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Kinderhospiz Kinderhospiz: "Hier ist so viel Leben"

Der Alltag mit einem unheilbar kranken Kind ist für Eltern meist eine große Belastung. Im Kinderhospiz finden sie Unterstützung für einige Tage oder Wochen - und am Ende auch Begleitung beim Sterben

Inhaltsverzeichnis

Manchmal vergessen sie fast, weshalb sie hier sind, an diesem Ort, an dem Leben und Tod sich treffen. Man steht nicht morgens auf und denkt, mein Kind könnte heute sterben, sagt die Mutter. Timo ist nun mal so ein Fall, sagt der Vater, da kann man froh sein, dass er wieder aufwacht am nächsten Morgen.

Timo, elf Jahre alt, Wachkoma, beinahe ein Leben lang.

Ein Haus am Waldrand, drinnen flackert der Kamin, draußen liegt der Spätwintermorgen tief über dem flachen, weiten Land. Timo, die Augen weit aufgerissen, der Blick verdreht ins Irgendwo, sitzt blass und schmal in seinem Rollstuhl, ganz nahe vor dem Kamin, Wärme mag er, sagen die Eltern. Ob er sich wohlfühlt, lesen sie daran ab, wie ruhig seine Atmung ist, wie entspannt sein Körper. Was er wahrnimmt von der Welt, bleibt sein Geheimnis.

Kinderhospiz: Ob ihr Sohn sich wohlfühlt, liest Maren Rakebrandt an seiner Atmung, an der Haltung seiner Hände ab. Doch niemand weiß genau, was Timo von der Entspannungstherapie mit Licht und Klangeffekten wahrnimmt
Ob ihr Sohn sich wohlfühlt, liest Maren Rakebrandt an seiner Atmung, an der Haltung seiner Hände ab. Doch niemand weiß genau, was Timo von der Entspannungstherapie mit Licht und Klangeffekten wahrnimmt
© Andreas Reeg

Auf dem Speichenschutz der Rollstuhlräder fliegt Antoine de Saint-Exupérys kleiner Prinz mit goldglänzendem Zackenhaar durchs mitternachtsblaue All, allein auf seinem Planeten.

Das Kinderhospiz in Syke südlich von Bremen ist benannt nach Astrid Lindgrens Märchen von den Brüdern Löwenherz. Gegen den ersten Besuch hier wehrten sich Maren und Jörg Rakebrandt jahrelang. Timo ist kein finales Kind, sagten sie: keines, dessen Sterben schon begonnen hat. Wir dachten, sagt Maren Rakebrandt, das ist ein Abschiedshaus.

Stattdessen fanden sie ein Zuhause.

Als sie vor Jahren ankommen zum ersten Besuch, ist es kurz vor Weihnachten und daheim die Gans schon bestellt, die Familie eingeladen, der Weihnachtsbaum gekauft. Bevor die Woche, die sie bleiben wollten, vorbei ist, beschließen sie, Weihnachten im Kinderhospiz zu feiern. Gans abbestellt, Familie ausgeladen, der Weihnachtsbaum nadelt auf der Terrasse.

Kinderhospiz: Maren, Timo, Mika und Jörg Rakebrandt: Im Hospiz "Löwenherz" in Syke bei Bremen hat die Familie ein Zuhause auf Zeit gefunden. Auch wenn es Timos Mutter anfangs schwerfiel, seine Pflege und Versorgung in andere Hände zu geben
Maren, Timo, Mika und Jörg Rakebrandt: Im Hospiz "Löwenherz" in Syke bei Bremen hat die Familie ein Zuhause auf Zeit gefunden. Auch wenn es Timos Mutter anfangs schwerfiel, seine Pflege und Versorgung in andere Hände zu geben
© Andreas Reeg

Es kann unendlich müde machen, sich immerzu erklären zu müssen. Maren Rakebrandt, leise und ungern im Mittelpunkt, auch im Lächeln immer ein Anflug von Sorge im Gesicht, hat an diesem Ort das seltene Gefühl, sich nicht rechtfertigen zu müssen für ihr Kind.

Keine schnell gesenkten Blicke, wenn Kinder beim gemeinsamen Frühstück im Aufenthaltsraum spucken und sabbern. Keiner, der im Vorübergehen trösten will mit gut gemeinten Gedankenlosigkeiten, das wird schon wieder. Keiner, der anweist, was zu suchen ist: Austausch oder Ablenkung.

