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Drei Wörter im Grundgesetz
Herr Simons, warum war es überhaupt wichtig, die drei Wörter "und die Tiere" ins Grundgesetz aufzunehmen?
Kurt Simons: Die Idee dazu hatte unser früherer Vorsitzender, der Jurist Eisenhart von Loeper. Sein Fallbeispiel war ein Wellensittich, der in einer künstlerischen Performance in eine Ei-Masse getaucht worden war. Damals wurde Anzeige erstattet wegen Tierquälerei. Das zuständige Gericht sagte aber sinngemäß, die Freiheit der Kunst sei grundrechtlich geschützt, die Unversehrtheit des Tieres dagegen nicht. Also brauche es auch nicht die Freiheit der Kunst gegen den Tierschutz abzuwägen. Erst wenn der Tierschutz grundgesetzlich festgeschrieben ist, ist die Abwägung gegen andere grundgesetzlich geschützte Rechtsgüter möglich.
War es schwierig, die Grundgesetz-Änderung durchzubringen?
Ja, das war sehr schwer. Von Loeper war der festen Überzeugung, dass im Rahmen des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten auch das Grundgesetz überarbeitet werden müsse. Das sei eine einmalige Chance für den Tierschutz. Von da an sind wir bei anderen Tierschutzverbänden mit der Idee hausieren gegangen, dann bei den politischen Parteien. Es war ein ständiger Kampf - und je weiter man im politischen Spektrum nach rechts kam, desto schwieriger wurde es. Viele sahen Arbeitsplätze, die Freiheit von Kunst und Forschung bedroht. Dann ging das Ringen um die Formulierung los. Letzten Endes haben wir nun die juristisch harmloseste Form der Verankerung.
Was hat die Grundgesetzänderung bisher konkret gebracht?
Das Verwaltungsgericht Gießen urteilte 2003 unter Hinweis auf die Grundgesetzänderung, dass der Tierschutz die Forschungsfreiheit einschränken kann. Geklagt hatte die Universität Marburg gegen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Gießen, das einem Professor der Universität Marburg die Genehmigung für einen Rattenversuch verweigerte. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel ließ ein Berufungsverfahren erst gar nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hob 2010, gestützt auf das Staatsziel Tierschutz, die Haltung von Hennen auf 800 Quadratzentimetern in den neuen Kleingruppenkäfigen auf, nachdem Rheinland-Pfalz geklagt hatte.
Dennoch will Landwirtschaftsministerin Aigner, dass die Käfige noch bis 2035 genutzt werden können ...
Ja, damit sich die Investitionskosten für die Anlagenbetreiber rentieren.
Warum gibt es trotz des Staatsziels Tierschutz noch Tierversuche?
Für die Genehmigung von Tierversuchen sind weiterhin die Veterinärbehörden der Bundesländer zuständig. Sie werden beraten von Tierschutzkommissionen, die sich aus Vertretern von Wissenschaft, Behörden und Tierschutz zusammensetzen. In der Regel wird geprüft, ob die fraglichen Versuche an anderer Stelle schon durchgeführt wurden und ob es tierfreie Ersatzmethoden gibt. Die Entscheidung der Behörde ist aber vertraulich. Und wenn das Verfahren abgeschlossen ist, gibt es keine Möglichkeit, die Entscheidung überprüfen zu lassen. Klagen können wir dagegen nicht. Dem Tierexperimentator dagegen steht der Rechtsweg offen, wenn er sich in seiner Freiheit beeinträchtigt sieht. Siehe die Hirnforschungsversuche an Affen, die Andreas Kreiter in Bremen macht. Darum fordern wir das Verbandsklagerecht, um Waffengleichheit zu haben. Die Einführung des Klagerechts für Verbände ist für uns die logische Konsequenz aus der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz.
Ist der Weg über Gesetze und Verordnungen überhaupt der richtige?
