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Familie Vom Zauber des Vertrauens

Sie stehen uns oft näher als Verwandte - aber können Freunde auch die Familie ersetzen?

Ein Mensch lebt nicht für sich allein, losgelöst von allen anderen. Für Gesellschaftsforscher ist Homo sapiens ein Gruppenwesen, das erst im Austausch mit anderen zu dem wird, was es ist. Jedes Individuum ist eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen. Wissenschaftler, Therapeuten und Coaches zeichnen eine Art Zielscheibe, um sich das Gefüge vor Augen zu führen: ein „soziales Atom“. Dieses Atom ist gewissermaßen die kleinste Einheit der Gesellschaft. In der Mitte steht der jeweilige Mensch; darum ordnen sich in Kreisen all jene, mit denen er in einer bestimmten Situation oder Lebensphase in Kontakt steht. Ganz innen finden sich die nächsten Vertrauten, meist die Familie, der Lebenspartner oder die Eltern, die Geschwister oder die Kinder. Am weitesten entfernt vom Zentrum sind all jene, zu denen der Betreffende eine lose, aber dennoch emotionale Beziehung pflegt, etwa Arbeitskollegen, Nachbarn, Kumpel aus dem Sportverein oder ehemalige Mitschüler. Dazwischen haben diejenigen ihren Platz, denen wir uns wahlverwandt fühlen: unsere Freunde. Und oft rücken sie auch ins Zentrum.

Familie: "Uns treiben die selben Dinge an", sagen Michaela Cmok, 53 (im Bild links), und Catrin Ziegler, 49. Die Freundinnen führen eine Modemarke in Berlin
"Uns treiben die selben Dinge an", sagen Michaela Cmok, 53 (im Bild links), und Catrin Ziegler, 49. Die Freundinnen führen eine Modemarke in Berlin
© Isadora Tast

Freundschaftsportrait

Denn für 85 Prozent der Deutschen sind Freunde ein wesentlicher Grund, einen Ort zu ihrer Heimat zu erklären. 74 Prozent erachten sie als eine Art „zweite Familie“ – nicht selten werden Freunde sogar zur ersten: Als Wahlverwandtschaft ergänzen sie die Blutsverwandtschaft, ersetzen sie vielleicht sogar. Doch über alle Lebensalter hinweg zählen wir im Durchschnitt höchstens fünf enge Freunde. Als „besten“ Freund bezeichnen wir in der Regel nicht mehr als ein oder zwei Menschen. Und im Mittel tauscht jeder Deutsche alle sieben Jahre etwa die Hälfte seiner vertrauten Gefährten aus. Freunde kommen und gehen, wenige bleiben. Vielleicht, weil Freundschaft eine äußerst komplizierte Form der Beziehung ist. Mehr noch, sie ist paradox: Freundschaft beruht auf Freiwilligkeit, auf gemeinsamer Zerstreuung und unverbindlichem Beistand. Anders als familiäre Beziehungen ist sie nicht geregelt, es gibt weder Gesetze noch Satzungen oder Sakramente. Nicht einmal eine verbindliche Tradition lässt uns spüren, welche Rechte oder Pflichten eine Freundschaft mit sich bringt. Und doch nährt sie die Hoffnung auf Rückhalt, Gewissheit und Beständigkeit. Freundschaft soll Sicherheit bieten. Aber zugleich den Einzelnen nicht einschränken. Das macht es so schwierig, sie lebendig zu halten – und den fortwährenden Wechsel von Nähe und Distanz auszubalancieren.

Freundschaftsportrait

Zudem ist Freundschaft stetig im Wandel. Sie verändert sich über die Lebensphasen: In den ersten Kindheitsjahren brauchen wir meist nur einen Freund. Denn diese Beziehung zu pflegen erfordert ausgeprägte geistige Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen oder einen Sinn für Gerechtigkeit. Kinder gehen spielerisch mit dem Begriff um, probieren ihn aus, sagen so schnell „Du bist mein bester Freund“ wie „Du bist nicht mehr mein Freund“. Mit dem Alter festigen sich die Freundschaftsbande. Die stärksten entstehen, so haben Forscher beobachtet, zumeist im späten Teenager- und im frühen Erwachsenenalter. Also in einer Zeit sehr einprägsamer Erlebnisse wie etwa dem Auszug aus dem Elternhaus oder der ersten großen Reise in die Fremde. Später erlangen Freunde immer dann besondere Bedeutung, wenn das Leben sich radikal verändert. Nach einem Umzug etwa, dem Verlust eines Jobs, einer Scheidung oder dem Auszug der eigenen Kinder. Über die Jahrhunderte hinweg hat sich die Bedeutung von Freundschaft immer wieder verändert, sie wurde von den jeweiligen Sehnsüchten einer Gesellschaft geprägt. So galt sie in der Antike als Gegengewicht zu Familie, Haus und Hof, als geistiges Band zwischen Männern, unverbrüchlich, beglückend und schützend im Kampf. In der dörflichen Welt des Mittelalters war die Familie so groß, dass der Einzelne meist nur die eigene Sippe kannte. Die Freundschaft wurde dagegen als gottgefällige Brüderlichkeit gedeutet, so wie die Gemeinschaften der Mönche sie lebten.

Freundschaftsportrait

Im 18. Jahrhundert bildete die Seelenverwandtschaft von Gleichen unter Gleichen einen Gegenentwurf zum Standesdünkel des Adels. Viele Menschen bewegten sich erstmals über die traditionelle Familie hinaus – und suchten Halt in ande- ren Beziehungen. Es war die hohe Zeit der Männerfreundschaft, der schwärmerischen Hommage an die Verwandtschaft zweier männlicher Seelen. Später wuchs die Bedeutung des Begriffes schließlich über alle Standes- und Geschlechtergrenzen hinaus. Freundschaft wurde freier, offener und darf seither von jedem Mann und jeder Frau gelebt werden. Allerdings haben Freunde für die Geschlechter heute eine unterschiedliche Bedeutung: In weiblichen Freundschaften, so haben Forscher herausgefunden, spielt gegensei- tige Unterstützung in der Regel eine weitaus größere Rolle als in männlichen. Männer verbringen dagegen eher Zeit mit gemeinsamen Aktivitäten, haben zusammen Spaß. Frauen wiederum teilen eher das alltägliche Leben und versuchen dabei, einander zu helfen, Rat und Trost zu spenden.

Freundschaftsportrait

Den ganzen Artikel lesen Sie in GEO WISSEN "Die Macht der Familie".

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GEO WISSEN Nr. 56 - 11/15 - Die Macht der Familie

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