Inhaltsverzeichnis
Christian Klein
Es ist ein sauberer Schnitt. Er setzt das Küchenmesser an, fährt die Blattnaht entlang und öffnet einen der schlauchförmigen Blattkelche. Heraus fallen tote Mücken, Käfer, Wespenkadaver. "Da lebt nichts mehr", stellt Christian Klein unbeeindruckt fest. Angelockt von einer glänzenden Stelle am Kelchrand, waren die Insekten abgerutscht und in den 50 Zentimeter langen Schlund gefallen. Einige hatten noch versucht, kleine Fluchtlöcher in die hintere Blattwand zu beißen. Vergebens. Sarracenia flava, die Gelbe Schlauchpflanze, lässt ihre Beute nicht entkommen. Christian Klein legt das Küchenmesser zur Seite. "Die Natur hat es so eingerichtet", sagt er und lächelt.
Begeisterung für "das Extreme"
In seiner Familie hat das Gärtnern Tradition, doch er ist der Erste, der sich botanisch für "das Extreme" begeistert. Sein Großvater besaß im saarländischen Merzig eine Obstgärtnerei, deren Sortiment der Vater um Zierstauden erweiterte. Bei ihm selbst erwachte die Neugier mit 15. Damals kaufte er sich im Großhandel seine erste Carnivore.
Die größte Carnivoren-Sammlung Europas
Es war eben jene Sarracenia flava, die aus den Sümpfen des Südostens der USA stammt und nur unter speziellen Bedingungen gedeiht: Sauer und salzarm muss der Boden sein, sonnenbeschienen und doch stets feucht. Um Pflanzen wie diese am Leben zu halten, braucht es nicht nur Erfahrung und Sorgfalt, sondern auch technisches Geschick. Christian Klein fühlte sich herausgefordert. Zwar überlebte seine erste Carnivore nur mit knapper Not und der Hilfe eines Freundes. Mit der Zeit aber wurde er selbst zum gefragten Experten. Heute besitzt er die größte Sammlung Europas. 500 Arten umfasst sie, wohl drei Viertel des weltweit bekannten Bestandes. Zusammen mit rund 250 Varietäten und Hybriden gedeiht die Sammlung teils auf Freilandbeeten, teils im Gewächshaus.
Unheimliche Pflanzenwelt
Bräunlich und fleischfarben glänzen die Blüten, wie Tierhäute schimmern die Blätter; und obwohl viele Carnivoren nur zentimetergroß sind, scheint es, als hätten sie jedes Fleckchen freien Bodens okkupiert. Beim Gang durchs Gewächshaus kommen seltsame Gefühle auf: Hat sich dort nicht gerade etwas bewegt? Tastete da nicht ein Fühler über die Schulter?
Leidenschaft auf 80 Quadratmetern Glashaus
Dem Gärtner sind solche Eindrücke fremd. Wunderschön sind sie für ihn, diese Wesen. In dem 80 Quadratmeter großen Glashaus, das er eigens für sie gebaut hat, finden drei Klimazonen Platz - darunter die Abteilung "Tropischer Bergwald". Kühl und feucht ist es hier, ähnlich wie auf dem Kinabalu, dem "Berg der Seelen" auf Borneo. Christian Klein ist extra dorthin gereist, um seltene Carnivoren in freier Natur zu sehen. Er würde gern noch öfter weit weg, doch das ist nicht möglich - wegen der Familie. So sind es die anderen, die reisen. Unter Carnivoren-Freunden herrscht Arbeitsteilung: Die einen suchen in der Ferne nach unentdeckten Arten, die anderen widmen sich der mühsamen Aufgabe, mitgebrachte Samen zum Leben zu erwecken.
Horst Schindler
"Denken Sie an Eiskunstlaufen", sagt Horst Schindler, während er durch seinen Garten führt. Was für einen Eissportler die Note 6.0, sei für eine Iris die 100. Ein Ideal, so gut wie unerreichbar. Er kennt sich aus, als einer der Experten, die jedes Jahr in Deutschland die Qualität neuer Iris-Züchtungen bewerten. "Sehen Sie", sagt der 69-Jährige und deutet auf eine violett-weiße Blüte, "Mängel findet man überall." Hier zum Beispiel seien die Ränder "nicht ganz exakt gezeichnet".
