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Leseprobe: Eine Reise ins Herz des Ichs

Eine Woche in einem Schweizer Schweigekloster

"Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung."

Diese Zeilen schrieb Ende des Ersten Weltkriegs Franz Kafka, dieser empfindsame Schriftsteller. Ich will es gern glauben. Der Wunsch zu erkennen, wie die Welt ist, wie ich bin, begleitet mich unablässig, vage, aber beharrlich. Wenn es doch so einfach wäre, Klarheit zu gewinnen, wie er sagt.

Doch wie soll sich im Alltag die Ruhe finden lassen? Wie kann es gelingen, still zu werden? Horchen, sitzen, warten – damit ist es nicht getan. Weil es so simpel erscheint, verzweifele ich daran. Ich will nicht nur bei einer Stunde Yoga entspannen, in der Sauna relaxen oder am Pool liegen. Ich will erfahren, was andauernde Stille wirklich mit mir macht. Was es bedeutet, nichts zu tun. Und nur zu sein.

Manche sagen: Du bist doch schon so ruhig. Sie ahnen nichts von dem Lärm in mir, von den Gedankenstürmen. Manche sagen: Mich von allem zurückziehen, das könnte ich nicht. Sie wissen nichts von dem verletzlichen Tier in mir, das manchmal noch wie angeschossen aus der Großstadt flüchten will. Vielleicht ist die Sehnsucht nach Stille romantischer Kitsch, vielleicht ein spießiges Kleinbürgerideal oder ein Alibi für Weltverächter und Faulenzer.

Aber ich bin damit nicht allein. Achtsamkeit, Entschleunigung, Innehalten: Ich bin Teil einer großen Bewegung. Doch vielleicht ist nicht alles, was auf den ersten Blick banal wirkt, auch sinnlos. Vielleicht ist Stille tatsächlich eine Quelle, an der sich Kraft schöpfen lässt.

Ich suche die Ruhe nicht in Tibet, Japan oder Indien. Ich gehe nicht zu Zen-Buddhisten, Sufi-Derwischen oder Yoga-Meistern. Denn auch in meiner Kultur forschen Menschen nach Wegen, die Zeit zu verlangsamen und sich ganz sich selbst auszusetzen. Vor etwa 1700 Jahren zogen sich die ersten Eremiten aus der Gemeinschaft der Menschen zurück. Sie begründeten eine Tradition, die so dauerhaft ist wie kaum ein andere: das Leben im christlichen Kloster.

Stille, so glaubten sie, birgt ein Mysterium. Ja, sogar das Geheimnis des Lebens selbst. Eine ihrer Weisheiten lautet: "Geh in deine Zelle und setze dich dort nieder. Die Zelle wird dich alles lehren." Cella est coelum. Die Zelle ist der Himmel.

