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Er sei schon mehrmals gebeten worden, für das Fernsehen mit Genießermiene unbehandeltes Grundwasser zu trinken, erzählt Gerhard Gehrke. Das fiel ihm nicht leicht. Denn es schmeckt einfach nicht - weil es keinen Sauerstoff enthält und zu viel Eisen und Mangan. Es legt sich unangenehm ölig um die Zunge.
Gehrke leitet Hamburgs ältestes Wasserwerk auf dem Baursberg. Besucher führt er gerne durch die denkmalgeschützten Hallen im noblen Hamburger Westen, hoch über der Elbe. Aus elf Brunnen, die zwischen 100 und 320 Meter in die Sedimente des eiszeitlichen Urstromtals reichen, fördert das Wasserwerk täglich 16.000 Kubikmeter Wasser. Gehrke und seine Mitarbeiter setzen dem Wasser Sauerstoff zu, entfernen Eisen und Mangan. Das Ergebnis kann sich sogar mit teuren Edel-Wässerchen messen. In einer Blindverkostung im NDR-Fernsehen erklärten die Experten das Leitungswasser zum Sieger.
Das "bestkontrollierte Lebensmittel"

Dass das Hamburger Leitungswasser auch chemisch einwandfrei ist, wird durch 55.000 Proben jährlich bestätigt. Als "bestkontrolliertes Lebensmittel" bewirbt das Unternehmen Hamburg Wasser, eine hundertprozentige Tochter der Stadt, sein Produkt. Und CO2-sparend ist es auch noch. Es muss ja nicht abgefüllt in Flaschen Hunderte von Kilometern transportiert werden. Also alles super, oder?
Auf Fragen nach Nitrat, Pestizid- und Medikamentenrückständen und anderen Bedrohungen für "sein" Wasser reagiert Gehrke gelassen. "Von den Grenzwerten sind wir in der Regel weit weg", sagt er. Doch reicht es, wenn das Wasser, das aus dem Hahn kommt, Schadstoffe nur im Rahmen gesetzlich vorgeschriebener Grenzwerte enthält?
Sebastian Schönauer warnt davor, sich damit zufriedenzugeben. Für den Sprecher des Arbeitskreises "Wasser" des BUND ist nicht nur entscheidend, was "hinten rauskommt". Sondern auch, wie es um die Ressource Wasser generell bestellt ist. "Die Bestandsaufnahme zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie der EU hat gezeigt, dass unsere Gewässer insgesamt gefährdet sind, also auch das Grundwasser", sagt Schönauer. Hauptverursacher: die industrielle Landwirtschaft mit ihren Pestiziden, ihrem synthetischen Dünger, den Hinterlassenschaften der Massentierhaltung. "Um unter den geforderten Grenzwerten zu bleiben, müssen heute viele Wasserwerke belastetes mit sauberem oder weniger belastetem Wasser mischen. Viele Brunnen mussten schon aufgegeben werden", sagt Schönauer.
Pflanzendünger im Grundwasser
Beispiel Nitrat: Die Substanz ist der am häufigsten vorkommende Schadstoff im Grundwasser. Sie kann auch dem Menschen gefährlich werden, weil sie im Körper zu krebsverdächtigen Nitrosaminen umgebildet wird. In manchen Wasserwerken muss das Nitrat dem Rohwasser in einem aufwändigen Verfahren entzogen werden. Doch die so genannte Denitrifizierung übertüncht nur ein ungelöstes Problem. Auch das Gesundheitsministerium und das Bundesumweltamt stellten in ihrem Bericht über die Trinkwasserqualität in Deutschland von 2011 fest: "Die Erfolge bei der Einhaltung des Nitratgrenzwertes im Trinkwasser können auch in weiterreichenden Aufbereitungsmaßnahmen zur Nitrateliminierung in den großen, berichtspflichtigen Wasserversorgungen begründet sein." Schönauer fordert darum einen "flächendeckenden Gewässerschutz". Und ist sich darin mit den deutschen Wasserversorgern einig.
Schon 1990 richteten die Hanseaten rund um das Wasserwerk Baursberg das erste Wasserschutzgebiet auf Hamburger Stadtgebiet ein. Und seit 1999 kooperiert Hamburg Wasser mit Landwirten. Das Ziel: weniger Schadstoffeinträge aus der Agrarwirtschaft. Vorbild war das Kooperationsmodell, das Sebastian Schönauer schon in den 80er Jahren angeregt hatte. Im Kern geht es darum, dass sich Landwirte von Experten beraten lassen, wie sie im Wassereinzugsgebiet von Wasserwerken den Pestizid- und Düngereinsatz verringern oder ganz darauf verzichten können. Darüber hinaus kaufte Hamburg Wasser Ackerland und verpachtet es unter hohen Auflagen - einen Teil davon an einen Öko-Betrieb. "Bekanntlich hat diese Form der Landbewirtschaftung ohnehin einen hohen Stellenwert in Sachen Grundwasserschutz," sagt Hermann Kukowski, der im Unternehmen für die Kooperationen mit den Landwirten zuständig ist.

