Der Patient ist leicht betäubt. Nur schemenhaft nimmt er wahr, wie der Chirurg das Skalpell hebt - aber er merkt nicht, wie der Arzt nun beginnt, ihn zu täuschen. Statt, wie zuvor besprochen, das Knie zu operieren, setzt er dort nur drei kleine Schnitte in die Haut. Dann hantiert er mit einem Endoskop, doch gibt er nur vor, das Gerät in den Körper einzuführen. Denn in Wahrheit handelt es sich um ein medizinisches Experiment. Und das ganze Operationsteam ist eingeweiht - nur der Patient nicht.
Für diese US-Studie haben die Ärzte 180 Patienten mit schmerzhaften Knorpel- und Knochenveränderungen am Knie ins Krankenhaus geladen. Doch nur 120 von ihnen werden tatsächlich operiert, die übrigen 60 kommen zum Schein unters Messer. Alle 180 Probanden gehen anschließend davon aus, wirklich behandelt worden zu sein.
Das nun zu erwartende Ergebnis, so sollte man meinen, ist klar: Wer operiert wird, fühlt sich danach besser; wer nur getäuscht wird, den peinigen weiterhin Schmerzen. Tatsächlich aber gibt es in der Wirkung zwischen inszenierter und echter Operation keinen Unterschied. Nachuntersuchungen zeigen, dass beide Patientengruppen anschließend ihre Knie wieder besser bewegen können, dass sie wieder eher in der Lage sind, Treppen zu steigen, weniger Schmerzen haben.
In einer anderen Studie fühlten sich Depressive deutlich besser, nachdem sie acht Wochen lang vermeintlich Psychopharmaka einnahmen (tatsächlich aber nur Zuckerpillen geschluckt hatten): Auf einer Skala, mit der das Ausmaß einer depressiven Störung ermittelt wird, verbesserten sich ihre Werte durchschnittlich um 36 Prozent. Andere Patienten, die pharmakologisch wirksame Antidepressiva schluckten, erreichten nur wenig bessere Werte.
Und bei Kindern, die unter Hausstaub-Allergie litten, verschwand nach achtmonatiger Behandlung fast jeglicher Juckreiz. Alle hatten Spritzen erhalten, aber nur bei einer zufällig ausgewählten Gruppe enthielten sie auch Wirkstoffe. Ob Arthrose-Patienten, Depressive oder Allergiker: All die getäuschten Kranken profitierten von einem verblüffenden Phänomen - dem Placebo-Effekt.
Wenn es einem Arzt gelingt, den Patienten davon zu überzeugen, dass eine Behandlung wirksam sein wird, dann tritt häufig tatsächlich Besserung ein - ganz gleich, ob der Arzt eine Therapie einleitet oder nicht. Die bloße Überzeugung, so scheint es, vermag die Medizin dann zu ersetzen. Ärzte können den Placebo-Effekt nutzen, um erstaunliche Veränderungen im Körper anzustoßen. So vermag allein die Gabe von Scheinmedikamenten (die keinerlei Wirkstoffe enthalten) den Blutdruck zu verändern oder das zentrale Nervensystem anzuregen, körpereigene Schmerzmittel auszuschütten.
In einer Vielzahl von Studien haben Forscher getestet, wann es wahrscheinlich ist, dass Patienten von Placebos profitieren. So linderten in einer Untersuchung Scheinpräparate die Migräneschmerzen von etwa jedem dritten Erwachsenen und jedem zweiten Kind. Und sechs von zehn Patienten mit einer chronischen Darmerkrankung hatten nach einer Placebo-Behandlung deutlich seltener Bauchweh, Durchfall oder Verstopfung.
Placebos sind dann besonders häufig wirksam, wenn nicht nur der Körper leidet, sondern auch die Psyche - etwa bei Depressionen, Schlaflosigkeit, Parkinson und bei den verschiedensten Arten von Schmerz.
