Tief hat sich meine Tochter Irene in das kollektive Gedächtnis ihrer Berliner Kindertagesstätte eingegraben. In ihrem ersten Kita-Jahr reagierte sie extrem, wenn ihre vertrauten Betreuerinnen plötzlich fehlten und eine Vertreterin die Gruppe beaufsichtigen sollte: Sie brüllte laut, zornig, ausdauernd und ließ sich kaum beruhigen.
Am schlimmsten war es, wenn wir unsere damals sechs Monate alte Tochter schon am frühen Morgen einer nur flüchtig bekannten Frau überlassen mussten – was häufig vorkam, da eine ihrer beiden Betreuerinnen lange krank war. Irenes Geschrei begleitete uns durch den Flur und lastete auf unserem Gemüt.
Wir waren ratlos. Mit unserer älteren Tochter hatte es nie Probleme gegeben, sie war von Beginn an gern in die Kita gegangen und hatte sich dort prächtig entwickelt: Sie schloss Freundschaften, konnte einfühlsam auf andere eingehen, lernte früh, sich selbst anzuziehen und ihre Sachen aufzuräumen.
Aber Kinder sind verschieden. War es richtig gewesen, Irene mit sechs Monaten aus dem Haus zu geben? Schadeten wir ihr womöglich fürs Leben?
Fragen wie diese stellen sich viele Eltern – nicht nur, wenn ihr Kind sich in der Krippe oder bei einer Tagesmutter offensichtlich unwohl fühlt.
Lange Zeit galt es zumindest im Westen Deutschlands als selbstverständlich, dass Kleinkinder bei der Mutter am besten aufgehoben sind; Fremdbetreuung vor dem dritten Geburtstag erschien allenfalls als Notlösung.
Wer sich dieser Norm nicht fügte, durfte mit Fragen aus dem Bekanntenkreis rechnen, die an das schlechte Gewissen appellierten ("Warum hast du eigentlich ein Kind bekommen, wenn du es gleich wieder weggibst?").
Die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen ließ die Nachfrage nach Betreuungsangeboten jedoch stark ansteigen. Seit August 2013 gibt es sogar einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr. Denn heute kehren Frauen immer früher aus der Elternzeit an den Arbeitsplatz zurück. Im Schnitt ist die Babypause weitaus kürzer als vor zehn Jahren.
Doch die Skepsis vieler Eltern ist nicht im gleichen Maße geschwunden – unter anderem deshalb, weil die Meinungen der Experten in diesem Punkt nach wie vor weit auseinandergehen.
Manche halten eine frühe Fremdbetreuung für völlig unproblematisch, verweisen etwa darauf, dass selbst die DDR mit ihrer Krippenkultur nicht mehr neurotische Erwachsene hervorgebracht habe als andere Länder.
Manche warnen vor zu früher und zu langer Betreuung: So habe sich ebenfalls in der DDR gezeigt, dass Kinder, die ab einem Alter von drei Monaten montags bis freitags durchgehend betreut wurden, deutliche Entwicklungsverzögerungen aufwiesen, etwa schlechtere Motorik, weniger Spielaktivität oder Probleme im sozialen Verhalten.
Der Kinderarzt Rainer Böhm, Leiter des sozialpädiatrischen Zentrums in Bielefeld, warnt seit Langem vor seelischen und körperlichen Schäden bei Kindern unter zwei Jahren, darunter erhöhter Krankheitsanfälligkeit durch den hervorgerufenen Stress: Solche Folgen einer Fremdbetreuung in dem Alter seien generell "unethisch".
Bildungspolitiker hingegen diskutieren derweil sogar eine Kita Pflicht. Gerade Kinder aus sozial benachteilig ten Familien könnten gar nicht früh genug in eine Betreuungseinrichtung kommen, um dort beispielsweise richtig Deutsch zu lernen.
Schaden Kitas nun der kindlichen Entwicklung? Oder fördern sie die so gar? Gibt es jenseits von Meinungen und individueller Erfahrung harte wissenschaftliche Befunde zu dieser Frage?
Lange Jahre lagen kaum belastbare Forschungsergebnisse vor. Denn um einschätzen zu können, welchen Einfluss eine Fremdbetreuung auf die Kinder und ihren weiteren Lebensweg hat, müssen Wissenschaftler ihre kleinen Probanden über viele Jahre begleiten. Erst in jüngster Zeit erlaubten die Auswertungen um fangreicher Studien ein Urteil darüber, wie sich Krippe oder Tagesmutter auf die geistige und körperliche Entwicklung von Kleinkindern auswirken.
Und leider widersprechen sich die Forschungsergebnisse zum Teil.
