Eine Amerikanerin erzählt im Radio: Vor Jahren sei sie als Jugendliche zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Danach habe sie ein neues Leben begonnen, Arbeit gefunden, ihren Ehemann kennengelernt. Alles war gut. Bis eine Schulfreundin ihrer Tochter im Internet auf das alte Fahndungsfoto stieß. Auf einmal wandten sich Freunde von ihr ab, Eltern verbaten Kindern den Umgang mit den ihren. "Wie kann ich den Menschen klarmachen", fragt sie, "dass ich nicht mehr dieselbe Person bin wie damals? Sie beurteilen mich nur noch nach diesem einen alten Bild im Internet."
Immer häufiger zeigt das digitale Gedächtnis seine Schattenseiten. Einer anderen Amerikanerin wurde ihr Lehrerdiplom verweigert, nur weil sie ein ausgelassenes Foto von sich mit Piratenhütchen und einem Becher in der Hand ins Netz stellte, betitelt mit "Betrunkener Pirat". In Großbritannien verlor eine Frau ihren Job, weil sie ihn auf Facebook als "langweilig" beschrieben hatte. Was beim altmodischen Plausch in der Kaffeeküche gefahrlos gewesen wäre. Im Netz aber nicht.
Sogar ältere Menschen werden schon von ihren digitalen Spuren heimgesucht: Dem kanadischen Psychotherapeuten Andrew Feldmar, 70, wurde die Einreise in die USA verweigert, nachdem der US-Beamte an der Grenze ihn gegoogelt hatte. Dabei war er auf einen alten wissenschaftlichen Artikel gestoßen, in dem Feldmar über seine LSD-Erfahrungen aus den 1960er Jahren berichtet. Die Folge: USA-Verbot. Für immer. Unser aller Datenschatten wird regelmäßig von Fremden durchleuchtet.
Das Internet ist merkfähiger als unser eigenes Gedächtnis
Drei von vier Personalchefs geben an, dass sie bei jedem Bewerber routinemäßig im Internet nach negativen biografischen Details suchen und häufig auch fündig werden. Dabei wissen viele Menschen gar nicht, wie viel Information über sie digital "erinnerlich ist". Google etwa indiziert nicht nur jede Website, jeden Blog-Beitrag und jede Twitter- Meldung, sondern speichert auch eine Kopie davon und macht sie über "Google Cache" verfügbar - auch nachdem der Inhalt offiziell aus dem Netz genommen wurde. In digitalen Speichern lagern daher Dinge aus unserer Vergangenheit, an die wir uns selbst nicht mehr erinnern.
Das mag auf den ersten Blick vor allem ein Datenschutzproblem sein. Aber es geht um viel mehr: um das Vergessen im digitalen Zeitalter. Indem wir Menschen vergessen, entsorgen wir Erinnerungsmüll. Auch wenn wir uns manchmal ärgern, das Falsche vergessen zu haben, etwa wo unser Auto parkt oder wie die Geheimzahl der Bankkarte lautet - der Harvard-Psychologe Daniel Schacter ist überzeugt, dass das Vergessen eine zentrale Rolle in unserem Leben spielt. Nur indem wir Details der Vergangenheit vergessen, können wir abstrahieren; bleiben wir fähig, in der Gegenwart zu handeln. Die wenigen Menschen, die kaum vergessen können, beschreiben ihr extremes Erinnerungsvermögen meist als Bürde. Sie finden es schwierig, im Jetzt zu leben.
Und: Indem wir vergessen, vergeben wir auch. Würden wir uns permanent erinnern, dann blieben uns nicht nur die eigenen Fehler stets präsent, sondern vor allem die der anderen, denen wir dann kaum noch unbefangen begegnen könnten. Das alles war kein Problem, solange das Vergessen für uns Menschen die Regel war und das Erinnern (weil zeitaufwendig und teuer) die Ausnahme. Im digitalen Zeitalter aber hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Heute ist das Erinnern mithilfe digitaler Speicher zur Norm geworden. Digitale Speicher kosten nur noch 50 Millionstel ihres Preises vor 50 Jahren. Durch Volltextsuche in digitalen Netzen können wir in Sekunden Worte und Formulierungen wiederfinden. Unsere digitalen Werkzeuge speichern automatisch. Selbst die drei Sekunden "Denkarbeit", ob man eine Fotodatei speichern möchte oder nicht, kosten oft mehr als der dafür nötige Speicherplatz.