Das belegte unter anderem eine Studie mit 74 Patienten, denen die Weisheitszähne entfernt und anschließend Infusionen verabreicht wurden. Zunächst erhielten alle Probanden eine wirkungslose Kochsalzlösung. Bei der Hälfte der Probanden ließen die Ärzte nach einer Stunde stattdessen unbemerkt ein äußerst starkes Schmerzmittel ins Blut rinnen. Die andere Hälfte erhielt weiterhin nur die Placebo-Lösung, doch die Pfleger priesen die Infusion nun ausdrücklich als schmerzstillend an. Das Ergebnis: Beide Gruppen verspürten eine deutliche Linderung der Schmerzen - das bloße Versprechen wirkte so gut wie das Schmerzmittel.
Der Placebo-Effekt existiert also wirklich, er ist kein Hirngespinst. Aber: Wie funktioniert er? Wie kann die Überzeugung, dass eine Therapie nützen wird, derartig auf die Physis einwirken? Und muss man besonders optimistisch sein, um die Selbstheilungskräfte zu wecken?
Häufig beruht der Effekt auf einem Prinzip, das Psychologen "Konditionierung" nennen: Macht ein Patient die Erfahrung, dass eine bestimmte Behandlung, etwa die Einnahme einer Schmerztablette, ihm hilft, so koppelt er spezifische Reize an die Erfahrung, zum Beispiel den bitteren Geschmack oder die Farbe des Präparats. Dann können bereits diese Reize genügen, um Linderung zu verschaffen, denn das Gehirn ist auf sie konditioniert. In einer Studie fügten Forscher dem Spray, mit dem Asthmakranke sich mit Arzneistoffen versorgen, Vanille-Essenz hinzu. Nach zwei Wochen inhalierten die Probanden nur noch das Aroma - dennoch verbesserte sich ihre Lungenfunktion.
Die Überzeugung, dass eine Behandlung wirkt, lässt die Menge bestimmter Botenstoffe in den Adern und Nervenbahnen ansteigen. Das wies ein italienischer Forscher nach. Er spritzte Freiwilligen den Stoff Capsaicin in Hände und Füße; diese Substanz, die in Chilischoten vorkommt und für deren Schärfe verantwortlich ist, verursacht ein unangenehmes Brennen.
Einigen Probanden waren die Injektionsstellen jedoch zuvor mit einer Placebo-Salbe eingerieben worden – bei ihnen fiel der Schmerz schwächer aus und nahm schneller ab. Denn die brennenden Stellen waren von körpereigenen Opioiden durchflutet worden, die den Schmerz mindern. Bei einer Vergleichsgruppe hingegen versetzte der Forscher das Blut der Probanden zuvor mit Naloxon, einer Substanz, die die Opioide blockiert. Nun gab es keinerlei lindernde Wirkung - denn das Gehirn konnte ja keine körpereigenen Schmerzmittel in die brennende Partie schicken.
Eigentlich, so sollte man meinen, müssten diese Mechanismen bei jedem Menschen zu beobachten sein. Doch nicht immer ist auf den Effekt Verlass. Forscher vermuten, dass manche Menschen eine Art "Placebo-Persönlichkeit" haben, die sie für Scheinbehandlungen empfänglich macht. Noch ist dies nur eine Theorie, doch es deutet sich in den wissenschaftlichen Befunden an: Besonders empfänglich für den Effekt sind Menschen, die generell zu Optimismus neigen. Denn wer die Dinge meist von ihrer guten Seite sieht, hört aus den Aussagen des Arztes eher das für ihn Positive heraus - und erhöht so die Chance, dass der Effekt eintritt.
Wer dagegen eher die Risiken einer Behandlung wahrnimmt, Nebenwirkungen erwartet oder auch nur wenig Zutrauen zur Therapie hat, ruft womöglich das Gegenteil hervor: Je eher der Patient vom schlechten Verlauf einer Behandlung ausgeht, desto eher wird sie auch tatsächlich nicht wirken.