Pionierarbeit leistete zum einen das "National Institute of Child Health and Human Development" (NICHD) in den USA. Von 1991 an verfolgten dort Forscher das Schicksal von mehr als 1000 Kindern und ihren Familien an zehn Standorten. Von der Geburt bis zu ihrem 15. Geburtstag wurden die Kinder beobachtet; jedes vierte wurde schon als Baby außer Haus betreut, im Alter von drei Jahren waren es mehr als 90 Prozent der Mädchen und Jungen.
Der zentrale Befund der NICHD-Studie mag banal klingen, dürfte aber viele Eltern beruhigen: Der Einfluss einer Fremdbetreuung auf die kindliche Entwicklung sei marginal, sofern er sich überhaupt nachweisen lasse.
Gegenüber anderen Faktoren, wie den Erbanlagen und familiären Verhältnissen, falle er kaum ins Gewicht. Kinder, die in den ersten drei Jahren fremd betreut wurden, erzielten in Sprach- und kognitiven Tests ähnliche Ergebnisse wie Kinder, die daheim blieben.
Die Studie widerlegt zudem die Befürchtung vieler Psychologen, die Mutter-Kind-Bindung könne durch die zeitweise Trennung Schaden nehmen: Auch wenn der Sprössling seine Erzieherin oder Tagesmutter noch so gern hat, bleibt doch die Mama der Fixpunkt im kindlichen Kosmos. Erforscht wurde das durch Bindungsexperimente, bei denen die Mutter nach einem bestimmten Zeitraum und in fremder Umgebung das Kind verließ und wieder zurückkehrte, und ein Psychologe beobachtete, wie es sich daraufhin verhielt.
Ein Befund aber gibt Experten Anlass zur Sorge: Je mehr Zeit Kinder in den ersten Lebensjahren in außerhäusiger Betreuung verbrachten, desto aggressiver und aufsässiger wurden sie, auch in späteren Jahren. Noch als Teenager neigten sie häufiger zu Prahlerei, Randalieren oder Alkoholkonsum.
Einige Pädagogen führen diesen Befund darauf zurück, dass Kita Kinder früh lernen, sich durchzusetzen und ihre Interessen zielstrebig zu verfolgen – was auf Erwachsene aufsässig wirken könne.
Andere Wissenschaftler allerdings, wie der Bindungsforscher Jay Belsky, immerhin ein Mitautor der NICHD-Studie, fragen besorgt: "Was geschieht in Schulen und auf Spielplätzen, wenn im mer mehr und immer jüngere Kinder immer mehr Zeit in Krippen verbringen, von denen viele unstreitig von begrenzter Qualität sind?" Denn wenn die Zahl der Krippenkinder eines Tages sehr groß wäre, könne selbst ein minimaler Effekt wie eine erhöhte Aggressionsneigung extreme Folgen für die Gesellschaft haben: Zum Beispiel müssten Lehrer mehr Zeit investieren, Störenfriede im Zaum zu halten, und könnten sich folglich weniger um den Unterricht kümmern.
Belsky rät daher von ganztägiger Betreuung sehr junger Kinder ab, ohne sich auf eine Altersgrenze festzulegen.
Doch möglicherweise ist dieser unter Experten viel diskutierte Befund ein rein statistischer Effekt, der eher auf die jeweiligen Familienverhältnisse zurückzuführen ist als auf die Auswirkungen der Krippe. Das jedenfalls legt eine neue Studie aus Norwegen nahe, wo es üblich ist, Kinder mit einem Jahr in die Krippe zu geben. Die Wissenschaftler befragten 72.000 norwegische Mütter von 18 Monate alten Kindern, wie gehorsam oder aggressiv sie ihre Sprösslinge empfanden, und wiederholten die Interviews 18 Monate später.
Das Ergebnis: Sie fanden keinen Unterschied zwischen Kindern, die daheim blieben, und jenen, die in eine Kita gingen. Auch wie viele Stunden die Kinder außer Haus verbrachten, spielte für abweichendes Verhalten keine Rolle.
Die hohe Teilnehmerzahl der norwegischen Studie erlaubte es den Forschern, gezielt Kinder aus ähnlichen Verhältnissen, zum Teil sogar aus den gleichen Familien zu vergleichen.
So könnte es sein, dass die in der NICHD-Studie beobachtete Tendenz zur Aufsässigkeit bei Kita-Kindern auf Unterschiede zwischen den untersuchten Familien zurückgeht: Möglicherweise hatten sich Eltern anstrengender Kinder schlicht häufiger für eine Krippe entschieden als die ausgeglichener Babys. Allerdings könnte für das Ergebnis auch die gute Betreuungssituation in Norwegen eine Rolle spielen.
Den gesamten Text lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Mütter".