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Angst Spiritualität: Mit Gottes Hilfe

Religion und Angst sind untrennbar miteinander verwoben. Wer an Übersinnliches glaubt, kann sich ermutigt fühlen - oder ehrfürchtig werden
Angst: Geht ein Mensch davon aus, dass eine höhere Macht ihm beisteht, braucht er im Leben nichts zu fürchten. So erlebt es auch der römisch-katholische Pfarrer Hans-Joachim Wahl, Seelsorger der St.-Bonifatius-Gemeinde in Gießen
Geht ein Mensch davon aus, dass eine höhere Macht ihm beisteht, braucht er im Leben nichts zu fürchten. So erlebt es auch der römisch-katholische Pfarrer Hans-Joachim Wahl, Seelsorger der St.-Bonifatius-Gemeinde in Gießen
© Sascha Rheker

„Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude.“ Wohl jeder, der zu Weihnachten einen Gottesdienst in einer Kirche besucht, hört diesen Satz aus der Bibel (oder eine Variante). „Fürchtet euch nicht!“ In diesen Worten, die der Engel den Hirten auf der Weide zuruft, verbirgt sich eine zentrale Botschaft des Christentums, ja allen Glaubens an Übersinnliches. Denn Religion und Angst sind untrennbar verwoben. Nicht wenige Philosophen und Psychologen, Theologen und Anthropologen gehen gar davon aus, dass der Mensch überhaupt nur zum Glauben an überirdische Welten und Mächte neigt, weil er sich fürchtet. Weil ihn die unergründliche Komplexität der Welt erschreckt, weil alles Unbekannte, Unverständliche, Undurchdringliche Angst in ihm weckt.

Wohl aus einem Bedürfnis nach Sicherheit muss Homo sapiens einst die Überzeugung entwickelt haben, dass transzendente, also die Erfahrungswelt übersteigende Kräfte das Leben beeinflussen, das Wetter und die Gestirne, die Tiere und die Pflanzen lenken. Unseren Urahnen, so formulierte es der Philosoph Friedrich Nietzsche 1878 in seiner Schrift „Menschliches, Allzumenschliches“, musste die „unbegriffene, schreckliche, geheimnisvolle Natur als das Reich der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als Gott“. Womöglich deshalb kam es vor gut 95.000 Jahren im Nahen Osten, nicht weit entfernt vom heutigen Nazareth, zu einem denkwürdigen Akt in der Entwicklungsgeschichte des Menschen: Als ein Jugendlicher an den Folgen eines Schädelbruchs starb, ließen die Mitmenschen seinen Körper nicht einfach liegen (wie es wahrscheinlich bei ihren Ahnen vormals üblich war). Stattdessen bestatteten die Menschen den Leichnam. Sie hoben eine Grube aus, legten den Verstorbenen hinein, drehten ihn auf den Rücken, winkelten seine Beine leicht an, platzierten seine Hände neben dem Hals und legten Teile eines mächtigen Hirschgeweihs auf die nach oben gerichteten Handflächen. Gerade so, als bringe er es einem Herrscher dar. Diese Bestattung war mutmaßlich das erste zeremonielle Begräbnis in der Menschheitsgeschichte (zumindest haben Archäologen bislang keine älteren und unumstrittenen Spuren derartiger Bestattungen gefunden). Und, vielleicht noch wichtiger: Sie ist der erste Beleg für den Glauben an eine transzendente Welt, in die der Verstorbene hinübergeht.

Denn ein zentrales Element allen Glaubens ist die Sorge um das Schicksal der Toten. Die Aussicht, dass unser Leben endlich ist, wirkt immerzu in uns; es ist eine archaische Quelle der Angst. Wir sehen, dass alles vergehen wird – und müssen doch leben. Vor allem, wenn die Vergänglichkeit ganz unser Bewusstsein einnimmt, wenn wir Siechtum, Krankheit, Unglück oder Tod erleben, stürzen wir in ein erschreckendes Gefühl der Sinnlosigkeit.