In einer Studie verursachte ein Prostata-Medikament bei beinahe jedem zweiten Patienten Erektionsstörungen - falls der Arzt die Männer zuvor davor gewarnt hatte. Wussten die Probanden nichts von der möglichen Nebenwirkung, war nur bei 15 Prozent das Sexualleben beeinträchtigt.
Doch welche Erwartung ein Patient hat, hängt nicht allein von seinem Naturell ab. Inzwischen konnten Forscher etliche weitere Faktoren ausmachen. So trauen Patienten Originalpräparaten eher als nachgeahmten Produkten (Generika), obwohl die Inhaltsstoffe gleich sind. Auch die Menge beeinflusst die Erwartung: Von vier Tabletten täglich versprechen sich Kranke mehr als von einer. Und wer viel Geld für eine Arznei bezahlt, glaubt an einen größeren Effekt. Und: Wir sind sogar von der Wirkung einer Behandlung eher überzeugt, wenn sie besonders unangenehm ist.
Das zeigte sich in Studien mit Migränepatienten: Dabei halfen Placebo-Pillen durchschnittlich immerhin jedem Vierten; erhielten die Teilnehmer das vermeintliche Schmerzmittel jedoch mit einer Spritze, fühlte sich sogar jeder Dritte nach zwei Stunden deutlich besser. Den wohl größten Einfluss auf unsere Erwartung aber hat der Arzt. Kranke versprechen sich mehr von einer Behandlung bei einem Professor als bei einem Assistenzarzt; sie glauben an die Wirkung eines Medikamentes eher, wenn es ein Mediziner verabreicht und nicht ein Krankenpfleger.
Selbst der weiße Arztkittel scheint große Hoffnung zu wecken: In einer Studie betrachteten 400 Probanden die Bilder verschieden gekleideter Mediziner. Die Mehrheit der Teilnehmer erklärte danach, sie würde am ehesten 107dem Doktor in Weiß eine erfolgreiche Behandlung zutrauen. Forscher vermuten, dass diese Ehrfurcht vor dem Heiler auch vielen alternativmedizinischen Verfahren zum Erfolg verhilft, etwa Homöopathie, Chiropraktik oder Bioresonanz.
Doch das Wissen um den Placebo-Effekt stürzt die Medizin in ein moralisches Dilemma: Dürfen Ärzte ihren Patienten vorgaukeln, sie würden sie wahrhaftig behandeln? Missbrauchen sie damit nicht auf eklatante Weise das Vertrauen der Hilfesuchenden? Letztlich muss jeder Arzt dies auf seine Weise beantworten. Die Bundesärztekammer erklärt dazu: Mediziner dürfen durchaus Scheinbehandlungen vornehmen, zumindest bei leichten Beschwerden. Vor allem sollten sie aber bedenken, dass es sich häufig nicht unterscheiden lässt, wann Wirkstoffe heilen - und wann allein Worte. Einer Schätzung zufolge beruhen auch bei manchen schulmedizinischen Arzneien bis zu 70 Prozent der Wirkung auf der heilsamen Kraft der Überzeugung.
Der Placebo-Effekt könnte also künftig genutzt werden, um die Wirkung wissenschaftlich erforschter Behandlungen zu ergänzen, vielleicht sogar zu vervielfachen – indem Mediziner ihren Patienten gezielt vermitteln: Ich umsorge dich, verstehe dich und gebe dir ein wirksames Mittel gegen dein Leiden. Der Arzt ist selbst ein Heilmittel, wenn er seine Macht zu nutzen weiß; wenn er Einfühlungsvermögen und Verständnis zeigt, Wissen und Vertrauen vermittelt. Darauf beruht die Heilkunde seit Jahrtausenden – seit besondere Menschen in der Steinzeit begannen, Gebrechen durch Zauber zu behandeln. So sehr die Medizin seither zur Wissenschaft geworden ist: Auch heute noch profitieren Patienten von ein wenig Magie.
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