Ein Zuhause auf Zeit, vier Wochen im Jahr, in dem keine Erwartungen zu erfüllen sind und keine Fassaden aufrechtzuerhalten. In dem Eltern wie Maren und Jörg Rakebrandt frei sind, nicht nur um ihr Kind und seine Krankheit zu kreisen. In dem sie nicht Ausnahme sind, sondern so wie alle anderen: erschöpft von der Pflege, zermürbt von Kämpfen mit Krankenkassen und dem ewigen Bittstellersein, getrieben von der Sorge um die Kinder, die unheilbar kranken und die gesunden, die so oft im Schatten stehen.

An den Wänden im Flur hängen Fotocollagen und Briefe, gedichtet und gemalt, in denen sich Eltern bedanken bei Pflegerinnen, Pädagogen, Seelsorgern, für die Tage im Hospiz, für Unterstützung, nachgeholten Schlaf und Zeit für Tränen.

An den Türen der acht Pflegezimmer Namen in bunten Klebebuchstaben, drinnen nur das Zuviel an Technik ein Bruch mit der Kinderzimmernormalität: Hebelifte, Herzmonitore, Schläuche, Kabel und die Kameras über den Betten, die nachts Schwarz-Weiß-Bilder auf den Bildschirm der Nachtwache am Flurtresen schicken.

Die Familienzimmer sind eine Etage höher untergebracht, damit die Eltern nachts nicht auf jedes Atemgeräusch, jedes Gerätepiepsen horchen.

"Oase" heißen die Räume im Kinderhospiz oder Wolkennest, Lichtblick, Abenteuerland. Sie sind lichtgefüllt bis auf jenen stillen, kühlen Raum am Ende eines Flurs, mit einem Bett, auf dessen Kopfkissen eine blasse Rose liegt. Ein Raum für den Abschied.

Viele Kinder kommen über Jahre immer wieder ins Hospiz, mit ihren Familien oder allein, nur wenige zum Sterben, irgendwann. Letzte Tage sollen selten bleiben im Hospiz, das dem Sterben nur stellvertretend Platz geben will, wenn der Tod zu Hause nicht möglich ist oder gewollt. Das nicht nur Abschiede begleiten will, sondern ganze Wege, mit der Entlastung bei der Pflege, mit Beratung für den Alltag.

Manchmal schaut Jörg Landscheid von Monkiewitsch daheim seinen einjährigen Sohn an und denkt, oh Mann, habe ich Glück gehabt. Als Kinderkrankenpfleger hat er im Hospiz angefangen, inzwischen ist er Case Manager, beschäftigt sich mit Verordnungen der Krankenkassen, Änderungen im Sozialrecht, Bescheiden, Widersprüchen, Anträgen, erklärt Ansprüche auf Pflegedienste und Mutter-Kind-Kuren. Wenn er nach seinem Beruf gefragt wird, sagt er oft nur: Ich bin in der Pflege. Kein Wort von Kinderhospiz. Damit er nicht ständig anreden muss gegen die Vorstellung vom dunklen Sterbehaus. Hier ist so viel Leben, sagt er.

Im Sommer sitzen die Eltern in Strandkörben im Garten, und die Geschwisterkinder spielen im alten Bauwagen, der nur ihnen gehört. Hier kommen die Ärzte nur zu Besuch, und Pflege meint mehr als windeln, umbetten, Medikamentengabe: Spaziergänge, ein Bad im Whirlpool, ein Kapitel "Räuber Hotzenplotz".

Jahrelang begleitet man die Familien, sagt Jörg Landscheid, sieht die Entwicklung der Kinder, der Geschwister, der Familien. Und beim Abschied sagt man Tschüss, wir sehen uns in sechs Monaten.

