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"Mein Leben war geordnete Verwahrlosung"

Ina Lehmann (Name geändert), 49, ist als Schlüsselkind aufgewachsen und fühlte sich von der Mutter ungeliebt. Im Berufsleben suchte sie daher zwanghaft nach Anerkennung - bis zum Zusammenbruch

Ich bin kein Kind der Liebe - eher die Folge einer Zweckentscheidung. Mutter, du wolltest nach deiner Kriegskindheit unter beengten Verhältnissen endlich eine eigene Wohnung. Dafür war es in den Sechzigerjahren in Köln hilfreich, zu heiraten und ein Kind zu bekommen. Aus dem Grund hast du das getan – und entsprechend hast du mich behandelt. Du dachtest offenbar, ein Kind ist gut versorgt, wenn es ein Zimmer, Essen, saubere Kleidung hat.

Zu einer glücklichen Kindheit gehört aber mehr: Liebe, Zuwendung, Förderung. Eine Mutter sollte Spaß am Kind haben. Du hattest keinen Spaß an mir, ich war dir eine Last. Wir waren nie zusammen im Zoo oder auf Weihnachtsmärkten, nie hast du mit mir gespielt. In emotionalen Dingen bin ich wirklich zu kurz gekommen - und das, während um uns die 68er-Generation tobte.

Aufgewachsen bin ich als Schlüsselkind. Du bist arbeiten gegangen, eigentlich eine gute Sache, aber um mich hat sich niemand gekümmert. Mein Leben war eine geordnete Verwahrlosung: Schon mit acht Jahren habe ich nach der Schule jeden Nachmittag allein verbracht, Tiefkühlkost aufgetaut und zubereitet. Bis heute kann ich keine Tiefkühlpizza mehr essen.

Gern hätte ich nach der Schule jemanden zum Reden gehabt. Ich habe dich dann im Büro angerufen, weil ich "Heimweh" nach dir hatte. Du hast mir vorgerechnet, was die Telefonate kosten, also durfte ich nicht mehr anrufen. Dass du dich vielleicht mittags bei mir meldest, um zu hören, ob es mir gut geht: Darauf bist du gar nicht gekommen.

Irgendwann habe ich Freunde eingeladen, um zusammen Schularbeiten zu machen oder zu spielen. Wenn du nach Hause gekommen bist, hast du sie ohne Kommentar rausgeworfen - das war erniedrigend für mich. Du hättest dich freuen können, dass ich nicht allein war und Spaß hatte. Aber für dich zählten nur Pflicht und Ordnung: Ein Kind hat zu funktionieren!

Toll fand ich, dass du dich irgendwann von meinem Vater getrennt hast, weil er ständig getrunken hat und die Beziehung am Ende war. Da warst du wirklich einmal mutig! Alle waren gegen dich. Und du wusstest nicht, wie es weitergehen sollte, zumal du auch noch deine Arbeit verloren hast.

Geprägt von diesem Familienbild kam ich in die junge Erwachsenenzeit: Frei von häuslichen Zwängen und mit eigener Wohnung, hatte ich das Gefühl, mein Leben findet endlich als "Farbfilm" statt. Ich hatte neue Freunde, Anerkennung im Beruf; Menschen, die so ganz anders waren als meine Familie.

"Mein Leben war geordnete Verwahrlosung"
© Petra Eva Elisabeth Kofen
"Mein Leben war geordnete Verwahrlosung"
© Petra Eva Elisabeth Kofen

Und irgendwann tauchte dann die Frage auf: Bleibe ich bei meinem Freund? Immer wenn es ernst wurde, habe ich einen Mann "vertrieben". Ich bin vorzeitig aus den Beziehungen geflüchtet: aus Angst, ich würde dein Familienleben wiederholen, so wie du schon das deiner Mutter wiederholt hast. Schlicht aus Mangel an eigenen Ideen, es war ja auch einfacher so.

Ich habe mir dann vorgestellt, wie es wäre, wenn ich ein Kind hätte: Ich war fest davon überzeugt, das Kind nicht lieben zu können, weil ich nicht weiß, wie das geht: Mutterliebe. Das wollte ich einem Kind nicht zumuten.

Bei uns zu Hause galt immer: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Immer tun, was andere fordern, bloß nicht selber denken oder gegen den Strom schwimmen. In meinem Beruf als Ausbilderin war es daher einfach für mich, Erfolg zu haben. Ich kannte die Regeln.

Gemessen an deinen Maßstäben, war ich allerdings eine totale Versagerin: kein Mann, keine Kinder.

Für dich war klar: Die kriegt keinen Mann, weil sie sich nicht anpasst. Dass ich deinem Muster von Familien­leben einfach nicht folgen konnte, hast du bis heute nicht verstanden. Für dich ist eine alleinstehende Frau kein Mensch, sondern "nur" ein halbes Paar.

Lange ging es in meinem Berufsleben steil aufwärts. Jahrelang funktionierte ich zuverlässig: am Arbeitsplatz, bei den vielen Dienstreisen ins Ausland. Kontakte mit Freunden, Zusammensein nur so zum Spaß erschien mir als Zeit- und Energieverschwendung. Am Wochenende brauchte ich Ruhe. Manchmal ging ich noch zum Fitnesstraining, hoffte aber, nicht angesprochen zu werden.

Mit Mitte 40 fühlte sich mein Leben an, als ob es stagnierte. Kein Mann, keine Kinder – immer nur Leistung und Arbeit. Da war plötzlich die Aussicht auf weitere 20 Jahre bis zur Rente. In der Mitte des Lebens, allein und ziellos. Ich war wieder im Schwarzweißfilm.

Dann der Zusammenbruch: Ich war zu einfachsten Dingen nicht mehr fähig, jede Tätigkeit im Haushalt eine unüberwindbare Hürde. Wochenlange Krankschreibung. Ein erster Erfolg, als ich einmal am Tag zum Briefkasten gegangen bin. Ich musste mit meinen eigenen Kräften haushalten. Dabei habe ich mit therapeutischer Hilfe gelernt, vor allem an mich zu denken. Nur wenn es mir gut geht, habe ich auch Kraft für andere Dinge wie den Beruf.

In dieser Zeit habe ich mir meinen Freundes- und Familienkreis genau angesehen: Wo bekomme ich Kraft und Energie, wo verliere ich sie? Bei dir verliere ich sie. Geburtstagsbesuche sind für mich Pflichttermine, an denen ich meinen Part übernehme; sie machen mich depressiv und wütend, noch Tage danach. Darüber hinaus treffen wir uns nur zum Sonntags-Pflichtbesuch, obwohl wir in derselben Stadt wohnen. Du rufst auch nie an.

Du bist unfähig, eine Beziehung zu gestalten, lebst nur in der Pflichterfüllung, und dein Mantra lautet: Was sollen denn die Nachbarn denken? Daher habe ich auch in der Krise kein Gehör bei dir gefunden, musste weiter als "gute Tochter" funktionieren. Und eine gute Tochter ist eben nicht krank – daher hast du meinen Zusammenbruch bis heute ignoriert. Es geht mir gut, wenn ich nichts von dir höre. Aber als gute Tochter kann ich mir die harte Botschaft nicht eingestehen. Sofort kommt das schlechte Gewissen.

Ich möchte das nicht mehr. Mir geht es ohne dich besser, und ich habe gelernt, mich mit Menschen zu umgeben und Dinge zu tun, die mir gefallen und mir etwas bedeuten. Du gehörst leider nicht mehr dazu.

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GEO WISSEN Nr. 52 - 11/13 - Mütter: Wie sie uns ein Leben lang prägen

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