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Interview: Die Logik des Misslingens

Dietrich Dörner beschäftigt sich wissenschaftlich mit Entscheidungen – und hat analysiert, wie wir angesichts komplexer Situationen das Richtige tun können.

Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Entscheidung und Intuition":

GEO WISSEN: Herr Professor Dörner, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit Entscheidungen in komplexen Situationen. Färbt das eigentlich ab? Sind Sie dadurch selbst ein besserer Entscheider geworden?

DIETRICH DÖRNER: Ich denke schon. Ich urteile zwar nicht weniger intuitiv, aber ich achte stärker auf die langfristigen Auswirkungen meiner Entscheidungen. Ich lasse mich auch weniger ablenken und entscheide nicht mehr so impulsiv. Insofern bin ich rationaler geworden in meinen Urteilen.

Machen Sie sich dann ausführliche Listen, mit einer Plus-Seite und einer Minus-Seite?

Nein. Das halte ich für fragwürdig. Denn diese Listen führen leicht zu Entscheidungen nach „Schema F“ und werden nicht mehr an den konkreten Fall angepasst. Man geht dann zum Beispiel davon aus, dass man die Positiva und Negativa einfach addieren kann, oft müsste man sie aber eher multiplizieren. Auch suggerieren Listen, dass alle Gesichtspunkte halbwegs gleichwertig sind. Aber das ist nicht der Fall, wie jeder weiß.

Gibt es „Entscheidungs-Naturtalente“? Also Menschen, die besser entscheiden als andere?

Durchaus. Nehmen Sie zum Beispiel Napoleon. Er verfügte über eine große Entscheidungsintelligenz. Sie ist eng verbunden mit der Fähigkeit, sein Denken den speziellen Umständen anpassen zu können. Napoleon liebte die minutiöse Planung, sagte aber auch „allzu scharf schneidet nicht!“. Er wusste also, wann genaue Planung nicht viel nutzt und er eher situativ handeln musste. Auf dem Schlachtfeld konnte er umstellen von einer Vogelperspektive, von der aus er den groben Überblick hatte, auf die genaue Analyse von Details. So wusste er zum Beispiel meist genau, wie viele Ersatzschuhe ein Soldat im Gepäck hatte – und damit, wie weit das Heer noch marschieren konnte.

Welche konkreten Persönlichkeitsstrukturen sind es, die jemanden zu einem guten Entscheider machen?

Sich nicht selbst zu überschätzen; die Fähigkeit, sich an wechselnde Umstände anzupassen; aus Fehlern zu lernen sowie eine gewisse selbstsichere Kaltblütigkeit. Und: gnadenlose Selbstkritik. Dafür ist Friedrich der Große bekannt, der ein exzellenter Entscheider war. Er hat sogar aufgeschrieben, was er alles falsch gemacht hat. Er gestand ein, den Ersten Schlesischen Krieg auch aus Ruhmsucht begonnen zu haben. So etwas war für politische Akteure seiner Zeit höchst ungewöhnlich – und ist es heute noch.

Sie haben Computermodelle entwickelt, mit deren Hilfe Menschen ihr Entscheidungsverhalten gleichsam im Zeitraffer üben und verbessern können. In den Simulationen geht es um komplexe Situationen, wie etwa in „Moroland“. Die Teilnehmer sollen als Entwicklungshelfer das Überleben des Volksstammes der Moro sichern, der am Rande der Sahara von Rinderzucht und Ackerbau lebt. Sie haben beschrieben, wie es selbst ein Volkswirt und ein Physiker in kürzester Zeit fertigbrachten, das Volk in eine Hungerkatastrophe zu führen. Was war passiert?

Wie viele andere Testpersonen auch, waren die beiden ganz ergriffen von ihrer humanitären Aufgabe, den Moro zu einem besseren Leben zu verhelfen. Das Gutmenschentum brachte dann einen Aktionismus hervor, der direkt in die Katastrophe führte. Der entscheidende Fehler war, dass Fern- und Nebenwirkungen der Entscheidungen nicht berücksichtigt wurden. Die Teilnehmer hatten nur die unmittelbare Wirkung im Blick.

Viele ließen erst einmal zahlreiche Brunnen bauen, um die Wasserversorgung zu verbessern und mehr Getreide anzubauen. Kurzfristig gelang das auch. Mittelfristig aber sank dadurch der Grundwasserspiegel irreversibel, weil in einer Wüstenregion natürlich nicht viel Grundwasser nachgebildet wird. Es lag also eigentlich auf der Hand, dass eine Wassernot entstehen musste – mit den entsprechenden Folgen.

Ihre Probanden sind ja keine Dummköpfe. Wie reagieren sie, wenn sie mit solch offensichtlichen Fehlentscheidungen konfrontiert werden?

Einige behaupten, wir hätten das Spiel falsch programmiert. Das waren die Erfolglosen. Aber es gab auch Teilnehmer,

die recht erfolgreich waren. Die meisten sahen ein, dass sie nicht richtig nachgedacht hatten, und wunderten sich über sich selbst. Manche Studenten haben mich noch Jahre später auf der Straße angesprochen: Sie hätten dank der Simulation zum ersten Mal richtig begriffen, wie man bei komplexen Entscheidungen vorgehen sollte.

Sie haben in Moroland auch Manager gegen Studenten antreten lassen. Wer hat besser entschieden?

Die Studenten handelten häufiger nach dem Prinzip „Eins nach dem andern!“, waren zunächst oft die größten Fans von Brunnenbohrungen. Erst danach haben sie sich um den Ackerbau gekümmert, am Ende um die Rinderzucht. Sie haben die Dinge isoliert betrachtet. Die Manager haben meist erst nachgedacht und dann eine Strategie abgestimmt. Ihnen war eher bewusst, dass die Bereiche miteinander wechselwirken.

