„HOME“. Noch immer schmückt das Schild mit den großen Lettern die Eingangstür zu unserem Reihenhaus, und noch immer leuchtet daneben eine Laterne. Für mich waren diese Gegenstände immer mehr als nur Dekoration. Sie signalisierten mir: Hier bin ich zu Hause, hier ist alles vertraut. Hier bin ich sicher. Im Sommer 2010 verschwand dieses Gefühl. Und das vertraute Zuhause begann sich in einen Ort zu verwandeln, an dem ich mich fürchtete. Meine damals achtjährige Tochter, mein 18-jähriger Sohn, mein Mann und ich waren 3000 Kilometer entfernt in der Türkei im Urlaub. Dort erhielt ich eines Tages eine Nachricht auf der Mailbox: „Hier Polizei Bremen, bei Ihnen ist eingebrochen worden. Aber es genügt, wenn Sie sich melden, sobald Sie wieder zurück sind.“ Am liebsten wäre ich sofort losgeeilt. In mein wohliges Heim, das jetzt angeblich keines mehr war. Mein Mann aber sagte: „Wir können da doch jetzt sowieso nichts machen außer aufräumen.“ Meiner Tochter zuliebe gab ich schließlich nach. Ich versuchte, gelassen zu bleiben. Doch immer wieder stellte ich mir vor, wie fremde Menschen in mein Heim eindringen, wie Kriminelle durch Wohnzimmer und Küche laufen, durch Schlaf- und Kinderzimmer. Durch Räume, die ganz allein uns gehören. Immer wieder stand ich in der Hotelanlage, am Büffett, am Pool und war wie gelähmt. Als wir endlich daheim ankamen, sagte mein Mann: „Bleibt alle im Auto!“ Aber ich rannte in den Hausflur, hinein in die Wohnung – mitten ins Chaos. Das TV-Gerät in der Küche, das ich beim Kochen immer so gern hatte laufen lassen, war aus der Wand gerissen, überall auf dem Boden lag der Putz. Im Wohnzimmer standen Schränke und Schubladen offen. Was wir darin aufbewahrt hatten, lag nun auf dem Tisch oder dem Boden: Kabel, Schreibwaren, Bücher, elektronische Geräte. Im Geiste sah ich, wie fremde Hände rissen und zerrten, wühlten und schlugen.
Der Kleiderschrank im Schlafzimmer war umgekippt. Hemden, Hosen und Kleider türmten sich auf dem Boden. Im Schrank fehlte die kleine Kassette, in der ich meinen Schmuck aufbewahrt hatte. Die Halskette, zur Hochzeit von meinem Mann bekommen, das Collier zur Geburt unseres Sohnes. Die Erinnerungen an meine schönsten, innigsten Erlebnisse waren mir entrissen. Ein Missverständnis hat dann alles noch schlimmer gemacht: Wir sollten alles so lassen wie vorgefunden, teilte ein Mitarbeiter der Versicherung uns mit; in der folgenden Woche würde ein Sachverständiger vorbeikommen – doch das dauerte sage und schreibe sieben Tage. Also wohnten wir eine Woche lang zu viert im Zimmer meiner Tochter, dem einzigen Raum, den der Einbrecher unberührt gelassen hatte. In ihrem Hochbett drängten wir uns aneinander. Während meine einst so vertraute Ordnung im Durcheinander versank. Mir war, als schleiche der Fremde weiter durch die Wohnung.
