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Lebensmittelproduktion Brot für den Müllberg

Warum krumme Möhren nicht verkauft werden dürfen, wieso das Mindesthaltbarkeitsdatum zu absurden Vernichtungsaktionen von Lebensmitteln führt - und wie das alles unser Klima schädigt

Inhaltsverzeichnis

Reiche Beute für Mülltaucher

Eine Großkonditorei in Lüneburg sortiert Kekse aus, weil deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Unverdorben und ungeöffnet landet das Gebäck in dem Abfallcontainer hinterm Gebäude. Der 52-jährige selbsternannte "Mülltaucher" Karsten Hilsen hat das registriert, fischt die Kekspackungen aus dem Müll und nimmt sie mit. Doch Wachmänner haben ihn dabei beobachtet und rufen nun die Polizei. Der Inhaber der Konditorei erstattet Anzeige gegen den Mann, der von Nahrungsmitteln lebt, die andere nicht mehr haben wollen.

Es geht in dem Prozess nicht um die Kekse, es geht um Grundsätzliches: Auch weggeworfenes Gebäck bleibe Eigentum des Unternehmens, befindet die Staatsanwaltschaft; allerdings wird die Anklage wegen Diebstahls aufgrund des geringen Wertes der Ware bald fallen gelassen. Wegen angeblichen Hausfriedensbruchs soll der Lüneburger allerdings 125 Euro Strafe zahlen. Er wehrt sich dagegen, legt Revision ein. Seit Januar 2012 wird neu verhandelt; mit dem Urteil wird im Frühjahr gerechnet.

Warum noch Genießbares wegwerfen?

Der Fall ist nicht der einzige in Deutschland. Eine wachsende Zahl von Menschen sieht nicht ein, weshalb noch genießbare Lebensmittel vernichtet werden sollen. Diese Mülltaucher nutzen den Abfall unserer Gesellschaft - nicht nur, weil sie über wenig Geld verfügen, sondern weil sie die Vernichtung von eigentlich durchaus noch genießbaren Lebensmitteln für unmoralisch halten, für die Folge eines gedankenlosen Konsumwahns.

Zumal die Methode der Konditorei System hat: Bäckereien sortieren jeden Tag etwa zehn bis 20 Prozent ihres Gebäcks und ihrer Brote aus. Pro Jahr landen in Deutschland unter anderem dadurch 500 000 Tonnen Brot im Abfall. Auch die Mitarbeiter von Supermärkten werfen tonnenweise Nahrhaftes weg: Denn während manche Läden Produkte mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum zu Sonderpreisen anbieten, nehmen andere die Nahrung schon zwei Tage vor dem Stichdatum aus den Regalen und schütten sie in Müllcontainer. Teilweise sind die Angestellten auch nur bequem, oder sie haben zu viel zu tun: Neue Etiketten mit reduzierten Preisen an die Ware zu heften ist ihnen zu aufwendig.

Lebensmittelproduktion: Rund ein Drittel aller Lebensmittel wird jährlich vernichtet - weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, weil es nicht makellos aussieht, weil ein Überangebot die Preise zu tief fallen lässt
Rund ein Drittel aller Lebensmittel wird jährlich vernichtet - weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, weil es nicht makellos aussieht, weil ein Überangebot die Preise zu tief fallen lässt
© Peter Dazeley/ Photographer's Choice/Getty Images

Mülltaucher sind keine Einzelfälle

Die Menge der ausrangierten Waren ist so groß, dass immer mehr Mülltaucher ihr täglich Brot aus den Marktcontainern zusammensuchen. In Internet-Foren berichten sie aus ganz Deutschland von ihren Funden: hier fünf Netze voller Zitronen, dort zwei Kilogramm Kartoffeln oder fünf Schachteln Pralinen - und immer wieder Obst und Gemüse.

Das Problem, das sich dahinter offenbart, wiegt schwer: Weltweit landen Jahr für Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel auf dem Müll statt bei den Menschen, so die Welternährungsorganisation FAO. Das ist ein Drittel aller Lebensmittel, die also entweder bei Ernte, Lagerung und Transport vernichtet, in Lebensmittelfabriken und bei Einzelhändlern verschwendet oder - schließlich doch noch auf dem Mittagstisch gelandet - nach einer Mahlzeit vom Konsumenten in den Abfall gegeben werden.