Trinkwasserschutz fängt auf dem Acker an
Für Schönauer ist das nur ein Anfang. "Auf lange Sicht werden die Wasserwerke bei der Einhaltung ihrer Grenzwerte durch die Kooperationen überfordert sein, wenn der Grundwasserschutz nicht auf das gesamte Wassereinzugsgebiet ausgedehnt wird." Damit die Wasserversorger am Ende nicht die Dummen sind, müssen insbesondere die Schadstoffeinträge durch die Landwirtschaft effektiv begrenzt werden, fordert Schönauer.

Zwar gibt es seit 1991 eine Richtlinie der EU, die das Ausbringen von Nitrat auf Ackerflächen regelt - eine dringend notwendige Ergänzung der Trinkwasser-Richtlinie mit ihren gesetzlichen Grenzwerten für Trinkwasser. Doch deren effektive Umsetzung verhindern bis heute die Chemie- und Landwirtschaftslobby, sagt Schönauer: zu viele Ausnahmeregelungen. De facto werde oft weit mehr ausgebracht: bis zu 270 Kilogramm Nitrat pro Hektar statt der von der EU vorgeschriebenen Höchstmenge von 170 Kilogramm.
Eine weitere unschöne Nebenwirkung mancher Mineraldünger: Sie enthalten radioaktives Uran. Das Schwermetall kommt natürlicherweise im Gestein vor, aber auch in bestimmten Phosphatdüngern. 2008 musste ein Wasserwerk im mecklenburgischen Palmzin vorübergehend stillgelegt werden - wegen zu hoher Uran-Werte. In unmittelbarer Nähe des Brunnens befand sich zu DDR-Zeiten ein Zwischenlager für Dünger. Die künstliche Pflanzennahrung wurde hier tonnenweise direkt auf das Erdreich gekippt und gelagert.
Unsachgemäße Lagerung ist heute zwar nicht mehr das Problem. Doch nach Angaben des Umweltbundesamtes gelangen noch heute 167 Tonnen Uran jährlich mit Phospatdüngern ganz regulär auf deutsche Äcker. Und von dort ins Grundwasser. Ein Grenzwert für Uran im Trinkwasser trat erst im November 2011 in Kraft, nachdem Verbraucherverbände Alarm geschlagen hatten. Ein Verbot von uranhaltigen Phosphatdüngern oder eine Mengenbegrenzung für das Ausbringen? Fehlanzeige.
"Nachhaltige" Chemikalien
An der Pestizid-Front sieht es nicht viel besser aus. Zwar seien Pestizide in seinem Wasserwerk kein Problem, erläutert Gerhard Gehrke. Im Stadtgebiet werde nun mal wenig gespritzt. Doch im benachbarten Kreis Pinneberg sieht das schon anders aus. Weil hier intensiv Landwirtschaft und Gartenbau betrieben werden, müssen fast alle Wasserwerke des Kreises mit Aktivkohlefiltern arbeiten. Mit ihnen lassen sich Chemikalien und ihre Abbauprodukte aus dem Wasser herausfiltern. Zum Beispiel Atrazin: Das Totalherbizid, das alle Pflanzen bis auf Mais und eine Handvoll andere Arten tötet, sollte angeblich biologisch abbaubar sein. Ist es aber nicht. "Seine Abbauprodukte bilden bis heute eine große Pestizid-Belastung unserer Gewässer", erläutert Schönauer. Und das, obwohl die Chemikalie schon 1991 verboten wurde. "Und das gleiche Problem haben wir jetzt mit Glyphosat." Das meistverkaufte Unkrautvernichtungsmittel der Welt, zunächst als für den Menschen ungefährlich gepriesen, steht seit einigen Jahren im Verdacht, das Erbgut von Menschen und Tieren zu schädigen.
Immer wieder schrecken Medienberichte über weitere Gefährdungen des Trinkwassers die Öffentlichkeit auf: Altlasten, Medikamenten-Rückstände, Gärreste aus Biogasanlagen, undichte Abwasserleitungen. Das Brisante daran: Je nach Beschaffenheit der Erdschichten brauchen Regenwasser und Schadstoffe Jahre, bis sie ins Grundwasser gelangen. Manchmal sogar Jahrtausende.
In der Analyse des Baursberg-Wassers für das Jahr 2011 ist unter Nitrat vermerkt: fünf Miligramm pro Liter. Das ist ein Zehntel des Erlaubten. Uran: "n.n." - nicht nachweisbar. Es sind solche Werte, die Gerhard Gehrkes Gelassenheit überzeugend wirken lassen. Blauäugig ist er darum nicht. Die Analytik werde immer feiner, sagt er. "Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Jahren noch Überraschungen erleben werden."