Als Polizei und Versicherung endlich zufrieden waren („Ach, Sie hätten ruhig aufräumen können, Fotos hätten es doch auch getan“, hieß es später), habe ich tagelang nur eines getan: geputzt. Gerade so, als ließe sich das Geschehene wegschrubben. Ich räumte jedes Zimmer komplett aus und wieder ein, mindestens 40 Mal stopfte ich die Waschmaschine voll, wusch Gardinen und Teppiche. Insgesamt war ein Schaden von mehr als 30.000 Euro entstanden. Die Versicherung bezahlte aber nur 16.000 Euro. Ein Einbrecher wurde nie gefasst, das Ermittlungsverfahren eingestellt. Meine Kinder und mein Mann schienen den Vorfall besser zu verkraften, sie lebten den Alltag bald wie zuvor. Aber ich fühlte mich fortan permanent angespannt und hilflos. Teppiche und Gardinen wirkten beschmutzt. Wir haben uns deshalb komplett neu eingerichtet. Doch ich fühlte mich weiter bedroht. Eine offene Schranktür, ein wenig Schmutz auf dem Boden, ein Luftzug durch ein Fenster: Schon eine Kleinigkeit genügte, und ich begann zu zittern, mein Herz pochte. Ein stechender Schmerz zuckte dann vom Kopf aus durch den gesamten Körper, und ich begann zu schluchzen, unkontrollierbar. Rastlos zog ich durch die Stadt, saß in Cafés, kaufte Unnützes – nur um nicht dahin zu müssen, wo alles daran erinnerte, dass meine so geordnete Welt zusammengebrochen war. Doch auch draußen drängten sich mir immer wieder Bilder auf: der entsetzliche Kleiderhaufen im Schlafzimmer, das Loch in der Küchenwand. Ich aß kaum noch, nahm 15 Kilogramm ab. Keine Nacht schlief ich durch. Aus Angst, der Einbrecher könnte wiederkommen, legte ich mich oft mitten in der Nacht auf eine Isomatte hinter der Eingangstür und lauschte beklommen nach Geräuschen im Treppenhaus. Am Rasseln der Schlüssel konnte ich die anderen Bewohner in unserem Mehrfamilienhaus erkennen, an ihrem Gang, an ihrem Atem. Schließlich begann ich mich nach einem neuen Zuhause umzusehen. Muss das denn sein, fragte mein Mann. Ja, es musste sein. Ich wollte an einem anderen Ort wieder jenes Gefühl von Sicherheit suchen, das ich verloren hatte. Wir fanden ein Reihenendhaus in einer anderen Gegend. Ältere Menschen lebten dort, einige Familien. Ruhig und gemütlich wirkten die Grundstücke. Hier ist es sicher, hatte die örtliche Polizei gesagt. Eine Garantie wollten mir die Beamten aber natürlich nicht geben. Wir fällten 20 Tannen, um freie Sicht von der Terrasse auf die Grundstücke der Nachbarn zu haben, und installierten Bewegungsmelder. In der ersten Nacht im neuen Heim fühlte ich mich endlich wieder ein wenig geborgen. Am Mittag darauf war ich entspannt. Ich schmückte das Wohnzimmer mit Engelsfiguren und Kerzenständern, legte Kuscheldecken auf die Couch, und meine Angst ließ – ganz langsam – nach. Nach drei Jahren kam sie wieder.
Laufen Sie nicht weg, raten Psychologen: Sie werden der Angst nicht entkommen
gewesen, und mein Mann war nach unserer Rückkehr vor mir ins Haus gegangen, während ich noch beim Auto blieb. Ich kramte nach etwas im Kofferraum, als er sich vor der Haustür zu mir umdrehte und mir zurief: „Bleib, wo du bist!“ Doch ich konnte das nicht, lief ins Haus – und dann sah ich es: Alles verwüstet. Es war Winter, ein eisig kalter Abend. Küchenfenster und Terrassentür standen offen. Im Durchzug starrten mein Mann und ich auf die Unordnung. Mein Mann sagte später, es habe nicht so wüst ausgesehen wie beim ersten Einbruch. Für mich wirkte aber alles genau so wie beim ersten Mal: Ich fröstelte, zitterte und weinte, konnte kaum noch stehen. Sofort wollte ich wieder umziehen. Eine Freundin hielt mich davon ab, ich sei doch sehr häuslich, könne nicht immer wieder weglaufen und meine Wurzeln kappen. Ich wandte mich an den Weißen Ring, einen großen Verein, der Opfer von Straftaten unterstützt. Auch dort rieten mir Psychologen: Laufen Sie nicht weg. So werden Sie der Angst nicht entkommen. Aber ich hatte ohnehin keine Kraft mehr zu fliehen. Ich igelte mich zu Hause ein, hüllte mich in meine Decken auf der Couch. Keine Spur mehr von Rastlosigkeit. Ich erstarrte innerlich, konnte mich zu nichts mehr aufraffen. Selbst Sorgen erschienen zu mühsam.
