Herr Glaubrecht, ausgerechnet im Jahr seines 250. Geburtstages entzaubern Sie in GEO unseren berühmtesten Naturforscher. Muss das sein?
Was in diesem Jahr über Alexander von Humboldt geschrieben wird, geht vielfach eklatant an der Wissenschaft vorbei. Er wird zu einer heroischen Figur stilisiert, die nichts mit den Fakten zu tun hat. Dabei ist Humboldt vielmehr ein tragischer Held. Er hat versucht, mit einem enzyklopädischen Ansatz, alles zu vermessen und so die Natur zu erklären. Und ist dabei fürchterlich gescheitert. Dann kommt auch noch der Jungspund Charles Darwin und schafft es aus deutlich weniger Fakten eine brillante Theorie zu entwickeln. Das ist doch ein Thema, das es Wert ist, zu erzählen.
War Alexander von Humboldt denn nicht der Vordenker von Charles Darwin?
Es ist eine völlig falsche Annahme, dass Humboldt irgendetwas mit dem Ursprung der Evolutionstheorie zu tun hatte. Man kann an seinem Denken sehr gut nachweisen, dass Humboldt auf diese Idee gar nicht kommen konnte. Er war von der Statik und Harmonie des Kosmos überzeugt. Eine dynamische Erde, wie Darwin sie beschreibt, hat Humboldt auf keiner seiner Reisen erkannt. Er konnte es nicht erkennen, weil er in einem antiken Weltbild verhaftet war, das dem stetigen Wandel der Natur entgegensteht. Und so konnte er beim besten Willen kein Vordenker Darwins sein. Diese Zuschreibung machen Biografen wie Andrea Wulf, ohne dass es dafür Fakten gibt. Das ist eine schöne Geschichte, aber über ihrer Biografie könnte genauso gut Roman stehen. Dann hätte sie eine größere Berechtigung.
Wie stand Darwin selbst zu Humboldt? Schließlich haben sich die Beiden sogar getroffen.
Humboldt und Darwin sind sich einmal in London begegnet. Darwin war von dem Treffen allerdings wenig beeindruckt und notierte in seiner Autobiografie dazu, dass Humboldt viel geredet habe. Das war‘s. Enttäuscht äußerte sich Darwin auch über die Lektüre von Humboldts Werk „Kosmos“, weil er darin vergeblich etwas zur Frage der Artenentstehung suchte.
Die Evolutionstheorie ist eine Sache, aber wie steht es denn um Humboldt als "Vermesser der Welt"?
Dass Humboldt als Erster die Welt vermaß, ist ein Mythos. Die Instrumente, die er nutzte, haben andere entwickelt. Auch für seine methodischen Ansätze gab es wichtige Ideengeber – was Humboldt selbst aber gerne verschwieg.
Hat er sich mit fremden Federn geschmückt?
Das wäre ein starkes Urteil. Aber man kann auf jeden Fall sagen, dass Humboldt Quellen unterschlagen hat, obwohl er sie nachweislich kannte.
Haben Sie ein Beispiel?
Ein halbes Jahrhundert vor Humboldt hat der französische Astronom und Mathematiker Charles-Marie de La Condamine als erster Naturforscher den Amazonas befahren. Sein Reisebericht lieferte die Vorlage für Humboldts eigene "Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents". Bei Humboldt wird Condamine zur Randfigur, die er immer nur dann zitiert, wenn er ein Stück weiterkommt. Aber das wäre nicht so schlimm, hätte Humboldt nicht auch an anderer Stelle Standards walten lassen, die wir so nicht gelten lassen können.
Was meinen Sie damit?
Mit seinem berühmtesten Werk, dem "Naturgemälde der Anden", hat er uns glauben machen wollen, dass bestimmte Pflanzenarten in bestimmten Höhen auf dem Vulkan Chimborazo vorkommen. 200 Jahre lang hat ihm die Wissenschaft das auch geglaubt. Und verblüffenderweise ist niemandem in dieser Zeit aufgefallen, dass Humboldt erstens Pflanzen von einem anderen Vulkan auf den Chimborazo übertragen hat, die dort gar nicht vorkommen. Und zweitens, dass er Pflanzen auf einer Höhe verortete, wo er nachweislich auf dem Chimborazo wegen starken Schneefalls nichts mehr gesammelt hat. So etwas dürfen sich Künstler herausnehmen. Aber nicht ein Wissenschaftler, dem wir zuschreiben, dass er der Vermesser der Welt sei.

Also trägt Humboldt selbst Schuld an seiner Verklärung?
Humboldt hat durch Auslassungen, aber auch durch Selbstinszenierung zu seinem Image als unermüdlicher Vermesser und Entdecker beigetragen. So hat er sich noch Jahrzehnte nach der Südamerika-Expedition mit dem Chimborazo im Hintergrund abbilden lassen. Und selbst in seiner Wohnung hat er auf den Knien geschrieben, als sei er mitten in der Feldforschung. Aber die Verklärung ist die Schuld jener, die dieses Bild übernommen haben, ohne genau hinzusehen. Geisteswissenschaftler haben sich ihren Humboldt auf Grundlage seiner Texte gezimmert – und darüber den Kontext vernachlässigt. Sie haben sozusagen den einzelnen Baum angestarrt und den Wald übersehen. Humboldt ist aber nur einer der Bäume im Wald – wenngleich auch ein großer.
Klingt als seien Sie mit Humboldt doch im Reinen.
Ich finde Humboldt als Person höchst bewundernswert. Er war ein begnadeter Naturforscher. Er hat eine ungeheure Fülle von Beobachtungen gemacht und auf geniale Weise verschiedene Facetten der Natur miteinander in Verbindung gebracht. Mich stört aber dieser Personenkult. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, Leute heldenhaft zu überhöhen – ob sie nun Alexander von Humboldt oder Greta Thunberg heißen. Unsere aktuelle Ausstellung haben wir "Humboldt lebt!" genannt. Nicht nur, weil in Hamburg einst fälschlicherweise Humboldts Tod verkündet wurde. Sondern auch, weil uns Humboldt heute noch etwas zu sagen hat. Und sei es nur, wie man mit Forschern in der Retrospektive umgehen sollte.
Professor Dr. Matthias Glaubrecht ist Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak) an der Universität Hamburg. Die GEO Ausgabe mit seiner Titelgeschichte "Humboldt gegen Darwin" können Sie hier bestellen.