In den Zeiten der internationalen Finanzkrisen scheinen sie die heimlichen Hauptakteure zu sein: Rating-Agenturen. In den Nachrichtensendungen und Tageszeitungen haben Meldungen wie "Rating-Agentur wertet Griechenland weiter ab" zeitweise Hochkonjunktur.
Tatsächlich spielen Rating-Agenturen im komplexen Wirtschaftsgeschehen eine wichtige Rolle. Denn sie beurteilen, wie kreditwürdig ein Unternehmen oder ein Staat ist: Wird er das geliehene Geld samt der vereinbarten Zinsen zurückzahlen können? Wie groß ist das Ausfallrisiko, also das Risiko, dass ein Geldgeber sein Geld nie wiedersieht?

In Europa stehen die Rating-Agenturen in der Kritik. Zum einen, weil es privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Unternehmen sind, die von ihren Auftraggebern bezahlt werden. Wie sie zu ihren Bewertungen kommen, legen die Agenturen nicht offen. Manche Finanzexperten beklagen darum Intransparenz und mangelnde Unabhängigkeit. Interessenkonflikte seien vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass sich die "großen Drei", die US-amerikanischen Rating-Agenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch Ratings, rund 90 Prozent des Rating-Marktes teilen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger monierte, es gebe unter den Rating-Agenturen weder einen echten Wettbewerb, noch hafteten sie für ihre Beurteilungen.
Die Finanzwelt schaut auf drei Buchstaben
Mit ihren Ratings von AAA (Bestnote) bis D (zahlungsunfähig), sagen Kritiker, können sie die Misere ganzer Staaten beschleunigen und verschlimmern. Besonders dramatisch können die Auswirkungen sein, wenn eine Rating-Agentur einen ohnehin klammen Staat weiter abwertet. Denn wenn die Kreditwürdigkeit eines Landes sinkt, verschlechtern sich auch die Konditionen, zu denen es sich Geld leihen kann. So erhöhen sich etwa die zu zahlenden Zinsen. Diese zusätzliche Bürde geht wiederum zu Lasten der Kreditwürdigkeit des Landes. Es ist ein teuflischer Kreislauf, in den jüngst auch Griechenland und Portugal gerieten.
Aber auch ein vergleichsweise prosperierendes EU-Land wie Frankreich bekam schon die Macht der Rating-Agenturen zu spüren. Im November 2010 wertete Standard & Poor's Frankreich irrtümlich ab. Für rund 90 Minuten verlor die "Grande Nation" ihre Bestnote. "Nach ersten Schätzungen kostet Europa dieser Fehler rund 500 Milliarden Euro", sagt Jörg Sommer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung.
"Es kann nicht sein, dass ein paar anonyme Analysten intransparent und unter schweren Interessenkonflikten Staaten und Unternehmen entwerten", sagt Sommer - und fordert eine europäische Alternative zu den drei amerikanischen Schwergewichten. Eine populäre Forderung, spätestens seit der Finanzkrise. Doch die Deutsche Umweltstiftung geht noch einen Schritt weiter.
Sie schlägt eine europäische Antwort auf Moody's & Co. vor, die nicht gewinnorientiert, sondern dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Arbeitstitel: ENRA (Europäische Nachhaltige Rating-Agentur). "Ratings sind zur Zeit weder nachhaltig, noch fair, transparent, oder dem Gemeinwohl verpflichtet. Geht es dem Bürger gut, dann geht es auch der Wirtschaft gut. Umgekehrt stimmt dieser Satz nicht zwangsläufig. Darum muss das Gemeinwohl klares Primat haben. Nachhaltig wirtschaftende Unternehmen haben das schon verstanden", sagt der Koordinator des Projekts, Christian Neugebauer von der Deutschen Umweltstiftung.
"Es sind ganz klare Werte, anhand derer ENRA Investments ebenso wie Staaten oder Unternehmen bewerten wird: Schutz der Schöpfung, aktiver Schutz der Menschenrechte", sagt Christian Neugebauer.
Illustre Schar von Unterstützern
Der Vorstoß der Deutschen Umweltstiftung wird unterstützt von einem breiten Bündnis von 450 führenden Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, aus Kirchen- und Gewerkschaftskreisen, darunter Heiner Geißler, Ernst Ulrich von Weizsäcker und zahlreiche Bundestagsabgeordnete. Auch die drei führenden Nachhaltigkeitsbanken, Ethikbank, GLS Bank und Triodos Bank, sind im Boot. "Die Bewertung von wirtschaftlichem Handeln darf sich nicht nur auf den finanziellen Erfolg beschränken. Es müssen ökologische und soziale Aspekte immer mit berücksichtigt werden und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Hierfür brauche wir einen neuen Impuls", sagt Georg Schürmann, Geschäftsleiter der Triodos-Bank Deutschland.
ENRA solle nicht die schon bestehenden, privatwirtschaftlichen Rating-Agenturen, wie etwa oekom Research, ersetzen oder in Konkurrenz zu ihnen treten, betont Neugebauer. So wie auch die Stiftung Warentest nicht alle Labortests selber durchführt, werde auch ENRA die Expertise anderer Rating-Agenturen nutzen, die auf Nachhaltigkeit spezialisiert sind.
Christian Neugebauer spricht von einem "Projekt der Zivilgesellschaft", bei dem die Initiatoren von Anfang an auf Transparenz, Dialog und Mitbestimmung setzen: gemeinnützige Stiftung, gemeinnützige Genossenschaft oder gemeinnützige Aktiengesellschaft? Auch die geeignete Rechtsform von ENRA werden alle Interessierten auf der Homepage der Deutschen Umweltstiftung diskutieren können. Jeder wird den aktuellen Diskussionsstand einsehen und, nach Art von Wikipedia, mit Vorschlägen an der Weiterentwicklung der Idee mitarbeiten können.
Anfang Juni 2012, auf dem Kongress "Transformation 2.0" des deutschen Gewerkschaftsbundes, der Evangelischen Kirche in Deutschland und des deutschen Naturschutzrings in Berlin will Neugebauer die ersten, "belastbaren" Ergebnisse präsentieren - in Form einer Machbarkeitsstudie. Wenn alles glatt läuft, könnte ENRA schon Wochen später ihre Arbeit aufnehmen.