Kinderhospiz: Hier ist so viel Leben, sagt Pfleger Jörg Landscheid: Im Garten, im alten Bauwagen, bei Spaziergänge, einem Bad im Whirlpool oder einem Kapitel "Räuber Hotzenplotz"
Hier ist so viel Leben, sagt Pfleger Jörg Landscheid:
Im Garten, im alten Bauwagen, bei Spaziergänge, einem Bad im Whirlpool oder einem Kapitel "Räuber Hotzenplotz"
© Andreas Reeg
Kinderhospiz: Im Whirlpool steht auch Mika Rakebrandt im Mittelpunkt. Daheim, in einem Dorf bei Hannover, muss er oft warten, bis sein Bruder versorgt ist
Im Whirlpool steht auch Mika Rakebrandt im Mittelpunkt. Daheim, in einem Dorf bei Hannover, muss er oft warten, bis sein Bruder versorgt ist
© Andreas Reeg

Als das Kinderhospiz Löwenherz vor gut zehn Jahren gebaut werden sollte, als eines der ersten von inzwischen einem Dutzend Kinderhospizen in ganz Deutschland, da sorgten sich die Anwohner, dass demnächst jeden Tag ein Leichenwagen vorfährt.

Ist wie bei "Wünsch dir was" hier, sagt Mika. Mika, sechs Jahre alt, der nie der kleine Bruder war, schon als Baby der Stärkere, groß für sein Alter und selbstsicher und manchmal voller Weltweisheit. Mika, der sich zu Hause, wo Timo den Tag bestimmt, so oft gedulden muss, hat hier eine Welt, die auf ihn wartet. Timo geht snoezelen, so heißt die Entspannungstherapie auf dem Wasserbett, unter der Discokugel, die helle Lichterflecken an die Wände malt, Mika backt Pizza. Timo geht zur Krankengymnastik, Mika fährt in den Indoor-Park. Timo schläft, Mika steht am Kickertisch.

Ist der tot?, fragen Mikas Freunde, als sie Timo kennenlernen. Er schläft mit offenen Augen, sagt Maren Rakebrandt dann, das kannst du nicht. Was bekommt Timo mit?, fragt sie die Ärzte. Gehen Sie davon aus, dass er alles mitkriegt, sagt man ihr, wie wollen Sie sonst normal mit ihm umgehen?

Im Großen und Ganzen ist Timo ein zufriedener und entspannter Junge, sagt seine Mutter.

Soll das Kind im Notfall wirklich reanimiert werden?

Wenn Pferde so leiden, werden sie erschossen, eröffnen ihr die Eltern eines Epilepsiepatienten, denen Maren Rakebrandt in der Klinik in Bethel begegnet, wo Timos Krampfanfälle behandelt werden sollen.

Die anderen: so sicher in dem Wissen, wann der Tod dem Leben vorzuziehen ist. Lebensqualität, nach Augenschein bemessen. Sie werden das oft gefragt: Wäre es nicht besser gewesen, wenn?

Für eine Mutter ist es immer besser, sie behält ihr Kind, sagt Maren Rakebrandt. Die Mühelosigkeit, ihr Kind zu akzeptieren, wie es ist, die manchen Eltern erst nach Jahren gelingt oder nie - ihr ist sie gegeben, von Anfang an. Es war mein Kind, es war ganz anders, aber ich hatte es noch.

Gefragt, was sie für Timo wollen, hat sie eh niemand. So ist das heute mit der Medizin, denkt Jörg Rakebrandt, wenn in den Nachrichten wieder die Geburt eines Paar-Hundert-Gramm-Kindes bestaunt wird, sie kriegen alles zum Leben, und dann? Keiner fragt, wie es weitergeht.

Jedes Mal, wenn eine Familie ins Hospiz kommt, müssen Eltern die immer gleiche Vereinbarung unterschreiben: Was soll im Notfall passieren? Soll der Notarzt gerufen, das Kind reanimiert werden? Ist die Kette der lebenserhaltenden Maßnahmen einmal in Bewegung gesetzt, lässt sie sich nur schwer unterbrechen. Das Leben wird gerettet, mit allen Konsequenzen, um jeden Preis. Anfangs sagen viele Eltern, wir wollen, dass alles getan wird. Aber wenn sie zum fünften, siebten, zehnten Mal da sind, sagen sie irgendwann doch, wir möchten nicht, dass der Notarzt gerufen wird. Ich will, dass mein Kind gehen darf.

Gut 350 Kinder hat das Kinderhospiz seit seiner Eröffnung 2003 begleitet, fast 130 sind in dieser Zeit gestorben.

Als zum ersten Mal ein sterbendes Kind im Hospiz ist, gehen die Pflegekräfte flüsternd über die Flure, wissen nicht sicher, wie umzugehen ist mit dem Tod, als er greifbar wird. Zur Trauerfeier kommt das ganze Haus. Seither haben sie dem Abschied ein Ritual gegeben. Am Ende gehen sie hinaus in den Garten und lassen gemeinsam mit den Eltern an einem Heliumballon den Schmetterling in den Himmel steigen, den die Eltern bei ihrem ersten Besuch im Kinderhospiz gebastelt haben. In der Eingangshalle schweben die Schmetterlinge unter der Decke, Namen auf den buntpapiernen Flügeln und Geburtstage.

Kinderhospiz: Der Abschiedsraum am Ende eines Flures: Die Angehörigen entscheiden, wie lange ein verstorbenes Kind dort aufgebahrt wird
Der Abschiedsraum am Ende eines Flures: Die Angehörigen entscheiden, wie lange ein verstorbenes Kind dort aufgebahrt wird
© Andreas Reeg

Beim Abschied steigen Ballons mit Schmetterlingen in den Himmel

Jeder Tod, jedes Sterben ist anders. Mancher Abschied bringt die, die hier arbeiten, an ihre Grenzen - wie etwa der Fall jener 17-Jährigen mit Mukoviszidose, die das Leben mit ihrer Krankheit satthatte, die Kliniken, das Ringen nach Luft, die nicht mehr wollte, auch wenn sie mit einer neuen Lunge vielleicht noch viele Jahre hätte leben können, und keiner wollte einsehen, dass sie aufgegeben hatte, nicht die Mutter, nicht die Ärzte. Sie starb im Hospiz, die Atemnot gelindert durch starke Schmerzmittel.

Auch andere Schicksale sind manchmal so belastend, dass alle, die fünf Jahre im Hospiz gearbeitet haben, drei bis sechs Monate Auszeit nehmen können. Oder wenigstens zehn Einkehrtage, in einem Kloster zum Beispiel.

Kinderhospiz: Der Fallbetreuer Jörg Landscheid begleitet Angehörige oft über mehrere Jahre
Der Fallbetreuer Jörg Landscheid begleitet Angehörige oft über mehrere Jahre
© Andreas Reeg

Als Jörg Landscheid zum ersten Mal das Sterben erlebt, wie es ihm richtig und wichtig erscheint, ist er dankbar, zutiefst.

Als Kinderkrankenpfleger hat er vor der Zeit im Hospiz auf der Krebsstation einer Klinik gearbeitet, wo am Ende nichts blieb außer dem Gefühl des Verlustes, gekämpft bis zum letzten Atemzug, trotzdem verloren.

Früher, sagt Jörg Landscheid, habe ich auch mit Menschen gearbeitet, aber nicht mit Gefühlen. Seine Haltung zum Sterben hat er im Buddhismus gefunden. Es kommt ein nächstes Leben, daran glaubt er fest, und dass alles, was die Kinder durchmachen, sie fürs nächste Leben stärken kann. Das hilft ihm, sagt er, zu arbeiten in diesem Haus.

Lara ist tot. An diesem Morgen haben ihre Eltern im Hospiz angerufen. In der Eingangshalle brennt eine Kerze neben dem aufgeschlagenen Gästebuch mit ihrem Bild, Lara, Ringelmütze und Nasensonde, vier Jahre trennen die Tage von Geburt und Tod. Über dem kleinen Strauß gelber Ranunkeln, viele Knospen noch geschlossen, hängt ein zartrosafarbener Schmetterling, die Flügel beschwert mit Worten wie Beschwörungsformeln: Dare to dream forever. Believe in love hope trust.

Niemand bestimmt, wie viele Tage ein Abschied dauern darf am Bett in dem kühlen Raum am Ende des Flurs. Niemand drängt, über das Sterben nachzudenken.

Jeder ist vorbereitet, darüber zu reden, Krankenschwestern, Hausmeister, Techniker. Manchmal wird der Tod ganz unvermutet Thema, beim Fünfminutengespräch mit der Putzfrau in der Raucherecke, auf langen Autofahrten zum Shopping-Nachmittag in der Großstadt.

Manche Eltern wollen erzählen, ihre Geschichte loswerden, immer wieder neu. Andere finden auch nach Jahren nicht heraus aus der Sprachlosigkeit.

