Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was kommt nach der Schule?":
GEO WISSEN: Herr Rückert, ist das Bachelor-Studium mit seinen festen Stundenplänen ein Fluch oder ein Segen für die Studierenden?
Hans-Werner Rückert: Die große Verbindlichkeit hat eine positive Seite - vor allem für jene, die durch eine stärker eigenverantwortliche Gestaltung des Studiums überfordert wären. Durch das Abitur nach zwölf Jahren und den Wegfall des Wehr- und Zivildienstes kommen zum Teil 17-Jährige an die Universitäten. Viele von ihnen hatten bislang nur die Schule im Kopf, vielleicht noch den Sportverein, sind ansonsten aber alles andere als lebenserfahren. Denen drückt man die Studienverlaufspläne in die Hand, und sie sagen: Prima, jetzt ist alles klar. Etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Studenten arrangieren sich irgendwie mit dem Bachelor-System.

Früher konnte man es im ersten Semester langsam angehen lassen. Das gibt es gar nicht mehr?
Auch das hat sich gehalten. Es gibt eine Gruppe von Studierenden, die nimmt die Vorgaben des Bachelor-Systems nicht sonderlich ernst. Die gehen auch längst nicht in alle Lehrveranstaltungen, zu allen Prüfungen. Und sie haben oft Eltern, die ihnen sagen: "Mach dich nicht verrückt, dann dauert es eben länger." Diese Eltern sind auch finanziell nicht darauf angewiesen, dass ihre Kinder den Bachelor in sechs Semestern machen. Der ist für sie wie auch für ihre Kinder ohnehin nur ein Durchgangsstadium zum Master und zur Promotion.
Das klingt erstaunlich. Sollte übermäßige Bummelei im Studium nicht eigentlich umgehend sanktioniert werden?
Die Botschaft lautet zwar offiziell: Wenn du nicht zügig mithältst und Leistungspunkte erbringst, fliegst du ganz schnell raus – und zwar spätestens, wenn das elektronische Studiengang-Verwaltungssystem hinreichend viele nicht erbrachte Studienleistungen erfasst hat. Tatsächlich aber hat es diese Sanktionen flächendeckend nie gegeben. Wer sich heute im achten Semester noch nicht zur Prüfung angemeldet hat, also schon zwei Semester überzogen hat, wird zunächst zu einem Gespräch geladen. Aber da kann man diverse Gründe vorbringen, warum man noch nicht so weit ist. Und aushandeln, welche Studienleistungen im kommenden Semester erbracht werden sollen. Das System ist relativ elastisch. Was dazu führt, dass man seinen Bachelor ohne große Probleme auch erst nach zwölf Semestern machen kann.
Haben das nicht längst alle durchschaut?
Keineswegs. Mitbekommen haben das vor allem Studierende mit bildungsnahem Hintergrund. Die können mit dem System umgehen und lassen sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen. Auch ich würde meinen Kindern sagen: Das ist die beste Zeit eures Lebens, lasst euch Zeit! Dann dauert es zwar etwas länger und kostet etwas mehr, es ist aber gut investiertes Geld. Der Abschreckungseffekt trifft vor allem bildungsfernere Schichten. Da ist der Druck auf die Kinder oft viel größer. Die werden dann zu Weihnachten gefragt: Muss das so lange dauern, geht das nicht ein bisschen schneller mit dem Studium? Die wollen auch unbedingt die Regelstudienzeit von sechs Semestern einhalten.
Was eine extrem gute Lernorganisation voraussetzt, wenn man weiß, dass die Inhalte von früher acht Semestern nun oft auf sechs Semester komprimiert worden sind.
Das ist der Preis der Verbindlichkeit: Aufgrund der Verdichtung ist bei vielen Studierenden vom ersten Semester an die Angst im Spiel, den Anschluss zu verlieren und durch Prüfungen oder Klausuren zu fallen, die sich oft in der Woche am Semesterende ballen. Die Studierenden müssen zwar nicht mehr ihren Studienverlauf organisieren, aber sich selbst und ihr Arbeitspensum. Das fällt vielen schwer. Sie gehen zwar pünktlich zu allen Veranstaltungen, aber darüber hinaus wissen viele nicht, wie sie das Studium bewältigen sollen.
