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Corona und die Tiergeschichten Warum wir den Bildern zurückkehrender Wildtiere so gern glauben wollen

Nara Japan
In der Corona-Pandemie kommt das öffentliche Leben vielerorts zum Erliegen: Sikahirsche streifen auf der Suche nach Nahrung durch die japanische Stadt Nara. Sie leben traditionell im nahe gelegenen Park der Stadt
© Tomohiro Ohsumi/Getty Images
Fotos von wilden Rückkehrern auf menschenleeren Straßen und Plätzen gehen dieser Tage vermehrt viral. Egal, ob echt oder gefälscht: Sie nähren eine geheime Sehnsucht

+++ Kolumne "Alles im grünen Bereich" +++

Die sozialen Netzwerke werden gerade überschwemmt von Tierbildern. Nicht von der niedlichen Sorte. Es sind Bilder von Wildtieren, die manchmal unscharf zu sehen sind, vor allem aber an Stellen herumschlendern, wo sie normalerweise nicht vorkommen: Truthähne auf kinderleeren Spielplätzen, Hirsche in unbelebten Häuserschluchten, Waschbären an verwaisten Stadtstränden. Besonders beliebt sind Geschichten, die sich im Nachhinein als Fake herausstellten: Schwäne und Delfine in den Kanälen von Venedig, Elefanten, die durch ein chinesisches Dorf flanieren, um dann ihren Rausch in einem Teeplantage auszuschlafen.

Warum werden solche Geschichten millionenfach geteilt? Woher kommt diese Begeisterung, die es mit der Wahrheit nicht mehr so genau nehmen will?

Eine mögliche Erklärung dafür liegt auf der Hand: In den Zeiten der Corona-Pandemie mit ihrer sozialen Isolierung und erzwungener Quarantäne, sich überschlagenden Hiobsbotschaften und steigenden Sterberaten gieren wir nach einem Lichtblick am verdunkelten Horizont. So wie Klimaschützer zunächst die sinkenden Emissionen in China und smogfreie Städte begrüßten, so bejubeln jetzt viele: die Rückkehr der Natur.

"Die Natur hat den Reset-Knopf gedrückt"

Der "Erfinder" der Delfine in Venedig kommentierte seinen Twitter-Post vielsagend: "Die Natur hat den Reset-Knopf gedrückt." Alles auf Anfang. Noch einmal von vorn. Ohne Mensch. Das ist natürlich - abgesehen von dem falschen Eindruck, dass die Bilder in Venedig aufgenommen worden sein sollen - stark übertrieben. Denn die Lagunenstadt steht noch auf ihren Eichenpfählen, sie ist immer noch bewohnt. Es fehlen nur die Kreuzfahrtschiffe und die täglichen Touristenmassen. Aber die Vorstellung, dass die Natur zurückkehrt, dass wilde Tiere sich – endlich wieder – dort tummeln, wo sie sich während Jahrtausenden getummelt hatten, bis der Mensch kam, ist ungemein suggestiv. Kein Wunder, dass ein Buch darüber schon 2007 zum Bestseller wurde.

Vor dreizehn Jahren veröffentlichte der amerikanische Journalist Alan Weisman das Drehbuch zu allen nur denkbaren Rückkehr-Szenarien: „The World Without Us“, zu deutsch: „Die Welt ohne uns“. In dem Buch beschäftigt sich Weisman auf wissenschaftlicher Grundlage mit der Frage, was passieren würde, wenn die Menschen plötzlich vom Erdboden verschwänden. Was würde im Verlauf von Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten mit Atomreaktoren passieren? Mit Häusern, U-Bahn-Schächten, unserem Plastik-Müll, ganzen Städten? Das Gedankenexperiment wurde zum Bestseller – weil es die heimliche Sehnsucht anspricht, die unterdrückte und misshandelte Natur wieder in ihr altes Recht zu setzen.

Natürliche Umwelt in der Defensive

Viele von uns spüren, dass Homo sapiens, mit seiner exponentiellen Ausbreitung und der Ressourcen verschwendenden Lebensweise nach westlichem Vorbild seine natürliche Umwelt in die Defensive drängt. Und sich damit selbst in die Bredouille bringt. Die gegenwärtige Corona-Pandemie wurde erst durch die Ausbeutung wilder Tiere, durch globale Menschenströme und unablässige Kontakte zwischen fast acht Milliarden Individuen möglich.

Die Fotos von ursprünglichem Regenwald, der für Palmöl- oder Sojaplantagen gerodet wird, haben sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben. Nachrichten und Bilder von planierter Natur und uferlos wuchernden Megacitys verstören uns zutiefst; die abzusehenden Folgen von menschengemachtem Klimawandel und Artensterben sind eine ungeheure, aber kaum greifbare Bedrohung.

Wäre es nicht da nicht schön, wenn alles wieder gut würde?

Die Bilder von wilden Tieren in menschlichem Hoheitsgebiet sind auch ein Appell: Gebt den Tieren, gebt der Natur wieder mehr Raum. Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns zurückziehen, unseren Einfluss auf die Erde beschränken.

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