Dieses routinemäßige Nichtvergessen hat Konsequenzen für uns alle. Wie Funes, jener Mann aus Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte, der nichts vergessen kann, so könnten auch wir uns bald immer mehr in Details verlieren, ohne das große Ganze noch zu sehen. Einzelne digitale Erinnerungsstücke, aus dem Kontext gerissen, können uns zu Fehlurteilen verleiten. Wenn etwa nach einer scharfen E-Mail-Konfrontation eine Versöhnung im direkten Gespräch erfolgt, dann taucht diese in den digitalen Speichern nicht auf, und wird deshalb auch nicht "erinnert".
Oder der Fall eines britischen Politikers: Als er Uno-Botschafter war, hatte seine Frau ihre Facebook-Seite mit privaten Details bestückt: Wo die Kinder studieren, wo die Schwiegereltern leben, mit wem die Familie befreundet ist. Dann wurde ihr Mann 2009 überraschend zum Chef des Geheimdienstes MI6 berufen - und die harmlose Information war plötzlich ein Sicherheitsproblem. Und sofort ein Schlagzeilenthema. US-Präsident Obama riet schon Schulkindern, nichts ins Internet zu stellen, was irgendwann problematisch sein könnte. Und Google-Chef Eric Schmidt erklärt ernsthaft: Jugendlichen müsse das Recht zustehen, künftig ihren Namen zu ändern, damit sie ihrer digitalen Vergangenheit entkommen können. Schmidt beteuert inzwischen, dies sei nur ein Witz gewesen, nicht ernst gemeint, ein Missverständnis. Dummerweise wird aber sein Zitat im Netz noch jahrelang zu finden sein ...
Aber wenn wir Menschen anfangen uns selbst zu zensieren, weil unsere Gesellschaft nicht mehr vergessen kann, dann verarmt die öffentliche Diskussion, die heute immer stärker schriftlich und digital statt mündlich und analog abläuft. Und das gefährdet ein Fundament unserer Demokratie. Gegen solche Probleme helfen traditionelle Datenschutznormen nicht. Schon boomen Firmen wie My-Image-Control, die ihren Kunden helfen, nachteilige Informationen im Internet vergessen zu machen. Aber langfristig kann es keine Lösung sein, wenn im Netz nur jene sich ins Vergessen retten können, die wissen, wie das technisch geht, oder es sich leisten können, andere damit zu beauftragen.
Negatives bleibt länger im Gedächtnis
Optimisten glauben, wir könnten unser Verhalten irgendwann der Technik anpassen. Wir könnten unser Gehirn zwingen zu akzeptieren, dass Menschen sich mit der Zeit verändern. Und dass nicht jedes digitale Foto oder Zitat aus irgendeiner Lebensphase eines anderen Menschen ernst zu nehmen ist. Diese hoffnungsvolle Sicht verkennt die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die wir Menschen mit Erinnerungen haben. Wir unterliegen bestimmten Mechanismen - etwa dem, dass wir uns negative Dinge über andere stets länger merken als positive. Kognitionsforscher bezweifeln, dass es uns Menschen möglich ist, solche Konstanten unseres Erinnerungsvermögens bewusst zu verändern.
Wir brauchen einen anderen Ansatz. Ich schlage vor, dass wir Lösungen suchen, um dem Vergessen in der digitalen Welt wieder eine Chance zu geben. Das könnte durch ein Verfallsdatum für Daten geschehen: Wer eine Information im Netz speichert, gibt auch ein Datum an, an dem sie automatisch gelöscht werden soll. Das Datum kann weit in der Zukunft liegen oder ganz nahe sein, und natürlich kann es später geändert werden. Wichtig ist dabei nur, dass wir immer aufs Neue daran erinnert werden, dass die meisten Informationen mit der Zeit ihren Wert verlieren. Dass sie vergessenswürdig werden.
Wir könnten dann weiterhin via Facebook und Twitter kommunizieren, googeln und bloggen und die positiven Früchte gemeinschaftlicher digitaler Kommunikation ernten. Weil wir wüssten, dass auch in der digitalen Welt viele Informationen wieder vergänglich wären, genau wie das gesprochene Wort. Das soll nicht verhindern, dass jene Informationen, die wir als Gesellschaft für immer in Erinnerung behalten wollen, auch bewahrt werden. Ganz im Gegenteil: Erst durch das Vergessen verstehen wir den wirklichen Wert des Erinnerns. Und stellen so das für uns Menschen zentrale Verhältnis von Erinnern als Ausnahme und Vergessen als Regel wieder her.