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Protestbewegungen Ist Europas Jugend zu brav?

"Ich vermisse die politische Power", sagt Wolfgang Kraushaar, Politologe und Experte für Protestbewegungen

GEO: Sie haben ein Buch über die Proteste der europäischen Jugend geschrieben: "Der Aufruhr der Ausgebildeten" - was meinen Sie damit?

Kraushaar: Es geht um die massive Enttäuschung all jener jungen Leute, die dem Angebot des Staates und seiner Bildungsinstitutionen gefolgt sind, einen Studienabschluss zu machen - und die trotzdem ins Leere fallen. Sie kriegen keinen Job und können keine Perspektive entwickeln: keine Familie gründen und sich deshalb auch nicht in die Gesellschaft eingliedern.

Woran liegt das?

Die Mittelschichten, die genau diese Integrationsleistung vollbringen, sind immer weniger dazu in der Lage. Inzwischen droht ein ganzer Reproduktionsmechanismus zu versagen. Daran wird eine Gesellschaft auf lange Zeit zu knabbern haben. Das ist fast so wie in der DDR vor dem Mauerbau: In den 1950er Jahren gab es jedes Jahr Hunderttausende Flüchtlinge. Dann ließ die SED die Mauer bauen, um den Abstrom von qualifizierten jungen Menschen zu stoppen. Die Situation ist in Spanien oder Portugal - wenn auch aus ganz anderen Gründen - ziemlich ähnlich: Diesen Ländern werden die Ärzte fehlen, Anwälte, Wissenschaftler, ein großer Teil des akademisch qualifizierten Personals.

Protestbewegungen: Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung
Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung
© Patrick Voigt/laif

Warum bleiben die Proteste in Südeuropa weitgehend wirkungslos?

Ist die Jugend zu wohlerzogen? Ich vermisse die politische Power, die Entschlossenheit, mit ihren Protesten auch Ziele erreichen zu wollen. Zumindest in Deutschland tragen die jungen Leute ihr Anliegen viel zu wenig nach außen. Dazu kommt, dass sie eine fundamentale Abwehr gegen vertikale Verhaltensformen haben. Sie lassen nicht zu, dass etwas delegiert wird. Alle verstehen sich als Basisdemokraten. Niemand darf eine Position nach außen präsentieren, ohne dass die zuvor von allen Beteiligten abgesegnet worden wäre. Und wenn es doch einer tut, muss es beim nächsten Mal ein anderer machen. Die „Occupyer“ etwa wollen auf Teufel komm raus verhindern, dass sich eine Führungsfigur herauskristallisiert.

Ähnlich wie bei den Piraten ...

... und wie zu Beginn bei den Grünen. Die hatten damals das gleiche Problem - und noch heute finden sich bei ihnen Reste dieses Widerwillens gegen die Hervorbringung von Führungsfiguren. Die Basisdemokratie, mit einer entsprechenden Ämterrotation, war ja eines der vier Prinzipien, die die Grünen 1980 bei ihrer Gründung proklamiert hatten.

Protestbewegungen: In Madrid und anderswo protestieren Studenten gegen Kürzungen bei den Bildungsetats - bislang kaum mit Erfolg
In Madrid und anderswo protestieren Studenten gegen Kürzungen bei den Bildungsetats - bislang kaum mit Erfolg
© Gabriel Pecot für GEO

Woher rührt dieser Wunsch nach einer Abkehr von den Hierarchien?

Ich habe den Eindruck, dass die gegenwärtigen Aversionen gegen die parlamentarische Demokratie von etwas herrühren, was der britische Soziologe Colin Crouch als „Postdemokratie“ bezeichnet hat: dass wir zwar eine formell ausgestaltete Demokratie besitzen, diese aber vielen Wählern als ausgehöhlt erscheint. Sie fühlen sich vom politischen Verfahren ausgeschlossen. Die Verselbstständigung der Exekutive unter Vorzeichen einer bereits chronisch gewordenen Finanzkrise trägt dazu bei, dass Occupy behauptet: Wir haben Recht mit unserem Misstrauen, es gibt eine politische Klasse, die macht mit uns, was sie will!

Also ein urdemokratischer Reflex. Sind diese Bewegungen nicht auch antidemokratisch? Die gehen hin und sagen: Wir sind die vielen.

Ja, in der Tat. Die Occupyer stilisieren sich als die „99 Prozent“, die kaum etwas besitzen. Doch die Sozialstruktur der Gesellschaft ist in Wirklichkeit viel gestaffelter. Wenn überhaupt, dann haben wir einen Gegensatz von zwei Dritteln der Gesellschaft gegenüber einem mehr oder weniger abgehängten Drittel. Es ist aber ein Wesenszug von solchen jungen Bewegungen, dass sie sagen: Wir wissen, wie eine Gesellschaft sich entwickeln muss, wir exerzieren vor, wie man es besser machen kann. Etwa indem jeder dasselbe Recht zu reden hat, um die Ziele festzulegen. Das ist der alte Traum Rousseaus von der direkten Demokratie ...

... der sich nie realisieren lässt in einer Gesellschaft mit mehr als ein paar Tausend Mitgliedern.

Ja, aber ich glaube, dass dem etwas anderes eine ganz neue Qualität verleihen wird: Das Internet erweckt den Anschein, als sei diese alte Utopie nun endlich realisierbar. Weil immer mehr Menschen in der Lage sind, sich per Mausklick unmittelbar zu beteiligen, liegt die Idee einer elektronisch umgesetzten Dauer-Demokratie in der Luft.

Also ein radikales Generationenprojekt: die Beschleunigung?

Ja, das wird kommen, die Piratenpartei wird das irgendwann fordern. Das zu realisieren würde aber Probleme aufwerfen, die an die Fundamente der Verfassung gingen. Ich halte das mit Verlaub für einen Albtraum: Eine solche Technologie befördert einen gefährlichen Populismus. Nach der Festnahme eines Pädophilen etwa ließe sich unter Umständen die Todesstrafe für Kindesmörder einführen. Politische Prozesse würden emotionalisiert - und letztlich mit einer Legitimität ausgestattet, die kaum noch gestoppt werden könnte. Das brächte rechtsstaatliche Verfahren und Institutionen ins Schlingern.

GEO Nr. 02/13 - Psychologie: Das Gedächtnis des Körpers

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