Wir sind ein politisch arbeitender Verband. Wir sitzen in fast allen Bundesländern in den Tierschutzkommissionen ebenso wie in den Beiräten der Landesregierungen. Wir stehen in Kontakt mit den Tierschutzbeauftragten oder Tierschutzreferenten der Parteien. Wir nehmen Stellung, zum Beispiel zur Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in nationales Recht. Wir sagen: Jede Verbesserung im Sinne des Tierschutzes muss in Gesetzen und Verordnungen verankert werden, sonst ist sie zahnlos. Die Veränderungen im Bewusstsein der Öffentlichkeit, die kommen natürlich auch über andere Wege. Da machen die Albert-Schweitzer-Stiftung oder PETA viel, mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, mit Demos und Flyern.
Welche Strategie verfolgen Sie?
Welche Strategie verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit?
Früher haben die Tierschutzverbände meist nur gesagt, was sie nicht wollten. Wir sind dazu übergegangen, Alternativen aufzuzeigen. Wir haben zum Beispiel die Einführung von Lehrstühlen für tierversuchsfreie Forschung angeregt. Solche Verfahren müssen viel stärker gefördert werden. Außerdem wollen wir zeigen, dass man durch die Abkehr vom Tierversuch Arbeitsplätze nicht gefährdet, sondern schafft. Dass Deutschland als Forschungsstandort die Nase vorne behalten kann. Wir wollen Forschung nicht verbieten, sondern sie nur in eine andere Richtung lenken. Außerdem brauchen wir mehr Vernetzung. Es reicht nicht, dass eine Landesregierung einen Preis für Alternativen zum Tierversuch ausschreibt. Forscher wissen zum Teil nicht mal etwas von diesen Preisen.
Darum haben Sie InVitroJobs.com gegründet, das Portal für tierversuchsfreie Forschung ...
Mit dem Internetportal versuchen wir, ein solches Netzwerk selbst zu etablieren. Das ist natürlich im Grunde viel zu wenig. Aber das Signal ist: Wenn wir als kleiner Verband so etwas auf die Beine stellen können, wie viel mehr müsste dann möglich sein, wenn das von Regierungsseite gemacht würde? Wenn wir ein Prozent des Geldes, das jetzt in die Tierversuchsforschung investiert wird, nähmen, um die alternativen Forschungsmethoden zu koordinieren, wäre das ein Quantensprung für die Entwicklung tierversuchsfreier Forschung.
Wo sehen Sie - unabhängig von der Grundgesetzänderung - Fortschritte beim Tierschutz in Deutschland?
Es gibt hierzulande kaum noch Pelztierhaltung. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass so viel geordnet und verordnet wurde, dass sich die Zucht einfach nicht mehr lohnt. Niedersachsen hat einen 38-Punkte-Plan für zwölf Tiergruppen vorgelegt, den das Land bis 2018 umsetzen will. Das Kupieren der Ferkelschwänze, der Schnabelspitzen bei Hennen und Puten oder das betäubungslose Amputieren der Hornanlagen bei Kälbern soll in den kommenden Jahren unterbunden werden, ebenso das Töten männlicher Eintagsküken. Auch die aktuelle Novelle des Tierschutzgesetzes der Bundesregierung sieht Tierschutz-Verbesserungen vor, wie etwa Verbote für den Schenkelbrand bei Pferden und das Kastrieren der Ferkel ohne Schmerzausschaltung, sowie eine Konkretisierung, was unter "Qualzucht" zu verstehen ist. Mut macht uns, dass die Länder Nordrhein-Westfalen, Saarland, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hamburg die Einführung der Tierschutz-Verbandsklage zugesagt haben. Die Grünen-Bundestagsfraktion hat einen umfassenden Entwurf für ein neues Tierschutzgesetz in den Bundestag eingebracht.
Dennoch: Die Tierversuchszahlen wachsen, die industrielle Tierproduktion in Deutschland scheint gerade einen Boom zu erleben. Siehe die Geflügelmast ...
In der Tierrechtsszene klagen viele, dass das alles, was wir erreicht haben, schon bald wieder Makulatur ist, dass die Quälerei immer weiter geht. Man wird immer irgendwie zurückgeworfen. Da ist etwas dran. Aber das darf uns nicht davon abhalten, weiterzumachen. Wir haben in Deutschland, zusammen mit England, Österreich und den skandinavischen Ländern, die strengste Tierschutz-Gesetzgebung weltweit. Und letzten Endes sind die Rückschritte immer kleiner als die Fortschritte.