Eine "Verrücktheit"
Jetzt, im Frühjahr, geht er nach jedem Regen in den Garten, kontrolliert, welche der Blüten das Wasser verkraftet haben und welche nicht. Das Ergebnis notiert er auf Bewertungsbögen. Seine Frau nennt es eine "Verrücktheit", die "immer schlimmer" werde. Horst Schindler, pensionierter Lehrer und Ex-Bürgermeister, schweigt verlegen und stolz. Inmitten seiner Iris-Pracht, die wie eine pastellfarbene Wolke über den Beeten zu schweben scheint, sieht er aus wie ein freundlicher Riese.
Besuch bei Karl Foerster
Vor über 40 Jahren ist er mit seiner Familie ins alte Schulhaus von Etzin gezogen, einem Dorf im Havelland. Hinter dem Haus erstreckte sich ein Stück Land, das den Namen "Garten" damals kaum verdiente: ein paar Beete, saisonweise von Schulklassen bepflanzt, drumherum Wildwuchs. Nur rechts und links des Pfades blühten ein paar Iris. Sie blühten jedes Jahr, und jedes Mal schöner als zuvor.
Horst Schindler weiß es nicht mehr, wann genau er sich entschloss, diese Blumen zu sammeln. "Wahrscheinlich muss ein Lehrer sowieso Sammler sein, ständig interessiert am passenden Beispiel." Doch er erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch im Garten von Karl Foerster, dem berühmten Staudengärtner und Züchter aus Potsdam: In diesem Moment habe er "den ganzen Reichtum und die Vielfalt" der Iris erkannt.
Die ersten Zufallsfunde
Systematisch begann er, nach neuen Sorten zu suchen, sich einzulesen in die Nomenklatur der Botanik. In den Bauerngärten der Nachbarschaft machte er die ersten Funde, tauschte seine Iris gegen andere, die Bekannte von Reisen nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei mitbrachten. Später gründete er die "Fachgruppe für Stauden und Gehölze" und pflegte verbotenen Kontakt zu Gartenfreunden in Westdeutschland. Horst Schindler lächelt, wenn er beschreibt, wie er nach der Wende zum ersten Mal einen gut sortierten Pflanzenmarkt betrat, die Blumeninsel Mainau besuchte. Zwar besaß er damals schon rund 200 Sorten, doch hat ihn der Anblick dieser Vielfalt trotzdem "überwältigt".
Enttäuschende Pflanzen werden ausgesetzt
Seitdem hat er seinen Garten behutsam "erneuert", hat gängige Sorten durch edlere Neuzüchtungen ergänzt. Sentimental war er nie. Er zögert nicht, wenn ihn eine Blume enttäuscht. Dann gräbt er sie aus und stellt sie in einem Karton vor das Schulhaus, gleich neben die Friedhofsmauer. Es dauert nie länger als einen Tag, bis die ausgemusterte Schöne verschwunden ist. Manchmal hinterlässt ihm jemand ein schlichtes "Vielen Dank!" auf dem leeren Karton.
Elfriede Lungenschmied
Das Unglück kam plötzlich. Es war der Nachmittag des 22. Juni, und schon nach wenigen Minuten schwand jede Hoffnung im Rauschen des Hagelsturms. Elfriede Lungenschmied wagte sich erst Tage später hinaus. Viel war nicht geblieben. Der eisige Niederschlag, von der österreichischen Gemeinde Buchbach offiziell mit einer Höhe von 20 bis 25 Zentimetern angegeben, hatte alle Blütenpracht begraben. Die Clematis niedergerissen, den Farn zu Boden geschmettert. Vom stattlichen Phlox und den zarten Pfingstrosen gar nicht zu sprechen. Fast überall verlangte die Diagnose eine entschlossene Therapie. Elfriede Lungenschmied musste zurückschneiden. Tief, sehr tief. Sie hätte schreien können.
Jede einzelne Pflanze ist wichtig
Doch was hätte es genützt? Bald machte sich die Gärtnerin wieder an die Arbeit, hoffte auf den Spätsommer und darauf, dass einem radikalen Rückschnitt oft ein kräftiger Neuaustrieb folgt. "Gartenarbeit", das Wort bedeutet für Elfriede Lungenschmied nicht nur Jäten, Graben und Schneiden. Ihre größte Leidenschaft ist das Planen und Suchen, die Jagd nach ausgewählten Sorten und Farbvarianten einer Art. Den Titel einer "Lieblingspflanze" vergibt sie nicht. Würde das doch eine Bevorzugung bedeuten, eine Ungerechtigkeit. Jede Einzelne ist ihr wichtig, jeder Strauch, jeder Zweig, jede Blüte.
