
Am Abend des 28. Oktober 1963 fassen sich die Brüder Bernhard und Siegfried Simon aus Leipzig ein Herz. Sie kauern im dichten Kiefernwald an der Wirler Spitze und wollen nur eins - nach drüben. Die innerdeutsche Grenze macht hier, in der Altmark zwischen Salzwedel und Wittenberge, einen markanten Knick nach Norden. Bernhard läuft los, tritt auf eine Mine, ein Bein wird zerfetzt. Sein Bruder kann ihn noch auf niedersächsisches Gebiet schleppen, holt Hilfe. Sie kommt zu spät. Auf der Fahrt ins Krankenhaus stirbt Bernhard, 18-jährig.
Rund 1000 Menschen - genaue Zahlen sind nicht bekannt - ließen auf der Suche nach Freiheit ihr Leben. Starben durch Minen, Gewehrkugeln von NVA-Grenzern, Selbstschussanlagen. Ertranken in den eiskalten Fluten der Ostsee oder der Elbe. Nahmen sich nach vereitelter Flucht das Leben.
Die menschenverachtende Grenze: ein Naturjuwel
Doch ein Vierteljahrhundert nach der "Republikflucht" an der Wirler Spitze geschieht, was bis zuletzt niemand für möglich hielt: Das Ende der DDR-Diktatur ist besiegelt. Die Grenze fällt. Und noch im Wendejahr 1989 nehmen Naturschützer von beiden Seiten ein Jahrhundertprojekt in Angriff: den tödlichen Grenzstreifen als Lebensader und lebendiges Denkmal, als "Grünes Band" zu erhalten. Als ein Netzwerk wertvoller Biotope, zwischen denen seltene Tiere und Pflanzen unbehelligt wandern und sich ausbreiten können.
Die Idee dazu hatte Kai Frobel vom BUND Naturschutz in Bayern. Er hatte schon als Schüler in den 70er-Jahren mit Fernglas und Notizblock die Vogelwelt an und auf dem Grenzstreifen erkundet - und so den Grundstein für eines der bedeutendsten Naturschutzprojekte in Deutschland gelegt. Heute, 25 Jahre später, macht der Geoökologe mit einer hochrangigen Delegation von Naturschützern und Politikern, darunter der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger und die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN), Beate Jessel, Station an den Binnendünen der Wirler Spitze. Um das Erreichte zu besichtigen und das Jubiläum zu feiern.
150 verschiedene Lebensraumtypen
Die Bilanz von einem Vierteljahrhundert Grünes Band Deutschland kann sich sehen lassen: Mehr als zwei Drittel seiner Fläche stehen heute unter Naturschutz. Biologen konnten fast 150 verschiedene Lebensraumtypen nachweisen, von denen fast zwei Drittel als gefährdet gelten: Trockenrasen, Sumpfgebiete, Heideflächen oder Salzwiesen sind die Heimat einer hoch spezialisierten Flora und Fauna. Es gibt entlang der ehemaligen Grenze zwei Nationalparks, drei Biosphärenreservate und 150 Naturschutzgebiete. 87 Prozent der insgesamt 177 Quadratkilometer gelten als naturnah.
Frobel fischt aus dem feinen Dünensand ein halbrundes Stückchen schwarzes Plastik. Ein Minenrest. Seit 1995 ist die Grenze bis auf wenige gekennzeichnete Gebiete minenfrei. Von dem monströsen Bauwerk zeugen an der Wirler Spitze nur ein originalgetreuer Grenzpfahl und der breite Fahrzeugsperrgraben, in dem sich heute Schwertlilien und Königsfarn wohlfühlen. Aus dem Kiefernwald schnurrt der Ruf eines Ziegenmelkers (Foto). Ein Vogel, der wie viele andere in der intensiv genutzten Agrarlandschaft kaum noch vorkommt. Frobels Augen leuchten.
Zwischen 50 und 200 Meter breit war der deutsch-deutsche Grenzstreifen, der auf fast 1400 Kilometer Länge Territorien und Menschen trennte - und paradoxerweise der Natur einen wertvollen Rückzugsraum bot. Weil die Flächen von Düngung und Pestiziden, von Wohn- und Straßenbau verschont blieben, erhielten sich hier wertvolle Biotope, die in den angrenzenden Landschaften längst verschwunden waren. An der Wirler Spitze sind es eiszeitliche Binnendünen. Die offenen Sand- und Heideflächen im Wald bieten Lebensraum für seltene, hoch spezialisierte Tier- und Pflanzenarten. Wie etwa die Blauflügelige Ödlandschrecke oder die Rote Röhrenspinne (Foto) - nur zwei von insgesamt 1200 Tier- und Pflanzenarten der Roten Liste, die im Grünen Band vorkommen.
Lebensader in der Agrarwüste
So paradox es scheint: Die tödliche Grenze war für die Natur ein Glücksfall. Und das lässt einen alarmierenden Umkehrschluss zu: "Dass sich Natur nur im Schatten einer so brutalen Grenze erhält, zeigt uns, wie dramatisch es um die Natur in Deutschland bestellt ist", stellt der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger fest. Der Nutzungsdruck in der Landschaft lastet auch auf dem Grünen Band - von Anfang an. "Gleich nach der Wende", erzählt Kai Frobel, "gerieten wegen unklarer Besitzverhältnisse 2000 Hektar wertvoller Biotope unter den Pflug."