In der Therapie erkennt sie, wieso die Einbrüche sie so in Verzweiflung stürzen
Die Angst belastete mich so sehr, dass ich in eine schwere Depression fiel. Vier Monate ging ich jeden Tag in eine psychiatrische Klinik. Ein Psychiater führte regelmäßig Gespräche mit mir. Wir sprachen über meine Ängste oder darüber, wie ich Aufgaben des Alltags konkret bewältigen kann. Mit anderen Patienten und einem Therapeuten machte ich einmal in der Woche einen Ausflug, etwa in ein Café. So sollten wir lernen, wieder unter Menschen zu sein – uns gegen den Drang zu wehren, uns aus Angst und Verzweiflung immer weiter zurückzuziehen. Zusätzlich bin ich wöchentlich schwimmen gegangen. Besonders hilfreich war für mich aber die Atemtherapie: Einmal in der Woche lagen wir in einem stillen Raum auf dem Boden. Eine Therapeutin leitete uns an, uns auf unseren Atem zu konzentrieren, uns schöne Umgebungen vorzustellen, etwa einen Sandstrand.
Anfangs ertrug ich all das nicht, ich verkrampfte mich – und in der Stille wuchs die Angst. Aber nach einigen Wochen konnte ich mich besser entspannen und erlebte zum ersten Mal wieder, wie es ist, innerlich ruhig zu sein. Zudem trainierte ich, mit der Angst zu sprechen, wortwörtlich: „Hallo Panik, da bist du also wieder. Setze dich ruhig in meinem Brustkorb fest, umklammere mich. Mach nur. Aber ich gebe dir keine Macht über mich.“ Es klingt seltsam, aber wenn die Panik sich anschlich, haben diese Gespräche mit der Angst mir geholfen. Auf diese Weise lernte ich, den Kontrollverlust nicht zu fürchten. Sondern zu lenken. Gegen die Bilder, die Gefühle nicht zu kämpfen – sondern sie zuzulassen.
»Ich stelle mir vor, eine große Hand würde mich halten, mir Wärme schenken«
Der zweite Einbruch liegt jetzt anderthalb Jahre zurück. Immer noch können mich unbekannte Geräusche aufschrecken, schieben sich manchmal die beklemmenden Erinnerungen heran. Das Küchenfenster muss geschlossen bleiben, immer. Ob ich es eines Tages schaffen werde, es zu öffnen, ohne zu zittern und zu erstarren? In den Gesprächen mit dem Therapeuten habe ich nach und nach langsam erahnt, weshalb die Angst mich überhaupt derart überfallen kann und auch heute noch manchmal packt: Als Mädchen bin ich häufig, so erinnerte ich mich, in ein leeres Zuhause gekommen, den Schlüssel um den Hals, den kleinen Bruder an der Hand. Es war dunkel und einsam. Niemand da, der mich begrüßte. Meine Eltern waren in den 1970er Jahren mit mir aus der Türkei nach Deutschland gekommen und mussten beide viel arbeiten. Deshalb wurde ich viel zu schnell erwachsen, musste viel Verantwortung übernehmen für meinen Bruder und den Haushalt. Meine Kinder sollen es einmal anders haben, sagte ich mir später. Deshalb setzte ich viel daran, dass meine Tochter und mein Sohn immer ein belebtes Haus vorfinden, wenn sie heimkommen. Einen gedeckten Tisch, ein gemütliches, warmes Wohnzimmer. Die Einbrecher, so sehe ich es heute, bedrohten nicht nur mein Zuhause und die Geborgenheit, die ich mit so viel Kraft geschaffen hatte. Sie drängten mich auch in meine Kindertage – in das Gefühl, für Schutz verantwortlich zu sein und ihn vielleicht nicht bieten zu können. Um der Angst nicht erneut zu verfallen, drehe ich das Bild aus der Kindheit – die Schwester mit dem kleinen Bruder an der Hand – vor meinem inneren Auge manchmal um: Ich stelle mir vor, eine große Hand würde mich halten, mir Geborgenheit, Sicherheit und Wärme schenken. Ich würde an der Seite eines großen, starken Bruders gehen. Man darf die Angst, denke ich dann, nicht meiden, sondern muss sich ihr stellen. Denn sie verschwindet nur, wenn man stärker ist als sie.