"Hier sieht's noch ein bisschen wild aus", sagt Nina-Sophie Eicks, während sie das Gartentor aufschließt. Jetzt, im März, sieht der Garten eben aus wie viele Gärten am Ende eines langen Winters. Vielleicht sogar noch ein bisschen unordentlicher. Links einige in Holzbohlen eingefasste, leere Hochbeete. Rechter Hand etwa zwanzig je zwei mal vier Meter große Parzellen. Ein himmelblau gestrichener Bauwagen bietet Schutz vor dem Westwind, der kalt über den nahe gelegenen Veringkanal bläst. Jenseits des Kanals ragen Stapel von Schiffscontainern in den grauen Vorfrühlingshimmel. Die Gartensaison ist eröffnet.

Am kommenden Wochenende steht die erste gemeinsame Gartenarbeit an. Dann werden die rund 30 Mitglieder des Vereins "Interkultureller Garten Hamburg-Wilhelmsburg e.V." zum ersten Mal in diesem Jahr pflanzen, aussähen, den Boden lockern, Wege instandsetzen - und schnacken. Und zwar in vielen Sprachen. Die Mitgliederliste des Vereins liest sich wie ein Kompendium der Sprachen Europas. Und ist damit repräsentativ für das ehemalige Quartier der Hafenarbeiter.
In Hamburg teilt sich die Elbe für ein paar Kilometer in einen südlichen und einen nördlichen Arm. Auf der Insel dazwischen liegt der Stadtteil Wilhelmsburg mit seinen Hafenanlagen und Kanälen. Heute leben hier Menschen aus 40 Nationen; Integration ist ein zentrales Thema. Die Arbeitslosigkeit liegt über dem Durchschnitt. Für Stadtplaner und Stadtentwickler sind die Lage und die Bevölkerungsstruktur des flächenmäßig größten Hamburger Stadtteils eine lohnende Herausforderung. Schon gibt es erste Leuchtturmprojekte, um ihn aufzuwerten: So wird der Stadtteil im Jahr 2013 Schauplatz der Internationalen Gartenschau sein.
Doch im Interkulturellen Garten geht es nicht um aufpolierte Blütenpracht. Nicht einmal um die Frage, wer den größten Kürbis zieht.
Die Gärtner hier bauen türkische Bohnen an, Topinambur, Kichererbsen und andere Exoten, die es im Laden nicht zu kaufen gibt. Ihr Stückchen Land verbindet sie so mit der alten und der neuen Heimat. Auch das Miteinander ist wichtig. Der Garten ist Informations- und Kontaktbörse, Begegnungsstätte von Kulturen und Generationen. "Wer hier mitgärtnert", sagt Nina-Sophie Eicks, Modedesignerin und Erste Vorsitzende des Vereins, "bekommt auch schon mal Hilfe beim Ausfüllen eines Formulars". Außerdem macht sie Mitglieder auf kostenlose Sprach- oder Fahrradkurse aufmerksam: Gartenarbeit als aktive Integrationshilfe.
Nina-Sophie Eicks weiß, dass viele von ihnen nicht nur mit Sprachproblemen kämpfen. Einige haben familiäre Probleme oder hadern mit der deutschen Bürokratie und den Behörden. Der Garten bietet ihnen einen sicheren Platz - der auch dann bestehen bleibt, wenn jemand mal wenig oder keine Zeit zum Gärtnern hat. Niemand wird hier zur Gemeinschaftsarbeit verdonnert. Hierarchien gibt es keine. Im Garten sind alle gleich, begegnen sich "auf Augenhöhe". Was nicht bedeutet, dass alle Parzellen gleich aussehen. Im Gegenteil.
Einige der deutschen Gärtner haben schon in den vergangenen Tagen angefangen, den schwarzgrauen Mutterboden zu beackern. Wie gepflügt liegt die Erde auf einer Parzelle in parallelen Rillen aufgehäuft. Auf der Nachbarparzelle eines türkischen Vereinsmitglieds türmt sich dagegen abgestorbener Wildwuchs. "Jedes Beet spiegelt die Persönlichkeit seines Gärtners wieder. Was wir Deutsche Unkraut nennen, kommt in anderen Kulturen auf den Teller", sagt Nina-Sophie Eicks. Ob es manchmal Streit gibt? "Ja, schon", sagt sie, "aber nicht mehr als anderswo auch."
In den Unterschieden, meint sie, liege ja gerade der Reiz des multikulturellen Gärtnerns. Einer kann vom anderen lernen - wenn er will. Wir bleiben vor einer Parzelle stehen, die mit rostfreien Zinkblechen eingefasst ist. Gegen die Schnecken. "Ein Perfektionist", meint Nina-Sophie Eicks und lächelt nachsichtig. Vermutlich ein deutscher.
Bis die Gärtner überhaupt aktiv werden konnten, vergingen Monate. Es war nicht leicht, ein geeignetes Fleckchen Erde zu finden. Nachdem die Initiatoren den ursprünglich geplanten Standort verwerfen mussten, einigten sie sich mit der Stadt auf das Gelände des ehemaligen Deichverteidigungslagers. Wo bis vor wenigen Jahren Tausende von Sandsäcken lagerten, standen nun große offene Säcke, gefüllt mit Mutterboden. Ein Notbehelf, denn chemische Analysen hatten gezeigt, dass der Boden verseucht war. Heute stehen an ihrer Stelle die Hochbeete, die gemeinschaftlich beackert werden. Im Bereich der Parzellen wurde der Boden ausgetauscht.
Am Anfang, erinnert sich Eicks, musste sie in der Gegend Handzettel austeilen, damit die Leute auf den Garten aufmerksam wurden. Inzwischen gibt es eine Warteliste für die Vereinsmitgliedschaft. Jedes Mitglied ist mit einem Jahresbeitrag von 20 Euro Jahr dabei. Davon kann der Verein zwar keine großen Sprünge machen. Dennoch tut sich was im Garten. Stolz zeigt Nina-Sophie Eicks neue Errungenschaften wie das Holz-Kunststoff-Regendach mit Wasserspeicher und das neue Kompostklo: Baumaßnahmen, die erheblich zum Gärtnern in entspannter Atmosphäre beitragen.
Bei den sonntäglichen Zusammenkünften wird es gesellig. "Ohne Essen und Trinken läuft hier gar nichts," sagt Nina-Sophie Eicks. Bei diesen Gelegenheiten besprechen die Gärtner auch anstehende Projekte und gemeinsame Arbeiten. Aus einem solchen Projekt ist inzwischen auch ein Kochbuch mit internationalen Rezepten entstanden.
Der Garten in Hamburg-Wilhelmsburg ist nicht der einzige dieser Art; 108 von ihnen gibt es mittlerweile in Deutschland. Koordiniert werden sie von der Stiftung Interkultur, die das Gartennetzwerk nicht nur finanziell, sondern auch mit professioneller Beratung unterstützt. Zudem hilft sie beim Wissens- und Erfahrungsaustausch. Weitere 68 Gärten sind in Planung - kleine Integrationsprojekte mit wachsender Strahlkraft.
