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Neue Ökonomie Es reicht!

Ausgerechnet aus dem Wirtschaftswunderland China kam das Alarmsignal: Wer auf ungezügeltes Wachstum setzt, muss mit dem Kollaps rechnen. Dabei gibt es längst Modelle einer nachhaltigen Ökonomie - auf lokaler Ebene

Vielleicht wird der 12. Januar 2013 als der Tag in den Kalendern der Zukunft stehen, an dem der globale Wertewandel begann. Oder als Meilenstein in der Endzeit einer einst blühenden Kultur. Es war jener Samstag, an dem Beijing die Luft ausging. Apokalyptische TV-Bilder von Hochhaus-Silhouetten im Dunst vor einer verfinsterten Sonne flimmerten um die Welt. Feinstaubwerte unter 50 Mikrogramm pro Kubikmeter gelten als gute Luft, 150 Mikrogramm als problematisch für Kinder und Herzkranke, 300 als so ungesund, dass man längere Aktivitäten im Freien vermeiden sollte. Einen Höchstwert von 522 hatte die US-Botschaft in Beijing im Vorjahr schon einmal gemessen. Nun aber waren es bis zu 993 Mikrogramm.

Die Ursache: keine Naturkatastrophe. Kein Chemieunfall. Nur das ganz normale Wirtschaften. Die Natur wies plakativ darauf hin, dass die "Grenzen des Wachstums" real sind, auf die der Club of Rome 1972 aufmerksam gemacht hat. Über 20 Millionen Einwohner unter der Smogglocke hofften nur auf eines: Wind. Im Abgasnebel um Luft zu ringen, zermürbt Reiche und Arme, Müllmänner wie Minister.

Neue Ökonomie: Länger nutzen, reparieren, teilen sind die Schlagworte des neuen Wirtschaftens
Länger nutzen, reparieren, teilen sind die Schlagworte des neuen Wirtschaftens
© Ocean/Corbis

Kurz darauf kündigte Beijings Bürgermeister Maßnahmen an, darunter den Plan, das "übermäßige Wachstum" beim Autoabsatz stärker zu kontrollieren. In seiner Rede vor dem Volkskongress einige Wochen später übte der scheidende Premierminister Wen Jiabao Selbstkritik. Das chinesische Wirtschaftswachstum sei "unausgewogen, instabil und nicht nachhaltig". Die Umweltverschmutzung zehrt nach Berechnungen chinesischer Umweltplaner inzwischen 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf. Saurer Regen aus Chinas Schwefelabgasen vergiftet dabei nicht nur das eigene Land; er regnet auch über Korea und Japan ab. Und giftige Quecksilberpartikel wehen bis in die USA.

Die Folgen des "Immer Mehr"

Ein Anlass, sehr grundsätzlich über Wirtschaft, Wachstum und Wertschöpfung nachzudenken. Über die Folgen des "Immer mehr" bei Produktion und Konsum. Über die leise innere Stimme, die sagt, dass es nicht ewig so weitergehen kann: Auf der einen Seite die Übersättigung in den Gesellschaften der Wohlhabenden; allein in Deutschland landen pro Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel und 400 000 Tonnen Schuhe und Textilien auf dem Müll. Auf der anderen Seite die Not der Armen, bei denen etwas Wachstum ankommen müsste, damit sie sich wenigstens das Lebensnotwendigste leisten könnten. Und über allem der ökologische Imperativ: Schützt eure Lebensgrundlagen, oder ihr werdet es bereuen!

Rohstoffvorkommen sind endlich; Umweltgüter wie Luft und Gewässer tolerieren Übernutzung und Verschmutzung eine Weile, aber nicht auf Dauer. Heute wissen wir ziemlich genau, wie weit wir jene Begrenzungen überschreiten, die uns die Natur vorgibt. Die Organisation "Global Footprint Network" kalkuliert alljährlich den "ökologischen Fußabdruck" der Menschheit. "2012 hat die Weltbevölkerung das 1,4-Fache dessen verbraucht, das die Biosphäre regenerieren kann", schreibt ihr Präsident, der Schweizer Mathis Wackernagel. Das heißt: Wir zehren das Naturkapital auf: Wälder, Böden, Gewässer.

Wir verhalten uns wie trotzige Kinder

Warum tun das eigentlich auch und gerade wir in den Industrienationen? Warum verhalten wir uns wie trotzige Kinder und opfern für kurzfristigen Genuss langfristige Lebensqualität? Warum ist es so attraktiv, zu kaufen und zu besitzen, auch Dinge, die man "eigentlich" gar nicht braucht? Warum lieben wir das "Schneller, höher, weiter" über den Wolken, auch wenn die Vernunft weiß, dass Fliegen besonders klimaschädlich ist? Die jährlichen Flugpassagierzahlen in Deutschland sind zwischen 2000 und 2011 von 143 Millionen auf 200 Millionen gestiegen, und die Luftfracht hat sich, mit Rosen aus Kenia und Hummer aus Kanada im Gepäck, im selben Zeitraum von 2,6 Millionen Tonnen auf 4,4 Millionen erhöht.

