Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was die Seele stark macht":
Da ist eine Treppe, und davor steht eine junge blonde Frau in einem Hosenanzug mit zwei Einkaufstüten in den Händen. Sie steht da schon eine ganze Weile, und natürlich ist das Ganze lächerlich: Wie schwer kann es schon sein, zwei Tüten in den dritten Stock zu tragen? Die Frau versucht, den Fuß zu heben, aber er bewegt sich kaum. Der rechte Arm fühlt sich an wie abgestorben, die linke Hand kann mit Mühe den Plastikgriff halten. Natascha Derbort hat in ihrem Leben immer erreicht, was sie sich vorgenommen hat, aber jetzt droht sie zum ersten Mal zu scheitern. Die Sache ist wirklich lächerlich.
Panik breitet sich in ihr aus wie eine Gänsehaut. Was, wenn sie jemand so sieht? Sie hebt den Arm noch einmal und versucht einen Schritt, aber die Füße gehorchen ihr nicht. Schließlich lässt sie die Tüten zu Boden sinken, umklammert ihre Handtasche mit beiden Armen und schleppt sich halb kriechend die Treppe hinauf. Oben angekommen, ist sie nass vor Schweiß.
Sie stellt die Handtasche vor die Wohnungstür und macht sich erneut auf den Weg nach unten. Holt erst eine Tüte nach, dann die andere. Bemerkt jetzt erstmals ihre ungeheuren Rückenschmerzen. "Ach je, ein Bandscheibenvorfall", denkt sie. Nichts, was man nicht in den Griff bekäme. Natascha Derbort ist eine praktisch denkende Frau. Im Büro arbeitet sie fortan an einem Stehpult. Um überhaupt stehen zu können, schluckt sie Schmerzmittel. Problem gelöst. Wie immer.
Jedes Leben hat seine eigene Formel. Regeln, an denen der Mensch sich orientieren kann, Eckdaten, die unverrückbar sind. Für Natascha Derbort lautet diese Formel "Leistung + Anstrengung = Anerkennung". Scheitern ist darin nicht vorgesehen. Sie ist heute 39 Jahre alt. Zu jung, um schon ausgebrannt zu sein. "Burnout" ist ein hässliches Wort. Es hört sich nach Asche an, es macht den Menschen zu einem, der keine Leistung mehr bringt. Natascha Derborts Biographie ist bis zu jenem Abend am Treppenabsatz fehlerfrei – zumindest, was die Formel betrifft.
Die Schulzeit in Frankfurt am Main verläuft reibungslos. Sie und ihre Zwillingsschwester sind als Teenager verdächtig ruhig. "Ich wollte lieber gute Noten als Revolution. Mir war die Anerkennung meiner Eltern wichtiger", sagt sie. Und: "Ich wollte dazugehören."
Mit 18 verlassen die Töchter das Elternhaus. Natascha interessiert sich für Völkerkunde und Tiermedizin, wagt aber den großen Sprung in die Freiheit nicht. Eine kaufmännische Ausbildung soll die nötige Sicherheit bringen.
Danach studiert sie doch noch, Internationale Betriebswirtschaftslehre. Ein Semester ist in Frankreich geplant, eines in England. Sie hat einen Freund, der später das kleine Hotel und die Bäckerei seiner Eltern erben wird, die Zukunft scheint längst zu Ende geplant, bevor sie angefangen hat.
Das dumpfe Gefühl manchmal in der Magengrube hält sie für eine Verstimmung, die zu ignorieren ist. Wie kann sie auch nicht glücklich sein? Es läuft doch alles perfekt – zumindest im Beruf. Als sie für ein paar Monate in London studiert, ruft sie den Freund an. Ob er sich nicht vorstellen kann, mit ihr dort zu leben? "Nicht doch", sagt er, "ich habe meine Verpflichtungen hier."
Die nächste Chance zur Veränderung bietet sich, als Natascha in den Sommerferien zum Jobben nach Vancouver reist, "der schönsten Stadt der Welt". Vorn die Skyline, dahinter die Berge und am Wochenende schnell raus zum Skifahren. "Da war ich so glücklich, dass es mir den Atem verschlagen hat."