Allein in Deutschland enden auf diese Weise jährlich mehr als zehn Millionen Tonnen Nahrung in den Entsorgunsgcontainern der Hersteller oder im Mülleimer des privaten Verbrauchers. Gleichzeitig ist fast jeder siebte Mensch auf der Welt unterernährt.

Für den Teller nicht hübsch genug

Supermärkte und Hersteller sortieren bereits früh aus, was sie dem Verbraucher nicht zumuten wollen - und das gilt nicht nur für Waren, die wirklich verdorben sind, sondern auch für all jene, die bestimmten ästhetischen Standards nicht gerecht werden. Eine britische Firma beispielsweise wirft Möhren weg, die nicht orangefarben genug strahlen oder die zu stark gekrümmt sind, um in einem Stück von den Kunden geschält werden zu können. In einer niederländischen Pommes-Fabrik werden Fritten sofort aussortiert, wenn sie während des Transports gebrochen sind.

Ein deutscher Bio-Landwirt lässt 40 bis 50 Prozent seiner Kartoffeln auf dem Feld liegen, weil sie für den Handel zu groß oder zu klein sind. Eine Vermarktungsnorm der Europäischen Union gibt ihnen das Recht dazu. Sie schreibt unter anderem vor, dass Obst und Gemüse "ganz", "frisch", "fest" sowie "sorgfältig gepflückt" sein muss und welche Größe es zu haben hat. Deshalb gelangen Früchte mit Dellen oder Gemüse mit Flecken erst gar nicht in die Nähe der Käufer.

Den größten Teil der Lebensmittel-Müllberge in den Industrieländern verursachen allerdings nicht die Großkonzerne und Landwirte, sondern die Konsumenten - in Deutschland etwa sind sie für fast 75 Prozent aller Essensabfälle verantwortlich. Jeder Deutsche entsorgt demnach 94 Kilogramm Nahrungsmittel pro Jahr - das sind fünf Scheiben Brot oder zwei Äpfel pro Tag.

Addiert man die Nahrungsmengen, die in den europäischen Haushalten vergeudet werden, könnte man damit theoretisch mindestens jeden dritten Hungrigen auf unserem Planeten mit 2500 Kilokalorien (etwa dem Bedarf eines jungen Mitteleuropäers) versorgen. Mit der gesamten Fülle der verschwendeten Lebensmittel aller Industriestaaten ließe sich sogar die doppelte Anzahl der derzeit Unterernährten satt machen.

Deutsche werfen vor allem Obst und Gemüse weg; beides zusammen macht fast die Hälfte der vernichteten Lebensmittel aus. Fertiggerichte und daheim bereitete Speisen bilden weitere 15 Prozent des Nahrungsmülls, ähnlich viel ist es bei Gebäck und Brot. Fleisch, Fisch sowie Milchprodukte machen jeweils elf Prozent des Lebensmittelabfalls aus. Doch warum vergeuden Menschen, was ihr Überleben sichern sollte? Die Antwort: Jedem sechsten Deutschen schmeckt ganz offenbar nicht, was er da auf dem Teller hat, er kauft falsch ein - das jedenfalls ergab eine bundesweite Umfrage.

Jeder vierte Deutsche kauft einfach zu viel

Darüber hinaus zeigt die Studie: Jeder vierte Deutsche packt im Supermarkt schlicht zu viel ein und kann nicht alle Lebensmittel konsumieren, ehe sie verderben. Würden alle Nahrungsmittel richtig gelagert - also Kartoffeln und viele andere Gemüsesorten beispielsweise dort, wo es kühl und dunkel ist - und würden die Verbraucher ihre Einkäufe mit Listen und einem Blick in den Kühlschrank präziser planen, ließen sich allein in Deutschland bis zu 3,9 Millionen Tonnen Nahrungsmüll pro Jahr vermeiden. Das sind knapp 60 Prozent der Essensabfälle in deutschen Haushalten.