Gärtnern als Kunst
Im Laufe von 18 Jahren hat sie, auf 1000 Quadratmetern, über 5000 Arten und Varietäten versammelt, darunter 300 Rosen-, 200 Phlox- und 600 Funkiensorten sowie 25 Spielarten des seltenen Dreiblatts. Aber Zahlen bedeuten ihr nichts. Ein paar hundert Phloxe auf einen Haufen zu pflanzen - das, sagt die Gärtnerin, sei keine Kunst. Die entstehe erst, wenn Fantasie und Planung walten. Blattstruktur, Farbe, Pflanzenhöhe, all das soll harmonieren. Erst wenn eine innere Stimme ihr sagt: "Jetzt ist es perfekt!" - erst dann kann sie entspannen, kann die Zweifel zum Schweigen bringen, ob wirklich jede Pflanze ihren idealen Standort, jede ihre passenden Partner gefunden hat.
Lange hat Elfriede Lungenschmied ausschließlich für ihre vier Söhne gelebt. Für die Familie. Eines Tages, sie war damals 31 Jahre alt, erzählte eine Freundin ihr von einer Hemerocallis, einer Taglilie, die in einem besonderen Rosa blühte. Das ließ ihr keine Ruhe. Sie machte sich auf die Suche nach dieser Blüte und fand sie schließlich. Heute ziert "Lullaby Baby" als eine von 170 verschiedenen Taglilien die Gartenlandschaft am Hang.
Ausgiebiges Katalogstudium
Viele Gärtner, leidenschaftliche Gärtner sogar, mögen sich bei der Auswahl ihrer Pflanzen mit dem begnügen, was ihnen gut sortierte Gärtnereien in der Nachbarschaft bieten. Nicht Elfriede Lungenschmied. Regelmäßig studiert sie die Kataloge der großen in- und ausländischen Staudengärtnereien, fährt nach Deutschland, ja bis in die Niederlande, um neue Züchtungen zu sichten. Auf ihrem Nachttisch liegt ein Diktiergerät. Damit sie sofort festhalten kann, wenn ihr eine neue Staudenkombination, ein besserer Platz für eine Blume einfällt. Ein Maler, sagt Elfriede Lungenschmied lächelnd, vertraue doch auch seiner Inspiration.
Früher hat sie die Anlage eines Beetes gezeichnet, heute braucht sie das nicht mehr. Sie muss nur die Augen schließen, um zu sehen, wie vollkommen der Garten vor dem Hagel war - und wie er bald wieder sein wird. Im kommenden Frühling.
Margarete Wiedemann
Die letzte Chemotherapie liegt eine Woche zurück, die Schmerzen sind erträglich. Nur den Zwetschgenkuchen, den sie zum Kaffee reicht, hat Margarete Wiedemann nicht mehr selbst gebacken. Die Kraft reicht gerade fürs Wesentliche. Fürs Gebet und den täglichen Gang ins Gewächshaus. Sie muss doch wenigstens nach den "Kinderlein" sehen. Beim Eintreten ruft sie laut und heiter: "Grüß Gott!" Und wendet sich gleich darauf erstaunt an ihre Besucher: Wo bleibt der Gruß?
Das Beet als "Gemeinde"
Lebendige Wesen sind sie, ihre eigene Gemeinde, für die Margarete Wiedemann, die schwäbische Pfarrerstochter, immer ein Wort hat. Sogleich beginnt sie mit der Predigt. Schimpft mit einem frechen Eukalyptus, der es zu eilig hatte zu wachsen, lobt die Citronella, das bescheidene Kind, und die weiß-grüne "Stefanie" bekommt zu hören, sie sei auf ganz besondere Weise stark. 200 verschiedene Duftpelargonien stehen hier unter ihrer Obhut: jene Arten und Sorten der Gattung Pelargonium, die sich weniger durch farbenprächtige Blüten auszeichnen als vielmehr durch das Aroma ihrer rauen, pelzigen oder herzförmigen kleinen Blätter.
Die Liebe gehört dazu
"Nur nicht so schüchtern!", ruft die Gärtnerin. Reiben müsse man das Blattzeug, aber gescheit, dass auch ja das duftende Öl nach außen trete. Und wie es duftet! Nach Zitrone und Lavendel, nach Pfirsich und Muskat, nach Zedernholz und schwarzem Pfeffer. Margarete Wiedemann strahlt. Jede Blume dufte anders, sagt sie. Und jede wolle beachtet sein. "Die Liebe", sagt die Gärtnerin, "die gehört freilich dazu."
Demut hatte es der Großvater genannt. Sie war im Pfarrhaus auf der Schwäbischen Alb so selbstverständlich wie die Andacht am Morgen. Fromm war man und bitter arm. Oft gab es wochenlang nur Brennnesseln und Waldmeister zu essen. Geklagt wurde nicht. "Wir müssen den Hunger überwinden", sagte die Mutter.
