Anzeige
Anzeige

Leseprobe: Die innere Stärke wecken

Manche Menschen sind seelisch enorm widerstandsfähig, sie zerbrechen selbst an schweren Schicksalsschlägen nicht. Was zeichnet sie aus? Lässt sich psychische Stabilität, die sogenannte "Resilienz" erlernen? Ja, sagen manche Wissenschaftler. Sie haben Trainingsprogramme entwickelt – und setzen sie unter anderem an Schulen ein
Manche Menschen sind seelisch enorm widerstandsfähig, sie zerbrechen selbst an schweren Schicksalsschlägen nicht. Was zeichnet sie aus? Lässt sich psychische Stabilität, die sogenannte "Resilienz" erlernen? Ja, sagen manche Wissenschaftler. Sie haben Trainingsprogramme entwickelt – und setzen sie unter anderem an Schulen ein
© Luke Best/heartagency.com
Wie Therapeuten mit speziellen Programmen die psychische Stabilität von Menschen zu stärken versuchen.

Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was die Seele stark macht":

Hermann Schrader (Name von der Redaktion geändert) sieht noch, wie der Mann den Bahndamm hinaufsteigt und sich auf die Schienen setzt. Der Zugführer bremst, doch er hat keine Chance, den ICE rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Einen Moment lang blickt er dem Lebensmüden ins Gesicht, dann hört er einen dumpfen Schlag.

Zehn Monate lang ist Schrader arbeitsunfähig – und noch Jahre später verfolgen ihn die Eindrücke des Unglücks. Undenkbar erscheint es dem Münchner, je wieder in den Lokführerstand zu steigen. Schon der Anblick eines Zuges lässt Panikgefühle aufsteigen. Bei einer Probefahrt zwei Jahre nach dem Unfall weint er und duckt sich hinter einen Sitz. Die Bahn gibt ihm schließlich einen Schreibtischjob.

Piet Morgenbrodt durchlebt ebenfalls einen dramatischen Schicksalsschlag. An einem Novembertag klingeln zwei Polizisten an der Tür seines Hamburger Hauses. Einer hält einen Rucksack. Er gehört Morgenbrodts Sohn Kilian.

Der fassungslose Vater erfährt, dass sich Kilian vom 14. Stock eines Hochhauses gestürzt hat. 15 Jahre war der Junge alt, er hatte glücklich gewirkt und schon Pläne für den nächsten Urlaub gemacht. Es gab keine Anzeichen von Lebensüberdruss. Kein Abschiedsbrief erklärte, warum er den Tod gewählt hat.

Die verzweifelten Eltern quälen sich mit Selbstvorwürfen. Sie bringen es nicht über sich, Kilians Zimmer auszuräumen; noch immer gibt es die Momente, in denen Morgenbrodt hofft, gleich werde die Haustür aufgehen und der Sohn zurückkehren.

"Ja, man bleibt gebrochen", sagt der Vater, "aber es gibt wieder Glücksmomente." Die Solidarität anderer Eltern, die ähnliche Schicksalsschläge durchlebt haben, hilft ihnen ungemein. Heute, 16 Jahre nach dem Verlust, engagiert sich Morgenbrodt für Menschen, die ihnen Nahestehende verloren haben. Daneben hat der Grafikdesigner begonnen, als Bildhauer zu arbeiten. Und er sagt: "Nur um den Preis des Lebens meines Sohns möchte ich wieder so sein, wie ich vorher war."

Wer sich nach einer Katastrophe die Überzeugung bewahrt, dass auch wieder bessere Tage kommen, bleibt handlungsfähig und versinkt nicht in lähmender Schwermut
Wer sich nach einer Katastrophe die Überzeugung bewahrt, dass auch wieder bessere Tage kommen, bleibt handlungsfähig und versinkt nicht in lähmender Schwermut
© Luke Best/heartagency.com

Was gibt manchen Menschen die Kraft, das Unerträgliche zu ertragen? Was lässt andere unter der Wucht des Schicksalsschlags zerbrechen?

Längst nicht jedem ist es möglich, nach einer persönlichen Katastrophe wieder zu einem halbwegs normalen Leben zurückzufinden. Mancher verliert für immer jeglichen Antrieb, versinkt in Depressionen, verfällt dem Alkohol oder wählt sogar den Suizid. Opfer von schweren Unfällen oder Gewalttaten bleiben mitunter lebenslang in ihrem Trauma gefangen. Andere sind psychisch so fragil, dass schon ein Jobverlust ausreicht, sie dauerhaft aus der Bahn zu werfen.

Was Menschen wie Piet Morgenbrodt von diesen gebrochenen Existenzen unterscheidet, ist ihre Stärke, mit extremen Belastungen fertigzuwerden. Psychologen nennen diese Eigenschaft Resilienz (von lat. resilire, abprallen).

Allerdings bedeutet Resilienz keinesfalls, kurz nach einem Unglück zur Tagesordnung zurückzukehren und weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Vielmehr ist eine – mitunter jahrelange – Phase der Trauer und Verzweiflung, wie sie Piet Morgenbrodt durchlebt hat, eine normale, gesunde Reaktion auf einen Schicksalsschlag. Und selbst ein innerlich sehr widerstandsfähiger Mensch kann eine "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTBS) entwickeln – aber eben nur für eine gewisse Zeit. Denn in resilienten Menschen erwacht irgendwann der Wille, sich nicht dauerhaft unterkriegen zu lassen.

Im engeren Wortsinn bedeutet Resilienz, ein traumatisches Erlebnis zu überstehen, ohne dauerhaft seelisch zu erkranken. Manche Psychologen benutzen den Begriff jedoch allgemeiner und meinen damit die Fähigkeit, sich unter chronisch belastenden Lebensumständen zu behaupten. Ein Kind, das Jahre der Vernachlässigung in der Familie offenbar unbeschadet hinter sich lässt und später ein geordnetes Leben führt, ist in diesem Sinne ebenfalls resilient. Ob sich hinter diesen beiden Formen der inneren Stärke allerdings die gleichen psychologischen Schutzfunktionen verbergen, ist wissenschaftlich noch unklar.

Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was die Seele stark macht" nachlesen.

GEO WISSEN Nr. 48 - 11/11 - Was die Seele stark macht

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel