Arne Tensfeldt vermisst sein Leben. Der 33-jährige Hamburger weiß genau: Am 7. November 2006 hat er 87,3 Kilogramm gewogen, 769 Kilokalorien hat er am 20. Dezember 2009 beim Abendessen verzehrt, 1272 E-Mails lagen im Mai 2014 in seinem Posteingang.
Seit acht Jahren protokolliert Tensfeldt jeweils auf ein bestimmtes persönliches Projekt hin ausgerichtet, wie viel Sport er treibt, wie effektiv er arbeitet, wie sich sein Gewicht verändert, sein Puls, sein Schlaf, sein Appetit.

"Meine Tabellen sind die Stellschrauben meines Lebens", erklärt er. Sie helfen ihm, sich ständig zu verbessern. Zehn Kilogramm hat er innerhalb von sechs Monaten abgenommen, indem er seinen Energieverbrauch überwachte. Und mit einem präzise dokumentierten Trainingsplan bewältigte er im Oktober 2010 nach zehn Wochen gezielter Vorbereitung einen Marathonlauf.
"Alles ist möglich", sagt Tensfeldt. "Man muss nur genau erkennen, was man verändern muss."
Diese Haltung treibt immer mehr Menschen dazu, Facetten ihres Daseins in Zahlen zu fassen. Denn so, glauben sie, sind Probleme leichter zu lösen, können sie gesünder und effektiver, gar glücklicher werden. Weltweit bezeichnen sich Schätzungen zufolge derzeit mindestens 40 000 Menschen, meist junge Männer, als „Selbstvermesser“. Manche kontrollieren bis zu 50 Faktoren, vom Herzschlag bis zur gemeinsamen Zeit mit der Partnerin. Allein in einigen deutschen Großstädten gibt es Hunderte, die sich regelmäßig zu Veranstaltungen treffen.
Ihr Ziel ist das "Quantified Self": ein Ich, das sich möglichst bis ins Letzte in Daten erfassen lässt. Diese Bezeichnung hat das US-Magazin "Wired" erfunden, ein Medium für Menschen, die sich für neue Techniken, für Zukunft und Fortschritt begeistern. Es ist gewissermaßen das Zentralorgan jener Weltsicht, die ihre Wurzeln im Silicon Valley hat. Dort stimmt vor allem eines die Menschen zuversichtlich: die Erwartung, dass Technik Wohlstand und Wohlbefinden auf der Welt mehren wird.

Der radikale Glaube an die grenzenlosen Möglichkeiten des Fortschritts durch Technik ist der Wesenskern der Silicon-Valley-Weltanschauung: ein Tech-Optimismus, der auch Tensfeldt und andere Selbstvermesser beflügelt. Erst die in den letzten Jahren entwickelte Technik ermöglicht es ihnen, das eigene Ich akribisch in Zahlen zu zerlegen.
Sie tragen elektronische Armbänder (um etwa die zurückgelegten Schritte zu zählen), Mini-Kameras in der Kleidung (um alle 30 Sekunden ein Foto zu schießen und so ein Bilderbuch ihres Alltags aufzuzeichnen) oder mit Sensoren ausgestattete Brustgurte (um die Herzfrequenz zu überwachen).
Wem das nicht genügt, der kann sich von einem T-Shirt mit eingewebten Messfühlern lückenlos Puls, Atemfrequenz oder Schlafpositionen überwachen oder von einer elektronischen Gabel das Tempo der Nahrungsaufnahme messen lassen. Selbstvermesser tragen Fitness-Socken, die ihren Laufstil dokumentieren, oder zählen mit einem speziellen Aufnahmegerät die Zahl der Wörter, die ihr Baby hört - um dessen sprachliche Entwicklung zu steuern.
Freilich: Noch verschreiben sich nur wenige Menschen so radikal der Lebensanalyse. Doch zusehends ergreift der Geist der technikbasierten Selbstvermessung immer größere Teile der Gesellschaft. Längst gibt es eine Industrie mit Millionenumsätzen, die ihren Kunden zu helfen verspricht, sich beständig selbst zu verbessern - und die Hoffnung nährt, das dies auch gelingen kann.

Unter Smartphone-Benutzern sind vor allem jene Softwareprogramme beliebt, die dabei helfen, die eigene Fitness zu kontrollieren. Mit ihrer Hilfe lassen sich beispielsweise Schritte oder Kalorien zählen und der Blutdruck messen. Bis 2018 werden Schätzungen zufolge voraussichtlich 1,7 Milliarden Menschen solche Gesundheits-Apps nutzen, fast ein Viertel der Weltbevölkerung.
Der Drang zur bedingungslosen Vermessung und Veränderung gilt Wissenschaftlern längst als Symptom eines tief greifenden Wandels; er rückt ins Zentrum des kulturellen Bewusstseins. "„Die Selbsthilfe ist nicht nur ein Marktsegment", so die israelische Soziologin Eva Illouz, "sondern ein völlig neuer kultureller Modus, das heißt eine neue Weise, wie sich das Individuum auf die Gesellschaft bezieht." Nicht die Gemeinschaft, sondern der Einzelne muss dafür sorgen, erfolgreicher, gelassener, klüger, schöner, gesünder zu werden - doch dies, so die Botschaft der Vermessungs-Propheten, kann nur gelingen, wenn ein jeder sich selbst, sein eigenes Verhalten und seine Gewohnheiten genau durchdringt.
Mit der unablässigen Beobachtung des eigenen Lebens soll die Selbstvermessung dafür sorgen, dass Menschen mehr auf sich und ihre Umgebung achten - und das entweder schon während der Aufzeichnung, weil die Kalorienzufuhr, Gefühle oder die Qualität eines Gespräches dokumentiert werden müssen, oder später bei der Auswertung der Daten, wenn die Werte verglichen und zueinander in Beziehung gebracht werden.
Dass die Dokumentation des Lebens tatsächlich bei der Selbstoptimierung hilft, haben internationale Studien erwiesen: So verbessert sich die Gesundheit von Probanden nachweislich, sobald sie regelmäßig Gefühle und Erfahrungen aufzeichnen.
Noch effektiver ist es, wenn man es nicht bei der bloßen Protokollierung belässt, sondern sich konkrete Ziele setzt. Das zeigte unter anderem eine Untersuchung, für die Wissenschaftler Studenten mit akademischen Problemen ein computergestütztes Programm durchlaufen ließen, dass ihnen helfen sollte, ihre persönlichen Ziele und Strategien bei der Prüfungsvorbereitung zu definieren. Das Ergebnis: Die Versuchsteilnehmer erzielten im Schnitt bessere Noten als die Probanden einer Kontrollgruppe ohne exakte Pläne.
Könnte die Selbstvermessung die Menschheit also tatsächlich in eine bessere Zukunft führen?
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