Wenn ich etwas schon so weinerlich erzählt kriege, dann haue ich ab, sagt Jörg Rakebrandt. Natürlich dürfen Menschen weinen, aber es wird ihm schnell zu viel. Allzu Gefühlsbetontes kleidet er in Grimassen, und an der Väterwoche, in der die Männer mit ihren Kindern allein sind im Kinderhospiz, schätzt er mehr als alle Gespräche das gemeinsame Grillen, draußen, im März. Papa erzählt ja nicht so, sagt er zu seinem Sohn gebeugt. Nur die knallharten Fakten. Man muss nicht immer so leidend tun, findet Jörg Rakebrandt. Man kann gut leben so. Man kann sogar glücklich sein.

Kinderhospiz: Zum gemeinsamen Essen versammeln sich Familien und Mitarbeiter im Aufenthaltsraum "Große Oase"
Zum gemeinsamen Essen versammeln sich Familien und Mitarbeiter im Aufenthaltsraum "Große Oase"
© Andreas Reeg

Maren und Jörg Rakebrandt hatten die Entscheidung für ein Kind lange hinausgezögert. Wollten reisen. Wollten beide weiterarbeiten, sie als Rechtsanwaltsgehilfin, er als Verwaltungsbeamter beim Land Niedersachsen. Hatten gerade erst ein kleines Reihenhaus gekauft, in Lehrte-Arpke bei Hannover, ein Dorf von kaum 3000 Einwohnern mit Seerosenteich und Backsteinkirche, in dem jeder jeden kennt und die Rakebrandts mitten drin waren im Leben, viele Freunde, viel gefeiert. Ein bewegtes, unbeschwertes Leben, sagt Maren Rakebrandt.

Blauäugig waren sie, sagen beide. Maren Rakebrandt kann sich bis heute nicht erinnern, jemals ein schwerstbehindertes Kind gesehen zu haben, bevor sie selbst eines hatte. Im Fernsehen vielleicht.

Wie zerbrechlich das Leben sein kann. Wie sich alles ändern kann, jeden Tag.

Der 9. Juli 2002 ist ein heißer Sommertag, drei Wochen vor Timos erstem Geburtstag. Morgens hat Timo bei den Großeltern auf der Terrasse auf Opas Schoß gesessen, Eis gegessen, gelacht. Daheim fängt er plötzlich an zu weinen, verkrampft, erbricht, schreit laut auf, verdreht die Augen, läuft blau an. Maren Rakebrandt ruft die Schwiegereltern an, die den Notarzt alarmieren, versucht auf dem Sofa ihren Sohn zu beatmen, hört es brodeln in seinen Lungen. Der Schwiegervater steht in der Tür, oh Gott, Junge, übernimmt die Beatmung, bis ihn der Notarzt ablöst. Spritzen fliegen durch das kleine Wohnzimmer, Maren Rakebrandt sitzt mit ihrer Schwiegermutter draußen vor dem Haus und brüllt die Schaulustigen weg, die sich versammeln, als auf dem Nachbarhof der Hubschrauber landet.

Kammerflimmern. Herzstillstand.

Stundenlang wird Timo wiederbelebt, auf dem Flug, in der Klinik, stundenlang balanciert er zwischen Leben und Tod. Als die Eltern ihn abends kurz sehen dürfen, liegt er im künstlichen Koma, an Beatmungsschläuchen, und ob er die Nacht überlebt, kann niemand sagen. Tage vergehen. Lungenentzündung. Multiorganversagen. Nieren, Leber, auch das Rückenmark. Andere Organe können sich regenerieren, aber das Gehirn? Computertomographien sollen Aufschluss geben über die Folgen des langen Sauerstoffmangels. Nach der ersten, positiven Untersuchung sind sie euphorisch.

Kinderhospiz: In den Gästebüchern, die am Eingang ausliegen, wird auch festgehalten, welche Kinder gestorben sind
In den Gästebüchern, die am Eingang ausliegen, wird auch festgehalten, welche Kinder gestorben sind
© Andreas Reeg

Es geht darum, dem Leben ein Stück Normalität abzutrotzen

Maren Rakebrandt will an das Beste glauben. Aber ein Teil von ihr denkt, ich habe mein totes Kind im Arm gehalten. Das kann nicht gut ausgehen. Nach der zweiten Untersuchung sagt man ihnen, dass ihr Sohn komatös bleiben wird. Apallisches Syndrom.

Timo kann nichts fixieren, reagiert nicht auf Ansprache. Als er nach anderthalb Wochen wieder alleine atmet, hört sich sein Luftholen an wie ein Erstickungstod.

Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen. Magensonde wegen der Schluckstörung. Seinen ersten Geburtstag verbringt er auf der Intensivstation. Stundenlang sitzen die Eltern an seinem Bett, so lange sie eben dürfen. Wenn Timo ein Auge öffnet, ist oft nur das Weiße zu sehen. Wenn er einen Arm streckt, beobachten die Pfleger eine Spastik. Maren Rakebrandt bekommt es mit der Angst zu tun, apallisch, Spastik, was denn noch?

Ein halbes Jahr später bekommt die Ursache für Timos Herzstillstand einen Namen. Long-QT-Syndrom, ein seltene Genmutation, damals kaum erforscht, die bei gesunden Menschen zum plötzlichen Herztod führen kann. Maren Rakebrandt hat den Gendefekt an ihren Sohn vererbt.

Mehrfach schwerstbehindert.

Die Trauer über die verlorene Zukunft bricht manchmal überwältigend herein. Maren Rakebrandt fühlt sich betrogen um die ersten Schritte ihres Sohnes, das erste Mama aus seinem Mund. Aber die Wut findet keinen Schuldigen. Hör auf zu fragen, warum, sagt ihr Mann irgendwann, du kriegst keine Antwort. Frag doch lieber: wie.

Sie beschließen, ihr Glück in dem zu suchen, was ist. Dem Leben Normalität abzutrotzen, so viel wie möglich. Mika muss Timo um Erlaubnis bitten, wenn er sich Spielzeug ausleihen möchte, auch wenn der keine Antwort geben kann. Timo bekommt keine Spezialnahrung durch seine Magensonde, sondern Mahlzeiten, püriert und verflüssigt aus dem Infusionsbeutel: Toast mit Macadamianuss- Aufstrich und Mandelmilch, Bio- Huhn mit Kartoffeln und Blumenkohl, Pommes, Pizza, auch wenn die Ärzte warnen, dass Säuren aus den Lebensmitteln die Schläuche angreifen, dass der Kalorienbedarf genau errechnet werden muss.

Man will doch was tun können für sein Kind, sagt Maren Rakebrandt. Wenigstens kochen. Wenigstens das. Es ist ein paar Jahre her, da stützt Jörg Rakebrandt den Arm auf die Tischplatte des Stehständers, der seinen Sohn auf eigenen Beinen stehen lässt, beinahe, und sagt, Junge, in ein paar Jahren trinken wir das erste Bier zusammen.

Wenn Maren Rakebrandt im Hospiz ankommt, nimmt sie die Gästebücher vom kleinen Wandtisch in der Eingangshalle, blättert, schaut, welche Familien zu Besuch waren, welches Kind gestorben ist. Timo hat jetzt eine DNR-Order in seiner Akte. Do not resuscitate. Keine Reanimation.

Hoffnung schleicht sich ein, leise und manchmal wider besseres Wissen. Sie lesen die Geschichte eines Jungen, der nach einem Unfall im Wachkoma liegt und nach Florida gebracht wird zur Delfintherapie. Und danach lacht.

Das halbe Dorf sammelt für ihren Plan. Der Kirchenchor gibt ein Spendenkonzert, der Fußballverein Hannover 96 sagt ein Benefizspiel zu. Sie fühlen sich überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft, glücklich wie lange nicht. Dreimal fliegen sie mit Timo zur Delfintherapie nach Florida und Curaçao. Lachen lernt er nicht.

Die Fragen, wie es geht, Timo und ihnen, werden weniger, als es keine Erfolge zu berichten gibt, sondern immer nur neue Hürden. Wieder eine Lungenentzündung, wieder ein Krankenhausaufenthalt. Ihrer Geschichte fehlt der versöhnliche Lichtblick. Sie nimmt Hoffnung. Hoffnung, dass sich das Schicksal bezwingen lässt, wenn man nur lange genug aushält, Hoffnung, dass die Welt irgendwann wieder heil und ganz wird, wie sie war.