Seit 1985 werden auch Pelargonien verschickt
Erst nach dem Krieg, während ihrer Lehrzeit als Gärtnerin, konnte sich die Tochter zum ersten Mal satt essen. 1954 begann sie einen kleinen Handel mit Tee und Gewürzpflanzen, der sich bald herumsprach. In guten Zeiten schickten die Wiedemanns dreimal die Woche eine Autoladung Kräuterpakete hinaus, seit 1985 auch duftende Pelargonien. Doch vor sechs Jahren schloss der Betrieb, und seitdem bleiben die Eheleute mit ihren Blumen meistens allein. Sie will nicht traurig sein, sagt die Gärtnerin. Einige Kunden bestellen ja noch. Was kümmert sie da ein Krebs oder das Alter!
An der Tür wendet sich Margarete Wiedemann noch einmal um. In ihrem Gesicht erkennt man die Züge eines sehr schönen Mädchens. Ja, wie wir uns das denn vorstellten? Wir müssten ihren Pflanzen doch wenigstens ade sagen.
Jörg Stellmacher
Er nennt es "den Berg" und schmunzelt über die sachte Übertreibung. Nostalgie schwingt mit. Vor fast 30 Jahren hat er hier, in einem Hinterhof im Berliner Süden, die Grundsteine zu seinem Garten gelegt. Damals war der Regenabfluss am Haus kaputt, und Jörg Stellmacher musste einen Graben ausheben. Aus loser Erde und Bauschutt wuchs ein Hügel, zweieinhalb Meter hoch. Heute blüht der Enzian darauf. Verschwenderisch. 50 Blüten auf einem Viertelquadratmeter hat der Gärtner im vergangenen Frühling gezählt. Er lacht, und in seiner Stimme klingt Stolz, wenn er über seinen Garten spricht wie ein Vater über das erwachsene Kind.
Von der Freiheit und Kraft der kleinen Pflanzen
2500 verschiedene Pflanzenarten und -sorten wachsen auf 1000 Quadratmeter Granit und Kalkfels, hüllen den Garten ein wie ein wundersam gepunktetes Kleid. Es sind die kleinen Blumen, die Wildformen vor allem, denen die Zärtlichkeit des Gärtners gilt. Auf einer Hand voll Moos leuchtet der Felsenteller, lila und weiß, eine Pflanze, die stark genug war, die Panzer der Eiszeit zu überstehen. Im Schatten eines Findlings klettert der Steinbrech. Etwas Rührendes sei um diese Feinheit, sagt der Gärtner, um die Kraft, die gerade die kleine Blume beweise. Ohne diese Überlebenskünstler, deren Wurzeln selbst kärgste Böden in extremen Höhen durchdringen und festigen, läge wohl manches Bergdorf schon unter Lawinen von losem Gestein begraben.
Wie Jörg Stellmacher zu den Blumen
Im Leben von Jörg Stellmacher schien ein Garten lange nicht vorgesehen. Zur See ist er gefahren, und per Anhalter in die Berge, wo er als Kellner sein Geld verdient hat. Ein Sammler war er schon damals. Erfahrungen hat er zusammengetragen, eine nach der anderen, die fanden in jedem Reisegepäck Platz. Später wandte er sich anderen Objekten zu: Steinen, Wandtellern, Pflanzen, den Briefmarken des Vaters. Da war er schon sesshaft geworden, aus Liebe zu seiner Frau. Sie sei, sagt er lächelnd, das einzige "Unikat", das er für sich gelten lasse. In Berlin begann er eine Arbeit als Erzieher. Er kümmert sich um Alkoholiker und Strichjungen, mit denen sich niemand sonst mehr abgeben will. Raus in den Wald geht er mit ihnen, beschneidet Bäume und rodet Lichtungen. Ohne den Garten, sagt Stellmacher, hätte er diese Arbeit nicht 20 Jahre durchgehalten. Der Umgang mit Pflanzen habe ihn Gelassenheit gelehrt, die Kunst, Ärger und Enttäuschungen täglich aufs neue zu vergessen.
Zum Einkauf nach Tromsø
Einmal im Jahr aber muss er fort Richtung Norden, bis weit hinter den Polarkreis. Um neue Raritäten zu kaufen in Tromsø, der Stadt mit dem nördlichsten Botanischen Garten der Welt. Aber auch, um mit seiner Frau durch die Wälder zu fahren, am Fjordufer in der Mitternachtssonne zu sitzen - und einfach nur zu schweigen.