»Cella est coelum«, sagen die Mönche: Die Zelle ist der Himmel – in der der Mensch zusammen mit Gott wohnt, abgeschirmt von der Außenwelt
»Cella est coelum«, sagen die Mönche: Die Zelle ist der Himmel – in der der Mensch zusammen mit Gott wohnt, abgeschirmt von der Außenwelt
© INTERFOTO
  • In einem Kloster bedeutet Ruhe
  • nicht einfach nur Pause. Dort ist alles
  • darauf ausgerichtet. Das Gehen und das
  • Sprechen, das Essen und die Arbeit. Nur
  • dann kann sich jene Magie entfalten, die
  • im alltäglichen Leben meist verborgen
  • bleibt. Für jene, die glauben, ist es Gott.
  • Für andere ist es die besondere Lebensart, die auf die Psyche wirkt.
  • Ich suche die Stille in der Schweiz.
  • Seit mehr als 400 Jahren ragen
  • die Mauern des Kapuzinerklosters auf einer Landzunge
  • in den Zürichsee, wie ein Bollwerk steht das Gemäuer auf
  • dem Endingerhorn von Rapperswil.
  • Einst sollten die Ordensbrüder hier den katholischen Glauben gegen die Ideen
  • der Protestanten verteidigen,
  • heute versuchen hier acht Brüder und zwei Schwestern, dem
  • Heil der Menschen zu dienen. Sie geloben Keuschheit, Gehorsam und Armut,
  • legen einfache Ordenstrachten aus
  • schwerem, braunem Stoff an, gegürtet
  • mit einer Kordel.
  • Gott ist nah, wenn Menschen einander freundlich begegnen, glauben sie,
  • Trost spenden, Mitgefühl zeigen. Alle
  • Menschen und Geschöpfe seien Schwestern und Brüder, lehrte ihr Stammvater,
  • Franz von Assisi.
  • Es gibt Gemeinschaften, die rücken nicht die Mitmenschen, sondern die
  • Stille in den Mittelpunkt ihres Daseins,
  • etwa die Kartäuser, Trappisten oder
  • Zisterzienser.
  • Die Kapuziner aber versuchen,
  • beides miteinander zu verschmelzen:
  • Rückzug und Offenheit. Daher nehmen
  • die Ordensbrüder auch Gäste auf, empfangen sie etwa zu Übungen im Schweigen: sieben Tage Gebet und Meditation.
  • Exerzitien der Stille.
  • Die Kapuziner laden mich ein, für
  • ein paar Tage Teil ihrer Gemeinschaft
  • zu sein. Ich erhalte eine Kammer neben
  • jenen, in denen die Brüder wohnen.
  • Sieben Menschen wollen wie ich
  • die Stille erleben. Fremde, von denen ich
  • am Ende der Woche kaum mehr wissen
  • werde als am Anfang. Aber deren Lächeln und Gähnen ich kennen werde,
  • deren Schritt und Atem. Der Kapuzinerbruder Beat und eine Meditationsleh­rerin wollen uns in die Stille führen,
  • zeigen, was sie selbst dort erleben.
  • "Willkommen zu einem Aben­teuer", sagt Beat. "Manche wandern, um
  • sich näherzukommen; pilgern durch
  • fremde Landschaften. Wir brechen zu
  • einer Pilgerreise in uns selbst auf."
  • Die Stimme der Sängerin
  • aus der Musikanlage hüllt mich
  • von allen Seiten ein. Sie singt
  • das Vaterunser auf Aramäisch,
  • jener Sprache, in der Jesus das
  • Gebet vermutlich gelehrt hat.
  • Es werden die letzten Klänge
  • sein, die uns in die Ruhe begleiten. Schließlich verebben
  • die Töne, und es bleibt: Stille.
  • Eine Stille, die klingt.
  • Anfangs zaghaft, dann immer
  • beharrlicher pressen sich Geräusche
  • gegen meine Ohren. Das Rauschen der
  • Heizung, das Schnaufen der Menschen,
  • das Pochen meines Herzens, das Murmeln meiner Gedärme.
  • Stumm esse ich jeden Tag mit den
  • anderen im Speisesaal, sieben Uhr, zwölf
  • Uhr, 18 Uhr. Schweigend verharre ich
  • im Meditationssaal, wie lange, entscheidet jeder für sich. Sechs Uhr, neun Uhr,
  • 15 Uhr. Im Chorraum der Kirche hinter
  • dem Altar singe ich mit den Brüdern und
  • Schwestern. 11.45 Uhr, 21.45 Uhr.
  • Und jeden Abend hören wir einen
  • Vortrag: Gedanken zum Wesen der
  • Stille. Bruder Beat gibt Anweisungen
  • zur Meditation, erzählt von einer Suche
  • nach Gott, von Bereitschaft zu Leiden,
  • der heilsamen Kraft des Augenblicks.

Der Rhythmus des Tages trägt mich; er nimmt mir die Last, für mich selbst zu sorgen. So bleibt Platz für etwas anderes. In diesen Tagen soll alles nur auf eines Rücksicht nehmen: auf die Gegenwart.

Auf das, was ist. Jetzt.

Was zu spüren ist, wenn sich die Augenlider öffnen, sich der Mund um die Gabel schließt, sich das Gesicht dem Schein der Kerzen zuwendet.

Denn Exerzitien sind Übungen der Achtsamkeit. Wer aufmerksam verweilt, weder kontrolliert noch urteilt, der kann Augenblicke erleben, in denen sich das Leben größer anfühlt, sagen Kirchen­lehrer. In denen sich eine Dimension eröffnet, die sich nicht ermessen lässt. "Kontemplation" nennen sie es – von göttlichen Mächten erfasst werden.

Pure Präsenz, wortlose Wachsamkeit, lebendige Stille: Kontemplation widersetzt sich allen Beschreibungen. Vielleicht sind Meister kontemplativer Übungen daher so zurückhaltend, wenn sie über ihre Erlebnisse berichten. Und sagen, man müsse es selbst erleben.

Wir sitzen in einem großen Kreis, jeder auf einem rechteckigen Teppich. In der Mitte eine leere Schale. Manche hocken auf kleinen Schemeln, die Füße unter der Sitzfläche. Andere haben sich mit gekreuzten Beinen auf Kissen niedergelassen oder auf einem Stuhl. Den Rücken gerade, die Augen geschlossen, die Hände in bequemer Haltung auf den Schenkeln, so lautet die Meditationsanweisung.

Nun sollen also die Leidenschaften verblassen, soll der Geist verstummen.

Doch das Gegenteil tritt ein: Lawinen von Gedanken brechen sich Bahn, stürmen los wie Wildpferde. Wir könnten uns das innere Geplapper wie jenen Gürtel aus Geröll vorstellen, der die Planeten um gibt, hat der Kapuziner erklärt. Wir müssen ihn durchdringen, denn erst dahinter warten neue, stillere Dimensionen unseres Bewusstseins.

Den gesamten Text lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Was gibt dem Leben Sinn?".

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GEO WISSEN Nr. 53 - 05/14 - Was gibt dem Leben Sinn?

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