Was befremdlich ist, wenn man die Studie "Zeitlast" zur Kenntnis nimmt. Die ergab, dass der mittlere Aufwand für Vorlesung, Seminare und das Selbststudium bei nur 23 Wochenstunden liegt.
Das hat mich nicht sonderlich überrascht. Die Studenten arbeiten gar nicht so viel mehr als früher, aber alle fühlen sich schrecklich belastet. Das liegt vor allem an einer veränderten Wahrnehmung von Zeit bei uns allen: Wir haben de facto immer mehr Lebenszeit, aber subjektiv das Gefühl, wir hätten immer weniger. Zudem werden die deutschen Studierenden ständig damit konfrontiert, dass sie zu alt sind und sie ihr Studium möglichst schnell durchziehen sollen, weil sie sonst international den Anschluss verlieren. Dieser Beschleunigungswahn hat sich immer weiter nach vorn verlagert. Früher galt zumindest die Grundschulzeit noch als ein Moratorium, erst am Ende der vierten oder sechsten Klasse gab es Noten und an den Gymnasien eine Probezeit. Heute werden die Gymnasialplätze etwa in Berlin nach der Durchschnittsnote der Grundschulzeit vergeben. Da heißt es von Anfang an: Streng dich an, mach deine Hausaufgaben! Auch daher sind junge Leute heute psychisch stärker belastet als frühere Generationen.
Sind aber die steigenden Fallzahlen bei Depressionen junger Erwachsener nicht darauf zurückzuführen, dass Fachleute heute genauer als früher hinsehen?
Auch das ist richtig. Dennoch hat gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Häufigkeit von Selbstwertstörungen, Prüfungsängsten, Ess- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie anderen psychischen Auffälligkeiten zugenommen. Die psychologischen Beratungsstellen der Hochschulen verzeichnen seit einigen Jahren eine deutliche Steigerung der Nachfrage. Und es gibt immer mehr Professoren, die uns anrufen und sagen, ich habe da jemanden im Seminar, ich weiß nicht, was mit dem los ist, der hat ein massives Problem. Aber insgesamt gilt weiterhin: Im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung sind Studenten psychisch gesünder – weil sie zu einem größeren Anteil aus jenen sozialen Schichten kommen, die generell gesünder sind.
Die Studenten, die zu Ihnen kommen, weil sie sich überlastet fühlen, finden es vermutlich tröstlich, wenn Sie ihnen verraten, dass sie sich dem Bachelor-Stress entziehen können, ohne gleich exmatrikuliert zu werden.
Ganz und gar nicht: Die Botschaft stößt auf erbitterten Widerstand. Viele glauben das einfach nicht. Wenn ich sage, wir können Ihnen Hilfsangebote machen, aber das Problem löst sich nicht von heute auf morgen, dann heißt es: Das geht nicht, so viel Zeit habe ich nicht! Da spürt man den enormen inneren Druck. Die Studenten wollen nur noch funktionieren und von uns die Rezepte dafür erhalten. Sonst kommen sofort Panik und Abstiegsangst hoch. Sie merken zwar, dass sie Schwierigkeiten haben, aber es ist nicht leicht möglich, ihnen diese als entwicklungsbedingte Krisen begreifbar zu machen, die man bewältigen muss und nicht wegzaubern kann. Das Bewusstsein ist oft unterentwickelt dafür, dass Schwierigkeiten nicht nur Defizite sind, die beseitigt werden müssen, sondern zum Erwachsenwerden dazugehören und der Ich-Stärkung dienen.
Können Sie trotzdem helfen?
Ich kann diese Mechanismen verdeutlichen und vermitteln, dass man gerade an Krisen sehr reifen kann. Meine Kollegen und ich versuchen uns einzufühlen, Verständnis zu fördern und den Blick dafür zu öffnen, dass die Welt nicht untergeht, wenn man seine Punkte erst ein Semester später zusammengesammelt hat. Wir bieten neben Einzelgesprächen auch Workshops und Trainingsprogramme an. Bei ernsthaften psychischen Störungen ist gelegentlich auch ein Urlaubssemester bei gleichzeitiger psychotherapeutischer Behandlung erforderlich, um wieder studierfähig zu werden.
Es muss ja auch nicht jeder seinen Master machen oder gar promovieren. Für jene, die keine akademische Karriere anstreben, ist der Bachelor doch goldrichtig.
Das empfindet kaum jemand so. Rund drei Viertel der Bachelor-Absolventen des Jahres 2009 sind nun im Master-Studium. Wenn man beide Phasen zusammenzählt, ist man wieder beim alten Studium: zehn Semester und mehr. Ohnehin wird den Studenten oft schon im ersten Semester vermittelt, dass der Bachelor allenfalls eine bessere Zwischenprüfung ist und der Mensch erst mit dem Master beginnt. Ich habe noch keinen Bachelor-Absolventen erlebt, der sich stolz als vollwertiger Akademiker mit abgeschlossenem Hochschulstudium präsentiert hat. Manchmal sind aber auch familiäre Probleme die Ursache für Studienprobleme - wenn etwa der Sohn in ein Pharmaziestudium gedrängt worden ist, weil die Familie seit Generationen eine Apotheke hat, er sich aber nicht traut, dem Vater zu sagen, dass er lieber Filmwissenschaftler werden will.
Ist seit der Bologna-Reform der Beratungsbedarf höher?
Ja, es ist eine große Verunsicherung entstanden - Eltern und Lehrer können nicht mehr auf Erfahrungswissen aus ihrem Studium zurückgreifen. Hinzu kommt der föderale Flickenteppich, wenn es etwa um die Frage eines Studienwechsels geht. In den alten Diplom-Studiengängen gab es Rahmenprüfungsordnungen, und das Studium war überall ähnlich aufgebaut. Heute hat jeder Fachbereich sein eigenes Curriculum, was viele Vorteile hat, aber Studiengänge hervorbringt, die zum Teil gleich klingen, aber sehr unterschiedliche Inhalte haben. Ob Sie wechseln können und die Studienleistungen anerkannt werden, kann Ihnen heute kaum noch jemand verlässlich sagen.
Wäre es nicht sinnvoll, vor einem Studium etwas ganz anderes zu machen, etwa ein Freiwilliges Soziales Jahr?
So etwas kann einen in Sachen Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung ungemein weiterbringen - vor allem wenn man eine andere Kultur und die Fremdheit als Herausforderung empfindet und Stolz darauf entwickelt, mit einer solchen Situation umgehen zu können. Allerdings habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass manche eine derartige Erfahrung nicht positiv bewerten, sondern mehr Angst haben als zuvor, dass der Karrierezug schon ohne sie angefahren ist.
Wussten Sie immer, was Sie wollten?
Keineswegs. Ich habe mit Jura begonnen, bin aber nach einem Jahr zum Zivildienst rausgeholt worden. Ich war der Erste in der Familie, der überhaupt ein Studium aufgenommen hat. Ein Rechtsanwalt oder auch Mediziner wäre hochwillkommen gewesen. Schließlich bin ich aber meinem Interesse gefolgt und habe 13 Semester Psychologie studiert, für damalige Verhältnisse keine Bummelei. Ich musste mich allerdings erst selbst überzeugen, dass die gefürchtete Mathematik im Studium zu bewältigen war. Neben dem Studium habe ich in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet. Das war ein gutes Korrektiv angesichts der doch sehr akademischen Lehre.
Das vollständige Interview können Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Was kommt nach der Schule?" nachlesen.