Eine Koralle ist eine Schimäre, ein Mischwesen aus Tier und winziger Alge. Gemeinhin führen die Gefährten eine lange, stabile Partnerschaft. Doch unter Stress, in Phasen anhaltender, großer Belastung, gerät die Beziehung aus den Fugen. Die Partner werden einander zum Feind. Das Tier stößt, wie im Fieber, die Alge ab - und geht dabei selbst zugrunde. Übrig bleibt ein fahles Kalkskelett. Korallenbleiche, so heißt diese Krankheit.
Wer an die Folgen des Klimawandels denkt, dem fallen schmelzende Eisberge ein, wachsende Wüsten. Aber womöglich lauert die größte Gefahr, die von steigenden Temperaturen ausgeht, nicht oberhalb des Meeresspiegels, sondern knapp darunter. Wie das Verstummen der Kanarienvögel, früher, bei Gasentwicklung in den Kohlegruben, so künde das Bleichen der Korallen von der nahen Katastrophe, sagen einige Forscher; sie prophezeien das Sterben des australischen Great Barrier Reef.

Was steht auf dem Spiel?
Um das große Ganze in Augenschein zu nehmen, müsste man von einem Satelliten aus auf die Nordostküste Australiens blicken. Parallel zu ihr zieht sich, auf einer Länge von 2300 Kilometern, die größte von lebenden Organismen geschaffene Struktur der Erde. Das Große Barriereriff nennt man sie. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um viele Einzelriffe; 2900 sind es. Sie verteilen sich über eine Fläche von gut 350.000 Quadratkilometern, das entspricht der Größe Deutschlands.
Wer das Great Barrier Reef aus der Nähe betrachten will, muss weit hinaus aufs Meer. Die meisten der Riffe liegen mehr als 100 Kilometer vom Festland entfernt. Um etwa das Wheeler Reef zu erreichen, fährt man mit dem Motorboot drei Stunden durch tiefblaue See. Dann taucht am Horizont eine zitternde, weiße Linie auf. Ein Wellenkamm. Hier brechen sich die Wogen des Südpazifiks am 1,9 Quadratkilometer großen Riff.
Es gibt großartige Fotos von Riffen, von wuchernden Korallen und schillernden Fischschulen. Doch keines bereitet einen auf die Wirklichkeit vor. Sie ist ein Schock. Denn so berauschend die Farben, die Formen eines Riffs auf Bildern auch sind: Überwältigend wirkt es in seiner Dreidimensionalität. Ein Korallenriff ist eine Landschaft mit Hügeln, Ebenen, Schneisen und Höhlen.
Eine verwunschene Welt
An den Hängen recken sich Hirschgeweihe hervor, Fächer schwingen, in der sandigen Ebene liegen Seegurken. Ein Schwarzspitzen-Riffhai wedelt von dannen, Schildkröten glupschen einen an, Fische, von Schleiern umgarnt wie Märchenfeen, schweben vorüber. Man muss nicht tauchen können, um sie zu erleben. Das Wasser rund ums Wheeler Reef ist glasklar. Die Sicht beim Schnorcheln beträgt 15, vielleicht 20 Meter.

Nicht ein Partikel, der sie verschleierte. Wegen seiner Nährstoffarmut vergleichen Forscher das Meer in diesen Breitengraden mit einer Wüste. Und inmitten der Ödnis vielfältiges Leben: Riffe bedecken zwar nur einen Bruch- teil der ozeanischen Böden, etwa 0,1 bis 0,5 Prozent. Aber sie beherbergen ein Drittel aller Fischarten. Keine Nährstoffe, viel Biomasse: Wie die Fülle entsteht, ist weitgehend ungeklärt. Dieser Reichtum hängt vermutlich aber von einer Beziehung ab, die ein Tier und eine mikroskopisch kleine Alge miteinander eingehen. Eine Zweckehe, zu der die ungleichen Partner die Nährstoffarmut drängt.
Korallen sind Tiere
Ein Korallentier muss man sich wie eine tentakelbewehrte Qualle vorstellen. Doch im Gegensatz zu einer Qualle kann es sich nicht frei bewegen, es hängt am Riff fest. Nahrung schwimmt dort nicht in genügender Menge vorbei. Deshalb lagert das Korallentier im Alter von wenigen Wochen Mikroalgen ein, sogenannte Zooxanthellen. Diese Einzeller gehören zur Gruppe der Dinoflagellaten, wie Pflanzen können sie Fotosynthese betreiben. Die Zooxanthellen beginnen nun mithilfe von Sonnenenergie, Zucker herzustellen.
Einen großen Teil davon führen sie an das Korallentier ab, so kann es wachsen. Annähernd 600 Korallenarten existieren am Great Barrier Reef. Grob unterscheidet man zwischen Weich- und Steinkorallen. Letztere sind die Riffbildner. Sterben sie, bildet ihr aus Kalk bestehendes Skelett die neue Oberfläche. Darauf siedeln dann junge Korallentiere. So wächst, Generation um Generation, ein Riff. Jahrzehntelang dauert der Lebenszyklus der meisten Steinkorallen. Normalerweise.