Acht Wochen arbeitet sie in einer Wohnwagenvermietung, sieht aus dem Fenster des kleinen Ladengeschäfts und denkt: "Eigentlich würde ich gern hier leben." Aber da ist ja noch der Freund in Deutschland, die Bäckerei. "Lass uns einen Laden in Vancouver aufmachen", schlägt sie vor. Ihr Freund winkt ab. "Nein. Die Eltern rechnen mit mir."
Ein Mensch, der nie seiner inneren Stimme folgt, seinem Instinkt, wird leicht zum Spielball. Wann immer Natascha zögerlich beginnt, Zukunftspläne zu entwerfen, kommt etwas dazwischen. "Die Vernunft", sagt sie dazu. Auf die hört sie. Und nur auf die.
Nach dem Studium plant sie, als Skilehrerin nach Colorado zu gehen. Die Berge, die Weite, das hat sie seit Vancouver nicht losgelassen. Diesmal will der Freund mitkommen, hat sich in der Bäckerei eine Auszeit genommen. Um Geld zu sparen, jobbt Natascha in einer PR-Agentur als Rezeptionistin. Nach ein paar Tagen tritt die Personalchefin an sie heran: "Frau Derbort, Sie sind doch überqualifiziert. Wollen Sie nicht lieber ein Volontariat bei uns machen?"
Sofort springt der Kopf an. Ein guter Job. Eine angesehene Agentur. "Natürlich habe ich zugesagt. Meine Vernunft hat mal wieder gesiegt." Es war wohl auch der unbedingte Wille nach Anerkennung.
Der Freund geht für einige Wochen allein nach Colorado. Während er beschreibt, wie herrlich der Schnee staubt, wenn man ihn am Morgen mit frisch gewachsten Skiern befährt, sitzt Natascha in ihrem Büro in Frankfurt und sieht zu, wie sich ihre zukünftige Karriere vor ihr aufbaut. Von jetzt an ist alles planbar, und wenn sie sich nicht ganz dumm anstellt, wird es auf dem Weg nach oben keine Hindernisse geben.
Zumindest keine großen. Sie zieht, weil es so verabredet war, zu dem Freund in das Haus seiner Eltern. Dort, wo auch die Bäckerei untergebracht ist, gibt es eine große Wohnung für das Paar. Der Weg in ihr Büro ist nun ziemlich weit, die Welt plötzlich noch enger.
Nach 14 Tagen zieht sie wieder aus, das Ende der siebenjährigen Beziehung. "Das war nicht mein Leben", sagt sie. "Eigentlich erstaunlich, dass ich das damals geschafft habe."
Was ihr nun an Privatleben fehlt, kompensiert Natascha durch Arbeit. Sie betreut bei großen PR-Firmen Versicherungen und Banken, kümmert sich um deren Image, schreibt Pressemitteilungen, reist von Stadt zu Stadt und von Land zu Land. Schicke Anzüge, der Koffer effektiv gepackt, sie weiß, wo man sich auf Flughäfen hinsetzen muss, um ungestört arbeiten zu können. Tage in Meetings, Nächte im Hotel. Wochen rauschen so vorbei, Monate, Jahre. "Dieser unbedingte Leistungswille und der absolute Fleiß, das kam natürlich gut an. Je häufiger ich gelobt wurde, desto mehr habe ich mich reingehängt." Die Firma arbeitet international, das bedeutet abends Telefonkonferenzen mit dem Westen, frühmorgens mit dem Osten. 60 Stunden Arbeit pro Woche sind das Normalmaß, "aber das fällt gar nicht auf, denn alle anderen machen es genauso." Das Gehalt ist sechsstellig. Manchmal geht sie vor der Arbeit zum Sport. Gelegentlich trifft sie sich nach der Arbeit mit ein paar Kollegen zum Essen. Aber meistens ist sie bis spätabends im Büro. Vom Fenster aus kann sie ihre Wohnung auf der anderen Flussseite sehen. In den Fenstern darunter brennt längst Licht. Dann der Zusammenbruch.
Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was die Seele stark macht" nachlesen.