Es sind allerdings auch die Hersteller, die den Verbraucher verführen: Zu große Packungen oder Sonderangebote - "Zwei zum Preis von einem" - verleiten zum Hamstern. Zudem sind kleine Portionen etwa von Nudeln oder Brot oft unangemessen teuer. Vor allem aber verleitet das Mindesthaltbarkeitsdatum zur Verschwendung. Denn viele Konsumenten gehen davon aus, dass die betreffenden Lebensmittel verdorben sind, wenn dieses Datum auf der Packung erreicht oder überschritten ist. Tatsächlich besagt dieses Etikett aber nur, bis zu welchem Tag ein Hersteller die gewohnte Qualität der Ware garantiert. Sie ist dann aber weder vergammelt noch ungenießbar. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz rät daher, den eigenen Sinnen zu trauen und Essbares erst dann wegzuwerfen, wenn es schlecht aussieht, riecht oder schmeckt.

Das Geschäft mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum

Einige Nahrungsmittelproduzenten nutzen sogar die Unkenntnis der Käufer und die Neigung der Kaufhallen zum schnellen Aussortieren aus. Sie setzen das Mindesthaltbarkeitsdatum extra früh an und erreichen damit, dass bei ihnen schon bald neue Ware bestellt werden muss. Die Vergeudung von Nahrung ist nicht nur ein Problem der reichen Industriestaaten. Mit jährlich 630 Millionen Tonnen gehen in Entwicklungsländern fast genauso große Mengen von Essbarem verloren wie in industriell fortgeschritteneren Regionen (670 Millionen Tonnen). Doch die Gründe dafür sind in den ärmeren Ländern ganz andere: Die Hauptverluste erfolgen hier bei der Ernte, während des Transports und der Lagerung. Es fehlt unter anderem häufig an Geld, um Nutzfahrzeuge mit Kühlanlagen zu kaufen. In Bangladesch etwa befördern Rikscha-Fahrer die Milch ohne Kühlung stundenlang über schwer befahrbare Wege - bei Temperaturen von gut 30 Grad Celsius. Nicht immer ist sie danach noch genießbar.

Andernorts mangelt es an Schutz vor Schädlingen. Große Mengen von frisch geerntetem Reis auf Feldern in Tadschikistan fallen Nagetieren und Parasiten zum Opfer, weil die Bauern keine schützenden Getreidespeicher besitzen. Manche Bodenfrucht wächst schlicht nie aus, weil es an Wasser mangelt. Gleichzeitig haben allein jene Nahrungsmittel, die in den USA Jahr für Jahr weggeworfen werden, bei ihrer Erzeugung 40 Kubikkilometer Wasser verbraucht - für das Bewässern der Felder und zum Tränken der Tiere. Zum Vergleich: Der Bodensee enthält 50 Kubikkilometer.

Folgen für das Weltklima

Damit offenbart sich, dass die Verschwendung von Lebensmitteln auch ein ökologisches Problem ist. Nicht nur Wasser wird verschwendet, sondern es werden auch enorme landwirtschaftliche Flächen sinnlos bebaut. Eine solche Vergeudung hat sogar Folgen für das Weltklima. Allein die in Deutschland entsorgten Lebensmittel sind für einen jährlichen Ausstoß von 19,7 Millionen Tonnen CO2 ursächlich. Das entspricht etwa jener Menge des Treibhausgases, die in einem Bundesland wie Baden-Württemberg durch den gesamten Straßenverkehr entsteht.

Nur die Briten werfen im europäischen Vergleich mehr Nahrung weg als die Deutschen. Würden sie ihre Verschwendung komplett stoppen, könnten sie ebenso viel an CO2-Emissionen einsparen, wie sich erreichen ließe, wenn jedes fünfte Auto von den britischen Straßen verschwände.

Lesen Sie nächste Woche: Chemie in der Nahrung: Warum manche Tomatensuppen nicht eine einzige Tomate enthalten, womit "Füllstoffe" uns täuschen sollen. Und welche Rolle "Schaumverhüter" und "Antischnurrmittel" spielen.

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