Angst: »Der Herr behüte dein Leben«, sagt Pfarrer Wahl, wenn er einen Segen für Leib und Seele ausspricht. Allein diese Gewissheit kann schon manche Angst lindern
»Der Herr behüte dein Leben«, sagt Pfarrer Wahl, wenn er einen Segen für Leib und Seele ausspricht. Allein diese Gewissheit kann schon manche Angst lindern
© Sascha Rheker

Der Glaube an höhere Welten kann Menschen helfen, die Qual der monströsen Frage nach dem „Warum“ zu mildern. Nahezu jede Religion entwirft eine Erklärung dafür, weshalb wir existieren, woher wir kommen und wohin wir gehen. Nichts ist dann mehr bedeutungslos, auch nicht der Tod. Weil alles einem größeren Plan folgt – und alles Schlechte nicht von Dauer ist.

Im Judentum heißt es, Gott nimmt Geist und Seele jedes Menschen zu sich: in ein paradiesisch schönes, aber letztlich unbeschreibliches Reich. Auch Christen erhoffen sich ein ewiges Leben im Anblick Gottes, einen Glückszustand. Muslime dürfen ein Dasein in Paradiesgärten ersehnen. Ob sie Gott dabei erblicken, darüber streiten Theologen. Im Hinduismus vollzieht sich mit dem Tod zunächst nur ein weiterer Schritt in einem Kreislauf von Wiedergeburten. Diesen Kreislauf zu durchbrechen ist das Ziel der Gläubigen – um zu einer vollkommenen Einheit mit dem Göttlichen zu gelangen. Auch im Buddhismus wird der Mensch nach dem Tod wiedergeboren, wieder als Mensch, als Tier oder Pflanze. Gelingt es dem Gläubigen durch seinen rechten Lebenswandel, aus diesem Kreislauf zu treten, gelangt er ins Nirwana – in einen glücklichen Zustand, in dem sich das Ich auflöst. Glaube, so könnte man sagen, mildert die Furcht vor Vergänglichkeit und Unkontrollierbarkeit. Er kann Hoffnung stiften, wenn wir uns ängstigen.

Verlieren wir das Vertrauen in die eigenen Kräfte, in andere Menschen, in die Welt, dann gibt es da immer noch etwas Höheres: eine zwar undurchschaubare, aber absolute Ordnung der Dinge. So wie ein Kind Vertrauen zu den Eltern fasst und sich in ihre Hände gibt, so sucht der Gläubige „Gottvertrauen“. In Gebeten und Gesängen bittet er um Beistand, in Ritualen erstrebt er den Schutz des Höheren, in Lesungen heiliger Schriften forscht er nach Erklärungen, in geistiger Versenkung schöpft er Kraft. Und tatsächlich: Wer übersinnliche Gewalten an seiner Seite weiß, so scheint es, braucht im Leben nichts zu fürchten. Spirituelle Menschen verkraften Tiefschläge oft besser als Nichtgläubige. Sie gewinnen aus ihrem Glauben eine starke Widerstandskraft, ein Gefühl der Kontrolle, wenn alles unkontrollierbar zu werden droht. Die Zahl persönlicher Berichte von Menschen, die in Momenten der Not im Glauben an Göttliches Trost fanden, ist nicht zu überschauen: Das Vertrauen in etwas, das größer, weiser und mächtiger ist, hat Menschen durch Krieg und Vertreibung getragen, durch Trauer, Krankheit und Vereinsamung. Sie berichteten von dem beruhigenden Gefühl, trotz aller Qual aufgehoben zu sein in einem spirituellen Kosmos, der weit über die eigene Existenz hinausreicht.

