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Der erste Schnee seit 60 Jahren
Im Oktober 2104 fällt in Deutschland Schnee. Der erste Schnee seit über 60 Jahren. Er fällt auf Palmen, Südfruchtplantagen und solarstromgekühlte Bürotürme, denn das einst so gemäßigte Mitteleuropa ist längst zu einer subtropischen Zone geworden: Wegen des Treibhauseffekts ist die Durchschnittstemperatur hier wie auch in anderen Erdregionen um 4,5 Grad Celsius gestiegen.Doch nun setzt ein erneuter Klima-Temperaturen wie in Ost-Sibirien katastrophalen Wetterturbulenzen der vergangenen Jahrzehnte eher glimpflich überstanden hat. Es geschieht, was Meteorologen bereits Ende der 1990er Jahre vorausgesagt hatten: Durch das beständig abschmelzende Polareis strömt immer mehr Süßwasser in den Nordatlantik und sinkt dort nicht mehr in die Tiefe.
Temperaturen wie in Ost-Sibirien
Dadurch bricht der Golfstrom, die "transatlantische Zentralheizung", die seit Jahrtausenden für mildes Klima selbst in Nordskandinavien sorgt, innerhalb weniger Jahre zusammen. Die Folge: Europas Durchschnitts-Temperaturen sinken auf Werte, die denen Neufundlands und Ostsibiriens entsprechen. Im Winter 2107 wandert die Treibeisgrenze bis zu einer Linie Lissabon - Florida. Ab 2110 wird Landwirtschaft nördlich der Alpen außerhalb beheizter Gewächshäuser unmöglich, weil der Boden auch im Hochsommer nicht mehr vollständig auftaut. Ab 2112 beginnt die erfolgreiche Auswilderung von Rentierherden und Moschusochsen in der norddeutschen Tiefebene. Ab 2114 ist Deutschland endlich auch bei "Pisa" wieder Spitze - seit die Schulkinder nicht mehr nur in Lesen, Mathe und Physik, sondern auch in Langlauf, Rodeln und Biathlon getestet werden. 2115 schließlich stellt auch der letzte große europäische Automobilhersteller seine Produktion auf Kufenfahrzeuge um.

Gesetze gegen Frostflüchtlinge
Freilich können 700 Millionen Europäer nicht ausschließlich von Pelztierjagd, Rentierzucht und Snowmobilproduktion leben. Ab 2115 erlassen Marokko, Algerien und etliche Länder der Subsahara strikte Zuwanderungsgesetze, um sich gegen die Ströme von Frostflüchtlingen aus dem Norden abzuschotten. Zwar ist die weltweite Abkühlung für die Länder der Äquator-Region auch ein Segen: Wirbelstürme werden seltener, der Regen nimmt zu, Inseln und Küstenregionen tauchen wieder auf, weil die zunehmende Vereisung im Norden den Meeresspiegel deutlich sinken lässt. Dennoch bleibt Nahrung bis auf weiteres knapp, weil sich auf den jahrzehntelang überschwemmten oder durch Dürre erodierten Böden kaum Ackerbau treiben lässt.
Überdachte Megabiosphären trotzen dem Frost
Einige Untergangs-Propheten sagen den Bewohnern des Abendlandes schon das Schicksal der Neandertaler voraus, deren Geburtenrate in dem Maße sank, wie das Klima rauer wurde, und die schließlich ausstarben. Doch abendländischer Erfindungsgeist und technischer Fortschritt verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Die meisten Einwohner des Kontinents lassen sich in "Kern-Europa" nieder - jenen zwei Dutzend Siedlungszentren, die, aus der Luft betrachtet, wie riesige Blasen aus der Tundra zu wachsen scheinen. Es handelt sich um glasüberdachte, mit Erdwärme beheizte Megabiosphären, nach dem Vorbild der historischen "Center Parcs" konstruiert, die im Laufe der Zeit zu blühenden Zentren der Unterhaltungs- und Medienindustrie sowie anderer weitgehend rohstoffunabhängiger Branchen heranwachsen.
Überleben in der Gefriertruhe
Diejenigen Europäer, die dort kein Auskommen finden oder die ganzjährigen Frühlingstemperaturen schlicht nicht ertragen können, wählen eine andere Überwinterungs-Möglichkeit: das Einfrieren. Dank der fortgeschrittenen Kryo-Technik sind selbst Lagerperioden von mehreren zehntausend Jahren längst kein Problem mehr. Und wer weiß, ob man überhaupt so lange liegen muss? Nach den neuesten Berechnungen der Klimaforscher ist spätestens Anfang des 4. Jahrtausends mit dem Beginn einer neuen Warmzeit zu rechnen.