Heute klaffen auf 180 Kilometern Lücken im Grünen Band, die größten davon in der nördlichen Altmark. Gerissen von Landwirtschaft, Straßenbau und Gewerbegebieten. Seit 2012 kümmert sich eine BUND-Projektgruppe, gefördert vom BfN darum, diese Lücken durch Ankäufe oder Flächentausch zu schließen. Oder sie notfalls mit einem Natur-Bypass zu umgehen. Darüber hinaus wollen die Naturschützer das Grüne Band nicht nur der Länge nach entwickeln, sondern auch in die Breite, in die Landschaft hinein. Um noch mehr Vernetzung zwischen den einzelnen Naturräumen zu schaffen, ein Rückgrat der Natur in der übernutzten Landschaft.
Dass das kein Selbstgänger ist, kann man von jedem in der Runde hören. "Dicke Bretter bohren" ist ein Ausdruck, der oft zu hören ist. Lokale Politiker, Anwohner und Landwirte müssen in vielen Gesprächen und Verhandlungen überzeugt werden. Immerhin hat das Bundesamt für Naturschutz die Bedeutung des Projekts erkannt - und förderte es mit bislang mit knapp 50 Millionen Euro. "Charismatisch" nennt BfN-Präsidentin Beate Jessel das Grüne Band. Denn es verbinde Menschen, Lebensräume und Akteure, Naturschutz mit Regionalentwicklung.
Dass die grenznahen Regionen von einem klugen Naturschutz profitieren, haben inzwischen auch viele Kommunalpolitiker verstanden. Es gibt hier immer weniger Arbeit, junge Leute ziehen weg. Im Amt Lenzen-Elbtalaue ist die Bevölkerungszahl seit 1950 rückläufig. Nicht einmal mehr 2300 Einwohner zählt die ehemals stolze Stadt. Da sind eine attraktive Natur und ein hochwertiger, naturverträglicher Tourismus eine Chance.
Dass die Verbindung von Naturschutz und Regionalentwicklung vorbildlich gelingen kann, zeigt auch das größte deutsche Rückdeichungsprojekt, abgeschlossen im Jahr 2011: Am Bösen Ort bei Lenzen wurde der Elbdeich um mehrere Hundert Meter zurückversetzt, der alte Deich geöffnet. So entstand ein 420 Hektar großer Polder (Luftbild). Bei extremen Pegelständen, zuletzt während des Jahrhunderthochwassers 2013, füllen nun bis zu 16 Millionen Kubikmeter Elbwasser den Polder. Die Folge: Das Hochwasser fiel 2013 in diesem Bereich um bis zu 50 Zentimeter niedriger aus. "Um den Effekt auf weitere Abschnitte der Elbe auszudehnen, sind aber weitere Auen nötig", sagt Christine Kehl, Leiterin des Projekts "Auenentwicklung und Auenverbund an der Unteren Mittelelbe".
Win-win-Situation für Mensch und Natur
Davon profitieren würde auch die Natur. "Nirgendwo in Mitteleuropa sind mehr Tier- und Pflanzenarten anzutreffen als in naturnahen Auen entlang der Flüsse", erklärt Christine Kehl. Zudem erbringen Auen wertvolle Ökosystemdienstleistungen. "Sie reinigen und speichern Wasser", sagt die Biologin, "binden das Klimagas CO2, sind die Kinderstube vieler Fischarten und dienen uns als Erlebnis- und Erholungsraum".
Mit der Idee des mehrfachen Nutzens könnten es die Grüne-Band-Naturschützer noch weit bringen. An Elan mangelt es jedenfalls nicht. "Think big!" scheint ihre Devise zu sein. Schon seit zehn Jahren arbeiten Naturschützer quer durch Europa an der Idee eines Europäischen Grünen Bandes. Einer Lebensader entlang des ehemaligen "eisernen Vorhangs", der den Ostblock vom Westen trennte. Ein 12.500 Kilometer langer Biotopverbund von der Barentssee bis an das Schwarze Meer.
Modell für Korea?
Die Welle der Begeisterung für das Grüne Band als lebendiges Natur- und Geschichtsdenkmal ist mittlerweile bis nach Ostasien geschwappt. Schon 2012 unterzeichnete die Delegation einer südkoreanischen Grenzprovinz ein Kooperationsabkommen mit dem BfN - in der Hoffnung, die gewaltsame Teilung ebenso wie die Deutschen überwinden und die fast unberührte Natur ähnlich wie am Grünen Band bewahren zu können. In Deutschland sehen sich die Koreaner schon mal an, wie das funktionieren könnte.
Vielleicht geht es ihnen eines Tages wie Kai Frobel. Noch heute erinnert er sich gerne daran, wie er vor der Wende durch das Fernglas balzende Braunkehlchen (Foto) auf dem Grenzzaun beobachtete. "Das war für mich ein Symbol dafür", sagt er, "dass die Natur keine Grenzen kennt."