicher Richtung bis an die Hohwachter Bucht. Abseits der Fahrwege, Zielvorrichtungen, Stellflächen und Schießbahnen zeigen sich märchenhaft verwilderte, sich selbst überlassene Areale: offene Grasflächen, Trockenrasen, Weißdorngebüsche, Tümpel und Buchen-Mischwälder, Sandstrände mit Dünen und Steilufern.
Sich selbst überlassen - das bedeutet vor allem, dass hier keine Landwirtschaft betrieben wird, erläutert Junkersdorf. Intensive, ertragsorientierte Bodenbearbeitung und hoher Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln gehören zu den wichtigsten Gründen für einen dramatischen Rückgang der Artenvielfalt. Es bedeutet außerdem: Hier hat seit der Gründung des Platzes im Jahr 1934 keine Flurbereinigung stattgefunden, bei der wertvolle kleinräumige Biotope wie Knicks und Hecken verschwunden wären. Hier gibt es keine großflächig versiegelten Bodenflächen. Es gibt keine öffentlichen Straßen, die das Gelände zerschneiden, keine Strandhotels oder Campingplätze. Der Geschützdonner scheint die hier lebenden Tiere nicht zu stören. Zweimal läuft vor uns ein Rudel Damwild über den Weg. Hin und wieder sind Wühlspuren von Wildschweinen zu sehen. An Wild-Unfälle mit Blindgängern kann sich Junkersdorf nicht erinnern. Deutschlands letzte Wildnis also?
Wildnis, wie sie die International Union for Conservation of Nature (IUCN) definiert - das sind ausgedehnte, unberührte Gebiete mit ursprünglichem Charakter. So etwas findet man in Deutschland kaum noch. Nicht einmal ein halbes Prozent der gesamten Staatsfläche machen solche ökologischen Oasen aus, schätzt Henning Thiessen vom Schleswig-Holsteinischen Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume, der auch an der Führung teilnimmt. Und auch der Truppenübungsplatz Putlos gehört nach dieser strengen Definition nicht dazu.
Doch nicht nur das Unterlassen macht Übungsplätze biologisch wertvoll. Auch wenn es paradox erscheinen mag: Es sind auch die militärischen Aktivitäten, die manche Teilflächen in kostbare Biotope verwandeln. Etwa dadurch, dass Panzer die Grasnarbe aufreißen oder Leuchtspurmunition Rasen- und Heideflächen in Brand setzt. Auf manchen Flächen werden gezielt junge Bäume entfernt, um die Trockenrasen- und Heidelandschaft offen zu halten. Militärische Übungsplätze erfüllen so eine wichtige Funktion im Verbund der Natur-Oasen in der Agrarlandschaft - auch durch ihre schiere Größe.
Zusammengenommen erstrecken sich die 25 Truppenübungsplätze in Deutschland auf einer Fläche von 2400 Quadratkilometern. Das entspricht fast der Ausdehnung des Saarlandes. Sechzig Prozent ihrer Fläche bestehen aus Wäldern.


Beim Weitergehen wundern wir uns über Stahlseile, die quer über den Weg verlaufen. Sie dienen dazu, Zielvorrichtungen zu bewegen, erklärt Junkersdorf. Dann bringt uns ein dünner, kaum sichtbarer Kupferdraht ins Straucheln. Er stammt von einem TOW-Lenkflugkörper, sagt Junkersdorf, während er den Draht aufwickelt und am Wegrand deponiert. Beim weiteren Aufstieg zum 60 Meter hohen Wienberg dann die erste Belohnung für das frühe Aufstehen am Sonntagmorgen: drei Kraniche. Die mächtigen Tiere erheben sich von der Schießbahn 7 und gleiten majestätisch außer Sichtweite.
Junkersdorf sieht sich um. Das Feld der Naturfreunde hat sich in die Länge gezogen. Er kennt das schon. Er macht die Führung nicht zum ersten Mal. Schuld ist nicht die Steigung, sondern die interessante Botanik am Wegrand. Die "Grasforscher", wie der Soldat die Flora-Afficionados augenzwinkernd nennt, werden hier magisch angezogen von seltenen Spezies, wie dem schönen Zittergras. Doch wer blindlings ins knietiefe Grün stolpert, den pfeift er zurück. Safety first!
Junkersdorf ist 30 Jahre jung und seit zwei Jahren Leiter des Truppenübungsplatzes. Der Umgang mit Fauna- und Flora-Experten macht ihm sichtlich Spaß. Schon im vergangenen Jahr habe er eine Führung mit Ornithologen geleitet, erzählt er. Einer von ihnen habe gemeint: "Jetzt müsste noch ein Seeadler vorbeikommen und sich einen Fisch greifen." Wenige Minuten später sei der "bestellte" Adler tatsächlich vorbeigekommen.
Heute sind die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft vorerst auch ohne Adler zufrieden. Auf den Spitzen der Weißdornbüsche zeigen sich in einiger Entfernung Neuntöter. Es sind seltene Vögel, die in Ostholstein nur hier auf dem Truppenübungsplatz so zahlreich vorkommen. Und Schwarzkehlchen. Die Schwarzkehlchen breiten sich von Süden kommend aus, erklärt Wilfried Knief, der stellvertretende Vorsitzende der AG. Ob das mit dem Klimawandel zu tun hat? Schon möglich. Jedenfalls lieben sie, wie die Neuntöter, halboffene Buschlandschaften, wie sie hier an der Ostsee zu finden sind.