Bei manchen Kindern sammelt sich eine solche Vielzahl an Erkrankungen und Einschränkungen an, dass sich manche Hospizmitarbeiter mit ihrer Fassungslosigkeit in einen lapidaren Satz flüchten: Der hat sich gleich noch mal angestellt, als die Krankheiten verteilt wurden. Bei einigen Eltern türmen sich im Leben mit ihrem kranken Kind immer neue Probleme auf, finanzielle, familiäre. Mitunter schlägt das Schicksal so oft zu, mit solcher Wucht, als gelte es herauszufinden, wie lange es dauert, bis einer zu Boden geht.

Es kommen viele alleinerziehende Mütter ins Kinderhospiz. Ein Großteil der Eltern von schwerstbehinderten und lebensverkürzend erkrankten Kindern trennt sich irgendwann.

Väter gehen, sagt Jörg Rakebrandt. Weil man sich über Sorge und Pflege entfremdet und entfernt als Paar. Weil der Mann denkt, mich gibt’s aber auch noch, sagt Jörg Rakebrandt. Er hat das auch gedacht, manchmal. Ist trotzdem geblieben.

So ist das mit Familie: Wenn es eine vierköpfige ist, soll’s auch eine vierköpfige bleiben. Anfangs raten ihnen alle zu einem zweiten Kind, am besten sofort. Als dann der Genfehler gefunden ist, Risiko der Weitervererbung 50 : 50, sagen die meisten, dann lieber nicht. Wie schade ist das, wenn wir alt sind, und Timo klingelt nicht und kommt zum Mittagessen vorbei, findet Maren Rakebrandt.

Als sie sich für ein zweites Kind entscheiden, scheint die Zwillingsschwangerschaft wie ein doppeltes Versprechen auf die Normalität, die sie sich wünschen.

Bei der Vorsorgeuntersuchung in der 33. Woche schlägt das Herz des zweiten Zwillings nicht mehr. Am 11. November kommt Kimi zur Welt, tot, die verknotete Nabelschnur um den Hals. Und dann Mika, gesund. Fast. Aus seiner Nabelschnur wird eine Blutprobe entnommen, eine Woche dauert das Warten: Auch Mika trägt den Gendefekt. Als er drei Jahre alt ist, wird ihm ein Defibrillator eingesetzt. Damit dein Herz, wenn es müde wird, nicht einschlafen kann, sagen die Eltern. Wie Timos Herz. Das sagen sie nicht. Maren Rakebrandt hofft, zum richtigen Zeitpunkt Antworten zu haben auf Mikas Fragen.

Kimi liegt in einer Ecke des Dorffriedhofs begraben, in die kaum ein Besucher kommt, in die keine Wege führen durchs hohe Gras. Mika glaubt sich zu erinnern, wie es war, als er und Kimi zusammen waren im Bauch ihrer Mutter. Wäre schön, wenn Kimi hier wäre, sagt er dann, so wie er sagt, wäre schön, wenn Timo mit mir spielen könnte.

Wenn sie neue Blumen gepflanzt haben auf Kimis Grab, das er Kimis Garten nennt, dann guckt Mika nach oben: Und, gefällt’s dir?

Mika, sagt seine Mutter, ist ein sehr glückliches Kind. Trotz allem. Dinge, die früher wichtig waren, verlieren an Kraft, Bedeutung, Wert. Sie wissen Tage zu schätzen heute, an denen rein gar nichts passiert. Sie träumen Träume, denen die Zeit davonläuft. Von einer Wohneinrichtung für Familien mit behinderten Kindern. Davon, dass Timo lange genug lebt, um noch das Jugendhospiz zu besuchen, das auf der Baustelle nebenan wächst, mit einer verstellbaren Bar für Rollstuhlfahrer und Skyline-Silhouetten an den Wänden der Pflegezimmer, New York, Sydney, Tokio.

Das Gefühl bestimmt über alle medizinische Ungewissheit, das Gefühl, dass der Abschied von Timo näher kommt. Es gibt Eltern im Kinderhospiz, die viel Zeit damit verbringen, den Abschied von ihrem Kind zu planen, lauter letzte Dinge, bis hin zu den Liedern auf der Trauerfeier. Maren Rakebrandt will davon nichts wissen. Bis es so weit ist.

Man muss das leben, sagt sie. Man muss das leben, den Tod.

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GEO WISSEN Nr. 51 - 05/13 - Vom guten Umgang mit dem Tod

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