Sie haben zum Beispiel erkannt, dass ein intensiverer Hirseanbau dazu führt, dass weniger Rinder gezüchtet werden können, die aber wiederum wichtig für den Export sind. Die Manager haben zwar zunächst langsamer gehandelt als die Studenten, sie waren letztlich aber erfolgreicher, weil sie das große Ganze nicht aus den Augen verloren haben.

Dietrich Dörner, 71, hat Simulationen entwickelt, mit denen Menschen ihr Entscheidungsverhalten verbessern können
Dietrich Dörner, 71, hat Simulationen entwickelt, mit denen Menschen ihr Entscheidungsverhalten verbessern können
© Peter Rigaud/laif

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Sie haben auch mit der Zusammensetzung von Gruppen experimentiert. Wie wirkt sich diese auf die Qualität von Entscheidungen aus?

Das kommt sehr auf die Gruppe an. Wenn sie disparat zusammengesetzt ist, also zum Beispiel sehr Extrovertierte mit sehr Introvertierten zusammenkommen oder Bürokraten mit Freigeistern, kann das grandios schiefgehen. Dann ziehen sich viele zurück, kümmern sich nur noch um Einzelheiten, die sie gerade interessieren, aber nicht mehr um das große Ganze. Mitunter wurden Mitspieler regelrecht gemobbt. Heterogenität kann dann funktionieren, wenn die Gruppenmitglieder einsehen, dass sie sich gut ergänzen. Welche Konstellation von Testpersonen hat am besten abgeschnitten?

Gut geklappt hat es, wenn die Macher das Tagesgeschäft übernommen haben und ein eher ruhiger Mitspieler quasi als Joker auf der Couch lag und von Zeit zu Zeit als externer Ratgeber und Entscheider gefragt war.

Der eine macht die Arbeit und ist Spezialist für die Details, der andere hat den Überblick?

Genau. Das erinnert an die Aufteilung zwischen Stabschef und Kommandeur oder Minister und Staatssekretär. Am besten funktioniert so etwas, wenn ein Grundvertrauen zwischen den Mitspielern vorhanden ist. Wenn derjenige,

der den Überblick hat und entscheidet, auch fähig ist, sich zu korrigieren. Und er seine Position nicht durch die Kompetenz der Fachleute gefährdet sieht.

Es muss aber vor allem Menschen geben, die sich zu widersprechen trauen. Die nicht um des lieben Friedens willen die anderen Teilnehmer offensichtlichen Blödsinn entscheiden lassen. Gruppen neigen aber dazu, Widersprüche auszublenden, denn die engen ein, zwingen zum ständigen Neudenken, und das ist anstrengend. Daher neigen viele Chefs auch zur fatalen Strategie, nur noch Jasager um sich zu sammeln.

Wenn es schließlich doch schiefgegangen ist – wie lernt man dann am besten aus Fehlern?

Das ist nicht einfach. Menschen lernen sehr ungern aus Fehlern, vor allem aus eigenen. Sich einzugestehen, daneben gelegen zu haben, beeinträchtigt das Selbstwertgefühl. Gerade Manager und Ärzte sind sehr fantasievoll dabei, eigene Fehler wegzuinterpretieren. Daher hat mich als Patient einmal ein Arzt durch einen schlichten Satz sehr von sich überzeugt. Er sagte: „Was glauben Sie, was ich schon für Fehler gemacht habe!“

Im Normalfall aber kämpfen Fehlentscheider erbittert um ihre Kompetenzillusion und bemühen Verschwörungstheorien, selbst wenn sich ihre Handlungen als eindeutig falsch erwiesen haben. Manager feuern dann auch gern einen Sündenbock, weil es die eigene Handlungsfähigkeit demonstriert – vor allem für sie selbst.

Zumindest bei Ihren Simulationen sollte es doch ein Leichtes sein, über eigene Fehler zu sprechen, ohne dass gleich das Selbstwertgefühl der Beteiligten leidet.

Sie glauben gar nicht, wie ernst die meisten Leute die Spielsituationen nehmen, wenn sie drinstecken; die brüllen sich richtig an. Aber lernen lässt sich daraus dennoch. Das zeigte sich etwa bei unserer Schiffssimulation „MS Antwerpen“,

die zur Verbesserung des Krisenmanagements dienen sollte. Anlass war ein Vorfall im 13-stöckigen Universitätsklinikum Aachen, in dem 1995 ein Brand ausbrach, der erst nach zwei Stunden gelöscht werden konnte. Wir haben in der Folgezeit Teams aus dem Krankenhaus, später auch Krisenmanager der chemischen Industrie und Polizisten virtuelle Gefahrensituationen auf der „MS Antwerpen“ nachspielen lassen.

Das war ein altes Kreuzfahrtschiff, das bei schlechtem Wetter unterwegs war, technische Funktionen fielen aus, ein Brand brach aus. Unter Zeitdruck und Informationsüberflutung mussten ständig wichtige Entscheidungen getroffen werden, zudem haben wir über Lautsprecher penetranten Schiffslärm verbreitet. Erschwerend kam hinzu, dass die Auswirkungen der Entscheidungen oft erst zeitverzögert sichtbar wurden, also wie im richtigen Leben. Die Simulation endete daher oft mit einer Katastrophe.

Das vollständige Interview können Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Entscheidung und Intuition" nachlesen.

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GEO WISSEN Nr. 45 - 05/10 - Was will ich?

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