Der Weg führt uns, vorbei am bewaldeten Wienberg mit den Überresten eines über 4000 Jahre alten Langgrabes, in Richtung Ostsee. Direkt oberhalb der Steilküste, bei den Findlingen eines weiteren Grabes aus der Jungsteinzeit, machen wir Rast. Uferschwalben, die hier ihre Brutröhren in die Abbruchkante graben, umschwirren uns schnarrend. Um die Granit-Blöcke wachsen duftender Majoran und Thymian. Dann geht ein Raunen durch die AG.
"Ist das einer"? - Horchend sehen sich die Vogelexperten an. Der Blick durch die Spektive bleibt ergebnislos. Schließlich sind sich die Experten einig: Es ist einer! Ein Karmingimpel. Blicken lässt sich der scheue Vogel mit dem namengebenden roten Kopf nicht. Doch er verrät sich durch seinen markanten, flötenden Gesang. Er gehört, wie das Schwarzkehlchen, zu den Vögeln, die ihre Brutgebiete ausdehnen. Sichtungen und Kartierungen der Ornithologen zeigen, dass er sich, ursprünglich aus Asien kommend, in westlicher Richtung ausbreitet.
Truppenübungsplätze sind für viele Spezies Trittsteine auf dem Weg in neue Lebensräume. Für Schlagzeilen sorgte ein Wolfspaar, dass sich 1998 auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz ansiedelte. Vermutlich war es aus Polen eingewandert. Heute teilt sich dort ein ganzes Rudel mit den übenden Truppen den Platz. Weniger medienwirksam, aber aus ökologischer Sicht nicht weniger bedeutsam, sind die Putloser Rotbauchunken. Die seltene Amphibie kommt hier in vergleichsweise großer Zahl vor. Und sie hat von hier aus mittlerweile auch Gebiete jenseits der Platzgrenze für sich entdeckt. Obwohl sie dort nicht annähernd so gute Lebensbedingungen vorfindet.
Ökologisch wertvolle Flächen wie Truppenübungsplätze sollen keine Ghettos für seltene Spezies bleiben. Trittsteine machen nur Sinn im Verbund. Darum haben sich die Länder der Europäischen Union im Jahr 1992 auf die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) geeinigt. Sie soll seither für den Erhalt wild lebender Arten, ihrer Lebensräume und deren Vernetzung sorgen. Große Teile der deutschen Truppenübungsplätze bestehen aus solchen FFH-Gebieten. In Putlos sind es sogar 85 Prozent. In der Praxis bedeutet das, dass die militärische Nutzung und die Baumaßnahmen auf solchen Flächen mit den Naturschutzbehörden der Länder abgestimmt werden müssen. Im Zweifel hat jedoch die militärische Nutzung Vorrang.

Die Exkursion nähert sich ihrem Ende. Der Weg führt an der imposanten Steilküste entlang. Im Windschatten der Sanddorn-Gebüsche sitzen Wegerich-Scheckenfalter auf den blauroten Blüten von Ochsenzungen. Der Schmetterling gilt als stark gefährdet. Hier begegnet er uns auf Schritt und Tritt.
Und dann, wie bestellt, taucht am Horizont ein Seeadler auf. "Ein Altvogel", meint einer der Ornithologen. Mit seinen mächtigen, breiten Schwingen schwebt das Tier in einiger Entfernung die Küste entlang und verschwindet hinter einem Waldstück. Die Vogelkundler nicken zufrieden. Der Soldat auch. Man wünscht sich zum Abschied alles Gute.