Eine nüchterne und bittere Erklärung gibt der Sozialpsychologe Harald Welzer. Er sagt: "Die Konzepte von Wachstum, Mobilität, Fortschritt sind in unserem emotionalen Haushalt verankert. Von Appellen bleiben sie völlig unberührt, denn die erreichen nur die kognitive Ebene." Seine Folgerung: Gegen lieb gewonnene Gewohnheiten und Verlockungen der Konsumgesellschaft kämen "Es ist fünf nach zwölf"-Botschaften nicht an.

Und die Politik? Sie schürt die Wachstumseuphorie, statt sie zu bremsen. Zwar tönt auch in Politikerköpfen die zweifelnde innere Stimme. Doch den Auftrag, Lösungen zu finden, delegieren Regierungen - bisher folgenlos - an Expertengremien. Frankreich bot mit Joseph Stiglitz und Amartya Sen gleich zwei Wirtschaftsnobelpreisträger auf, um neue Maßzahlen für die Messung wahren Wohlstands zu suchen. In Deutschland debattierte eine Bundestags-Enquetekommission 31 Sitzungen lang über "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Und von den USA aus rechnete der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Weltbank-Ökonom Herman Daly vor, dass uns das Wirtschaftswachstum inzwischen "ärmer statt reicher" macht.

Das Bruttoinlandsprodukt ist blind für Wertbetrachtungen

Die Kritiker attackieren die herrschende Lehre der Makro-Ökonomie, weil deren Wachstumsbegriff auf "einer falschen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" beruhe und Kosten und Nutzen nicht trenne. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das die Wirtschaftsleistung eines Landes in Euro, Dollar oder Yen ausdrückt, ist blind für Wertbetrachtungen. Summiert wird alles, wofür Geld bezahlt wird - egal ob die Ausgaben für die Gesellschaft Katastrophe oder Segen bedeuten. Ein Tanker zerbricht, eine Ölplattform sinkt - die Sanierungsmilliarden steigern das BIP und das "Wachstum" ebenso, wie es die Ausgaben für die medizinische Behandlung der Smog-Opfer in China tun.

Doch als wären sie taub, beschwören Angela Merkel, François Hollande und Barack Obama weiter unisono den Wachstumskurs, genau wie ihre jeweiligen Kontrahenten. Selbst grüne Politiker stimmen längst ein, wobei sie auch dem erhofften Wachstum das Adjektiv "grün" voranstellen.

Der Grund für die seltene Eintracht: Die Wachstumslogik aufzukündigen, erscheint wie das Öffnen der Büchse der Pandora. Wären nicht bei Stillstand oder Schrumpfkurs Massenarbeitslosigkeit und Chaos vorprogrammiert? Vielleicht. Die Januartage in China zeigen allerdings, dass ein Zuviel auf Dauer mindestens ebenso schlimme Folgen haben kann. Und Pandoras Büchse in der griechischen Mythologie enthielt nicht nur Plagen, sondern auch Hoffnung.

Natur und Mensch sind erschöpft

Diese Hoffnung könnte heute paradoxerweise daher rühren, dass nicht nur die Natur unter zunehmender Erschöpfung leidet. Auch die Menschen sind erschöpft; psychische Erkrankungen zeigen besonders rasante Wachstumszahlen. Selbstheilung ist nah, wenn Patienten jenseits der Sehnsucht nach "Schneller, höher, weiter" ältere Werte entdecken, die unbezahlbar sind: Zeit zu haben für sich und andere; sich gegenseitig zu helfen. Diese Werte wieder in den Vordergrund zu rücken, eröffnet Spielräume für Postwachstums-Visionen. Wer Lust auf Gemeinsinn statt auf Konsum entwickelt, überlistet die mentalen Strukturen, die uns in der Wachstumsfalle halten.

Tim Jackson, Professor für Nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey, Berater der britischen Regierung und Autor des Buchs "Wohlstand ohne Wachstum", nennt den Lebensstil "alternativen Hedonismus". Harald Welzer spricht von "dem zivilgesellschaftlichen Projekt des 21. Jahrhunderts, dessen Umsetzung man an niemanden delegieren kann".

Welzer hat die Stiftung "Futurzwei" gegründet. Sie stellt Beispiele von Unternehmen und Initiativen vor, die anders leben und wirtschaften, lokal, dezentral, experimentierfreudig. "Die Beteiligten erleben, wie viel Spaß es macht, Wirklichkeit zu verändern", sagt Welzer. "Psychologen nennen diese Erfahrung 'Selbstwirksamkeit', sie ist äußerst befriedigend."

Vordenker Ludwig Erhard

Würde er noch leben, wäre vielleicht auch Ludwig Erhard alternativer Hedonist. Der "Vater" der sozialen Marktwirtschaft prophezeite im Jahr 1957, irgendwann werde "mit Sicherheit" und "zu Recht" die Frage gestellt werden, "ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen 'Fortschritt' mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen".

Lesen Sie nächste Woche: Die große Illusion - Warum die "Entkopplung" von Produktion und Rohstoffverbrauch nicht funktionieren kann.

GEO Nr. 07/13 - Gesellschaft: Einfach besser leben

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