Das Heilige lässt Menschen erzittern – vor Glück und vor Angst

Doch Religion vermag Angst nicht nur zu bannen: Sie kann auch die Ursache sein für dieses quälende Gefühl. Denn die höheren Gewalten, von deren Existenz die Gläubigen überzeugt sind, sind nicht nur gut, milde, hilfreich, ja seligmachend. Auch das Gegenteil verorten die Menschen seit jeher im Übersinnlichen: Zerstörung und Verderben, Qual und Unglück, kurz – das Böse.Vielfach gehen göttliche und dämonische Gewalt ineinander über. In den Religionen des Altertums etwa strafen und belohnen die Götter zugleich, sie beglücken und verderben. Auch im Hinduismus erschafft die Gottheit Shiva alles Sein – und zerstört es doch wieder. Und wo es einen „Himmel“ gibt, existiert auch eine „Unterwelt“. Wer dort herrscht, das malt jede Religion, jede Kultur anders aus. Juden, Christen und Muslime kennen ihn als Teufel, mitunter begleitet ihn eine Heerschar dämonischer, furchterregender Wesen, die den Menschen heimsuchen können. Um der dunklen Seite zu entgehen, entfaltet jeder Glaube Gesten der Beschwichtigung: Für andere sichtbar müssen seine Anhänger bestimmte Regeln befolgen, Dank und Anerkennung bezeugen, Hingabe oder Opfer erweisen. Befolgt der Gläubige die Gebote nicht, droht ihm, sich vom Göttlichen zu entfremden. Im Christentum etwa kann er die göttliche „Gnade“ verspielen und in „Sünde“ geraten; in Buddhismus und Hinduismus muss er fürchten, gefangen zu bleiben im ewigen Kreislauf der Wiedergeburten. So wohnt Religionen auch immer die Kraft inne, Menschen in Furcht zu versetzen. Die katholische Kirche etwa wusste dieses Gefühl immer wieder zu schüren; die Geistlichen predigten von „Schuld“ und „Sühne“, von Höllenqualen und nie endender Verdammnis, von einem Gott, der allmächtig ist, allgegenwärtig, allwissend und allsehend. Einem, der Gutes belohnt und Böses bestraft.

Angst: Früher drohte die Kirche oft, nach dem Tod gerate ein Sünder in die Hölle. Diese Vorstellung will Wahl seiner Gemeinde heute nicht mehr vermitteln
Früher drohte die Kirche oft, nach dem Tod gerate ein Sünder in die Hölle. Diese Vorstellung will Wahl seiner Gemeinde heute nicht mehr vermitteln
© Sascha Rheker

Im Spätmittelalter gelang es den Klerikern gar, die Menschen derart in Furcht vor Gott und Teufel zu versetzen, dass sie bereit waren, viel zu zahlen, um ihre Angst zu mildern. Mit den Ablassbriefen konnten sie sich von göttlichen Strafen für irdische Sünden freikaufen. Derart offensichtlich schüren Religionen heute selten die Angst der Gläubigen. Vor allem die christlichen Kirchen in Europa betonen inzwischen die positiven Seiten des Göttlichen, dessen Milde, Barmherzigkeit und Schutz; dem Teuflischen wird weitaus weniger Beachtung geschenkt als früher. Laien und Geistliche bieten in Gemeinden Seelsorge, sie spenden Trost, machen Mut, beraten in Notlagen, helfen, wenn jemand strauchelt und zu fallen droht. Viele finden in der Kirche, bei einem Pastor oder Pfarrer, Hilfe und Zuspruch. Doch wo immer Gläubige zusammenfinden, kann die Gruppe den Einzelnen auch heute noch in Angst versetzen. Jede Gemeinschaft, die der Heilsbotschaft einer überirdischen Macht folgt, neigt dazu, Einfluss auf das Leben des Individuums zu beanspruchen. Wer anders ist, gerät womöglich ins Abseits; in ihm keimt die Furcht, isoliert zu werden, ausgestoßen aus der Runde der Gleichgesinnten. Eine fatale Gruppendynamik kann entstehen, mit solch großer Scham und Angst, dass manches Fehlverhalten, etwa sexueller Missbrauch, von allen geduldet und verschwiegen wird. Diesen Mechanismus machen sich vor allem Sekten zunutze. Sie verstricken die Gläubigen oft in psychische Abhängigkeit, die sich in vielen Fällen aus der Angst nährt.

Bis heute bleibt der Glaube an höhere Mächte also ambivalent: Er kann Menschen von Angst befreien – aber sie auch in ihnen wecken. Darin liegt die ureigene Besonderheit des Übersinnlichen. Das Heilige, schrieb der evangelische Theologe Rudolf Otto, ist immer abschreckend und anziehend zugleich, bedrohlich und fesselnd. Es lässt uns erzittern – vor Glück und vor Angst. In der Weihnachtsgeschichte heißt es: „Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.“ Eben deshalb muss der Engel, bevor er die Botschaft von Jesu Geburt überbringt, den Hirten zurufen: „Fürchtet euch nicht!“

GEO WISSEN Nr. 57 - 05/16 - Ängste überwinden, innere Stärke gewinnen

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