Das Phänomen wurde im Sommer 1979 erstmals wissenschaftlich beschrieben. Korallen büßten ihre Farbe ein. Das tiefe, rötliche Braun schlug in durchscheinende Blässe um. Die „Korallenbleiche“ war im Prinzip nicht unbekannt. Als eine Reaktion auf geringe Salinität, starke Verschmutzung, auf ungewöhnlich hohe oder niedrige Temperaturen war sie bereits zuvor beobachtet worden, mal hier, mal dort. Plötzlich aber trat die Bleiche nicht nur sporadisch auf, sondern massenhaft.
Warum? - Die kurze Antwort lautet: Hitzestress. Die ausführliche führt zurück in das Jahr 1769. Damals ließ der Schotte James Watt die Dampfmaschine patentieren. Der Beginn der Industrialisierung. Seither hat sich die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre um 40 Prozent erhöht. Sie stieg von etwa 280 ppm (Teile auf eine Million Teilchen) zu James Watts Zeiten auf heute 400 ppm. Zeitlich etwas versetzt, kletterten weltweit die durchschnittlichen Temperaturen - nicht nur die der Luft. Die Ozeane erwärmten sich in den vergangenen 100 Jahren um 0,7 Grad Celsius. Man könnte annehmen, dass dieser Temperaturanstieg den Korallen nichts ausmacht. Leben sie nicht ohnehin nur in warmem Wasser? Ja. Aber: Sie leben jeweils nahe an ihrem Limit. Eine gewöhnlich in 30 Grad Celsius wachsende Koralle toleriert gerade noch 31 Grad. Eine in 25 Grad warmem Wasser siedelnde kommt bei 26 Grad in Stress. Der bereits erfolgte Temperaturanstieg hat alle schon gefährlich dicht an ihre Grenzen gebracht.
Diese Limits wurden in den Sommern von 1998 und 2002 weit überschritten: Sie gehörten zu den heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.
Die Bleiche hat viele Gründe
Neben der Erwärmung der Meere, sagt die Meeresbiologin Katharina Fabricius vom Australian Institute of Marine Science, existierten weitere Gründe für das Bleichen von Korallen, „sekundäre Faktoren“. Dazu zählt die Strömung: Korallen lieben es, umströmt zu werden. Die Artenvielfalt: Je mehr Fische ein Riff beherbergt, desto mehr Fressfeinde haben Algen, die den Korallen Konkurrenz machen. „Vor allem aber“, sagt Fabricius, „hängt das Leben im Meer natürlich von der Wasserqualität ab.“
Fabricius hat nachgewiesen, dass Riffe, die von nährstoffreichem Wasser umgeben sind, nur halb so viele Korallenarten besitzen wie Riffe in nährstoffarmem Wasser. Und viermal so viele Algen. Nährstoffe wirken also wie Brandbeschleuniger.
Dünger tötet Korallenlarven
Für Larven bedeuten sie sogar den sicheren Tod. Schüttete Katharina Fabricius in den Tank mit den orangefarbenen Stippen ein Tütchen Dünger, dann würden sie innerhalb von zwei bis vier Tagen sterben. Junge Korallentiere aber sind die Hoffnung für jedes zerstörte Riff. Nur im Larvenstadium können sich Korallen bewegen - und tote Flächen neu besiedeln.
Doch woher stammen die Nährstoffe, von denen die Forscherin spricht? Regen, der sie eintragen könnte, fällt über dem Riff kaum. Fabricius lädt ein Satellitenfoto auf ihren Computerbildschirm. Darauf sieht man die Mündungsgebiete zweier Flüsse. Das Bild entstand während einer Flut, ausgelöst durch schwere Unwetter über dem Festland. Der Burdekin River und der Mulgrave River schieben träge gelbe Wolken in die blaue See. Sedimente, an denen Partikel von Dünger, Pestiziden, fruchtbarer Erde kleben.
Die Zukunft der Korallenriffe
Dass sich das Große Barriereriff im Moment in einem - relativ - guten Zustand befindet, bezweifelt kaum ein Wissenschaftler. Allerdings schreiben ihn die meisten der Arbeit von Naturschützern zu - nicht etwa der Unschädlichkeit von Düngemitteln. Doch das sind Petitessen. Den Kern des Streits zwischen den Riffforschern begreift man erst, wenn man in die Zukunft blickt. Etwa in das Jahr 2050. Dann werden extremere Temperaturen Normalität sein. Um weitere ein bis zwei Grad Celsius wird die durchschnittliche Meerestemperatur bis dahin ansteigen, mancherorts also weit über 30 Grad Celsius betragen. Wird es unter den Bedingungen noch Korallen geben?
Spätestens an dieser Stelle muss man auf eine Erscheinung zu sprechen kommen, die den Klimawandel begleitet. Riffforscher nennen sie seinen "teuflischen Zwilling". Es ändern sich im Meer nicht nur die Temperaturen. Auch die Chemie der Ozeane wandelt sich. Etwa ein Drittel der durch den Menschen verursachten CO2-Emissionen nehmen die Ozeanoberflächen auf, jährlich neun Gigatonnen. Mit dem Wasser reagiert das Treibhausgas zu Kohlensäure. Dadurch sinkt der pH-Wert des Meerwassers. Studien zufolge ist er seit der Industrialisierung bereits um den Wert 0,1 gefallen und liegt heute bei 8,1.
Prognosen zufolge soll der pH-Wert der Ozeane bis Ende des Jahrhunderts um weitere 0,3 bis 0,4 Punkte fallen. Nach allem, was man heute weiß, wird es Korallen dann unmöglich sein, ein Kalkgerüst aufzubauen.