Als ich zum ersten Mal schwanger war, stieß ich im Bücherregal meiner Schwiegermutter auf einen Klassiker der späten 1970er Jahre: "Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht!" Ich fand das Buch sehr ein leuchtend. Und als meine Tochter geboren wurde, wollte ich alles richtig machen. Ihr nicht nur Puppen, sondern auch Werkzeug schenken, ihr Interesse an Autos und Baggern fördern. Ich begegnete der Farbe Rosa mit Misstrauen und wollte keine spindeldürren Plastikpuppen in ihrer Nähe sehen.
Vier Jahre später kam ihr Bruder. Da sah ich vieles schon entspannter, die Vorsätze aus der ersten Schwangerschaft waren Vergangenheit. Es gab Barbie-Puppen im Kinderzimmer, und unsere Tochter durfte endlich zum Tanzen.
Jetzt habe ich eine Siebenjährige, die Kleider liebt und vor dem Spiegel posiert. Die aber auch auf alles klettert, was Händen und Füßen ein wenig Halt gibt, und zwar stets bis ganz oben. Die gegen die Jungs im Tauziehen gewinnt.
Und einen Dreijährigen, der Radlader, Pickups und Jumbojets mit fast religiöser Inbrunst verehrt. Der sich mit seinem Laufrad halsbrecherisch den Gehweg hinunterstürzt. Der aber auch schmust und küsst und singt, sogar seine Duplo-Männchen unters T-Shirt schiebt und an seine Brust hält, um sie zu stillen.
War ich das? Oder die Natur? Bleibt das so? Wird mein Sohn, dessen Vater meistens das Kochen übernimmt, irgendwann aus dem Kindergarten nach Hause kommen und verkünden, Frauen gehörten an den Herd – so wie meine Tochter sich von Freundinnen überzeugen ließ, dass Braun und Blau Jungsfarben sind, die man nicht anziehen darf?
Wer oder was bestimmt, was männliches oder weibliches Verhalten ist, wer bringt es meinen Kindern bei?
Und vor allem: Welchen Einfluss habe ich als Mutter überhaupt?
Sich als Mann oder Frau zu fühlen, ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wohl kein anderes Lebewesen vermag darüber nachzudenken, was es heißt, männlich oder weiblich zu sein. "Geschlechtsidentität" nennt die Wissen schaft dieses Gefühl.
Kinder spüren schon früh im Leben, dass es zwei Geschlechter gibt, wahrscheinlich noch ehe sie überhaupt ein ausgeprägtes Ich-Bewusstsein entwickeln: Schon Säuglinge können mit spätestens sechs Monaten männliche und weibliche Stimmen auseinanderhalten, bald darauf schon Gesichter von Männern und Frauen unterscheiden.
Mit dreieinhalb Jahren gaben alle im Rahmen einer Studie befragten Kinder eine klare Antwort auf die Frage: Bist du ein Junge oder ein Mädchen?
Wie aber kommen sie zu dieser Überzeugung? Das ist eine der umstrittensten Fragen der Humanwissenschaften – allein auf dem Gebiet der Psychologie erscheinen jährlich rund 600 Studien zum Thema Geschlechtsidentität. Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts ging die Forschung davon aus, allein die Natur lege über die körperlichen Unterschiede der Geschlechter die damit zusammenhängende Vorstellung über die Identität fest.
In den 1970er Jahren entwickelte sich dann die entgegengesetzte Meinung: Hauptsächlich oder gar ausschließlich seien Sozialisation und Kultur verantwortlich für die Trennung in Mann und Frau: Wir würden zu Mädchen und zu Jungs erzogen.
Eine endgültige Antwort gibt es auch heute nicht, inzwischen aber sind sich die meisten Wissenschaftler zumindest in einem Punkt einig: Weder Natur noch Kultur sind allein verantwortlich dafür, welche Geschlechtsidentität sich bei einem Kind entwickelt.
Die Hormone, die Gene, die Gesellschaft – sie alle sind wichtig. Und selbstverständlich auch die Mütter.
Schon während der Schwanger schaft spielt sich Entscheidendes ab: Die Föten und ihre rasch wachsenden Gehirne stehen unter dem Einfluss mehrerer Geschlechtshormone.
Bereits sehr früh wird bei Ungeborenen beispielsweise Testosteron gebildet, ein Botenstoff, der mitbestimmt, dass sich der Fötus männlich entwickelt. Ohne Testosteron sowie einen weiteren wichtigen Signalstoff der Hoden entwickelt sich dagegen ein Mädchen.
Auf diese Weise prägen sich die geschlechtstypischen Körpermerkmale aus. Die Botenstoffe tragen auch dazu bei, dass das Gehirn eines Jungen in Relation zum Körpergewicht größer wird und mehr Neurone enthält, das eines Mädchens aber schneller reift.
Doch am Ende sind die anatomischen und strukturellen Unterschiede in den kindlichen Denkorganen trotzdem erstaunlich gering.
Auch sind nur wenige Eigenschaften beweisbar "typisch männlich". So sind über alle Kulturen hinweg Männer im Durchschnitt acht bis zehn Zentimeter größer als Frauen, haben im Schnitt ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen und ein höheres Aggressionspotenzial.
Das scheint schon vor der Geburt zu entstehen: Mädchen, die als Föten aufgrund einer Störung der Nebennierenrinde einer erhöhten Dosis männlicher Hormone ausgesetzt waren, haben als Kinder mehr Interesse an Raufen und Tobespielen als ihre Schwestern.
Geschlechtshormone wurden des halb schon für vieles verantwortlich gemacht: für die Berufswahl, für weibliche Intuition und männliche Wortkargheit. Doch das ist nach Ansicht der meisten Forscher zu monokausal gedacht.
Den gesamten Text lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Mütter".